Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Kleine Goethiana.

Junge lebte noch 1820 in Leipzig als 84jähriger Greis in kümmerlichen Ver¬
hältnissen; er hatte seine Stelle einem Adjunkten überlassen müssen und bezog
von diesem nur eine kleine Pension.


I. stelln und das Veilchen.

In Hirzels "Verzeichnis einer Goethebibliothek" wird unter dem Jahre
1780 ein Liederheft aufgeführt: Sammlung verschiedener Lieder von guten
Dichtern und Tonkünstlern. Nürnberg bey Johann Michael Schmidt. Kupfer¬
stecher. M 1780. Hirzel hat diese Liedersammlung in sein Verzeichnis auf¬
genommen, weil sich im zweiten Heste derselben -- im ganzen sind es drei --
eine Komposition des Goethischen "Veilchens" findet, die nicht nur Verände¬
rungen des Goethischen Textes zeigt, sondern auch die Unterschrift "Gleim"
trägt. Als Komponist des Liedes ist genannt I. A. Se---n.

Weder in der Verwechslung der beiden Dichter noch in den Textab¬
weichungen , die übrigens zum Teil der Komposition zuliebe gemacht sein
mögen, liegt etwas auffälliges zu einer Zeit, wo die Himburgische Sammlung
noch nicht erschienen war, wo die Jugendlieder Goethes nur zerstreut gedruckt
waren und sicherlich vielfach abschriftlich oder gar nur mündlich verbreitet wurden.
Im vorliegenden Falle läßt sich nachweisen, woher der Irrtum stammt.

Die erwähnte Liedersammlung ist, wie der Herausgeber im Vorworte sagt,
teils aus Musenalmanachen, teils aus andern Quellen zusammengestellt. Beim
"Veilchen" ist man versucht, zunächst sich in den Musenalmanachen umzusehen,
zu denen ja nicht selten auch von Dilettanten, die anonym zu bleiben wünschten,
musikalische Beiträge geliefert wurden. Die Komposition stammt aber aus
andrer Quelle; sie ist entnommen der Sammlung deutscher Lieder für das
Klavier von Herrn Joseph Anton Steffan, k. k. Hofklaviermeister. Wien, bei
Joseph Edlen von Kurzböck, 1778--1781. Diese Sammlung, die aus vier
Abteilungen besteht, enthält in der ersten, 1778 erschienenen Abteilung unter
Nummer 14: Das Veilchen auf der Wiese. Von Gleim. Die Komposition
ist mit allen Textabweichungen genau dieselbe wie in der Sammlung Schmidts.
Sie würde also in dem Hirzelschen Verzeichnis lieber unter 1778 aufzuführen
und dabei auf den Nachdruck von 1780 nur zu verweisen sein.

Die Liedersammlung Steffans zeigt nun, wie die Verwechslung zwischen
Goethe und Gleim entstanden ist. Die erste Sammlung der Steffanschen Lieder
wird nämlich durch ein "Veilchen" eröffnet, das allerdings von Gleim ist:
Das Veilchen im Hornung. In Korkes Ausgabe von Gleims Werken steht
es, sehr verändert, unter der zuerst 1794 erschienenen Liedersammlung "Das
Hüttchen" mit der Überschrift "An das Veilchen neben dem Hüttchen." Natürlich
muß es aber schon in den siebziger Jahren irgendwo einzeln gedruckt gewesen
sein. Auch in diesem Liede soll das Veilchen des Mädchens Brust schmücken,
auch dort heißt es das "arme" Veilchen, auch dort "stirbt" das Veilchen. Der


Kleine Goethiana.

Junge lebte noch 1820 in Leipzig als 84jähriger Greis in kümmerlichen Ver¬
hältnissen; er hatte seine Stelle einem Adjunkten überlassen müssen und bezog
von diesem nur eine kleine Pension.


I. stelln und das Veilchen.

In Hirzels „Verzeichnis einer Goethebibliothek" wird unter dem Jahre
1780 ein Liederheft aufgeführt: Sammlung verschiedener Lieder von guten
Dichtern und Tonkünstlern. Nürnberg bey Johann Michael Schmidt. Kupfer¬
stecher. M 1780. Hirzel hat diese Liedersammlung in sein Verzeichnis auf¬
genommen, weil sich im zweiten Heste derselben — im ganzen sind es drei —
eine Komposition des Goethischen „Veilchens" findet, die nicht nur Verände¬
rungen des Goethischen Textes zeigt, sondern auch die Unterschrift „Gleim"
trägt. Als Komponist des Liedes ist genannt I. A. Se---n.

Weder in der Verwechslung der beiden Dichter noch in den Textab¬
weichungen , die übrigens zum Teil der Komposition zuliebe gemacht sein
mögen, liegt etwas auffälliges zu einer Zeit, wo die Himburgische Sammlung
noch nicht erschienen war, wo die Jugendlieder Goethes nur zerstreut gedruckt
waren und sicherlich vielfach abschriftlich oder gar nur mündlich verbreitet wurden.
Im vorliegenden Falle läßt sich nachweisen, woher der Irrtum stammt.

Die erwähnte Liedersammlung ist, wie der Herausgeber im Vorworte sagt,
teils aus Musenalmanachen, teils aus andern Quellen zusammengestellt. Beim
„Veilchen" ist man versucht, zunächst sich in den Musenalmanachen umzusehen,
zu denen ja nicht selten auch von Dilettanten, die anonym zu bleiben wünschten,
musikalische Beiträge geliefert wurden. Die Komposition stammt aber aus
andrer Quelle; sie ist entnommen der Sammlung deutscher Lieder für das
Klavier von Herrn Joseph Anton Steffan, k. k. Hofklaviermeister. Wien, bei
Joseph Edlen von Kurzböck, 1778—1781. Diese Sammlung, die aus vier
Abteilungen besteht, enthält in der ersten, 1778 erschienenen Abteilung unter
Nummer 14: Das Veilchen auf der Wiese. Von Gleim. Die Komposition
ist mit allen Textabweichungen genau dieselbe wie in der Sammlung Schmidts.
Sie würde also in dem Hirzelschen Verzeichnis lieber unter 1778 aufzuführen
und dabei auf den Nachdruck von 1780 nur zu verweisen sein.

Die Liedersammlung Steffans zeigt nun, wie die Verwechslung zwischen
Goethe und Gleim entstanden ist. Die erste Sammlung der Steffanschen Lieder
wird nämlich durch ein „Veilchen" eröffnet, das allerdings von Gleim ist:
Das Veilchen im Hornung. In Korkes Ausgabe von Gleims Werken steht
es, sehr verändert, unter der zuerst 1794 erschienenen Liedersammlung „Das
Hüttchen" mit der Überschrift „An das Veilchen neben dem Hüttchen." Natürlich
muß es aber schon in den siebziger Jahren irgendwo einzeln gedruckt gewesen
sein. Auch in diesem Liede soll das Veilchen des Mädchens Brust schmücken,
auch dort heißt es das „arme" Veilchen, auch dort „stirbt" das Veilchen. Der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0470" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/156741"/>
            <fw type="header" place="top"> Kleine Goethiana.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2070" prev="#ID_2069"> Junge lebte noch 1820 in Leipzig als 84jähriger Greis in kümmerlichen Ver¬<lb/>
hältnissen; er hatte seine Stelle einem Adjunkten überlassen müssen und bezog<lb/>
von diesem nur eine kleine Pension.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> I. stelln und das Veilchen.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_2071"> In Hirzels &#x201E;Verzeichnis einer Goethebibliothek" wird unter dem Jahre<lb/>
1780 ein Liederheft aufgeführt: Sammlung verschiedener Lieder von guten<lb/>
Dichtern und Tonkünstlern. Nürnberg bey Johann Michael Schmidt. Kupfer¬<lb/>
stecher. M 1780. Hirzel hat diese Liedersammlung in sein Verzeichnis auf¬<lb/>
genommen, weil sich im zweiten Heste derselben &#x2014; im ganzen sind es drei &#x2014;<lb/>
eine Komposition des Goethischen &#x201E;Veilchens" findet, die nicht nur Verände¬<lb/>
rungen des Goethischen Textes zeigt, sondern auch die Unterschrift &#x201E;Gleim"<lb/>
trägt.  Als Komponist des Liedes ist genannt I. A. Se---n.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2072"> Weder in der Verwechslung der beiden Dichter noch in den Textab¬<lb/>
weichungen , die übrigens zum Teil der Komposition zuliebe gemacht sein<lb/>
mögen, liegt etwas auffälliges zu einer Zeit, wo die Himburgische Sammlung<lb/>
noch nicht erschienen war, wo die Jugendlieder Goethes nur zerstreut gedruckt<lb/>
waren und sicherlich vielfach abschriftlich oder gar nur mündlich verbreitet wurden.<lb/>
Im vorliegenden Falle läßt sich nachweisen, woher der Irrtum stammt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2073"> Die erwähnte Liedersammlung ist, wie der Herausgeber im Vorworte sagt,<lb/>
teils aus Musenalmanachen, teils aus andern Quellen zusammengestellt. Beim<lb/>
&#x201E;Veilchen" ist man versucht, zunächst sich in den Musenalmanachen umzusehen,<lb/>
zu denen ja nicht selten auch von Dilettanten, die anonym zu bleiben wünschten,<lb/>
musikalische Beiträge geliefert wurden. Die Komposition stammt aber aus<lb/>
andrer Quelle; sie ist entnommen der Sammlung deutscher Lieder für das<lb/>
Klavier von Herrn Joseph Anton Steffan, k. k. Hofklaviermeister. Wien, bei<lb/>
Joseph Edlen von Kurzböck, 1778&#x2014;1781. Diese Sammlung, die aus vier<lb/>
Abteilungen besteht, enthält in der ersten, 1778 erschienenen Abteilung unter<lb/>
Nummer 14: Das Veilchen auf der Wiese. Von Gleim. Die Komposition<lb/>
ist mit allen Textabweichungen genau dieselbe wie in der Sammlung Schmidts.<lb/>
Sie würde also in dem Hirzelschen Verzeichnis lieber unter 1778 aufzuführen<lb/>
und dabei auf den Nachdruck von 1780 nur zu verweisen sein.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2074" next="#ID_2075"> Die Liedersammlung Steffans zeigt nun, wie die Verwechslung zwischen<lb/>
Goethe und Gleim entstanden ist. Die erste Sammlung der Steffanschen Lieder<lb/>
wird nämlich durch ein &#x201E;Veilchen" eröffnet, das allerdings von Gleim ist:<lb/>
Das Veilchen im Hornung. In Korkes Ausgabe von Gleims Werken steht<lb/>
es, sehr verändert, unter der zuerst 1794 erschienenen Liedersammlung &#x201E;Das<lb/>
Hüttchen" mit der Überschrift &#x201E;An das Veilchen neben dem Hüttchen." Natürlich<lb/>
muß es aber schon in den siebziger Jahren irgendwo einzeln gedruckt gewesen<lb/>
sein. Auch in diesem Liede soll das Veilchen des Mädchens Brust schmücken,<lb/>
auch dort heißt es das &#x201E;arme" Veilchen, auch dort &#x201E;stirbt" das Veilchen. Der</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0470] Kleine Goethiana. Junge lebte noch 1820 in Leipzig als 84jähriger Greis in kümmerlichen Ver¬ hältnissen; er hatte seine Stelle einem Adjunkten überlassen müssen und bezog von diesem nur eine kleine Pension. I. stelln und das Veilchen. In Hirzels „Verzeichnis einer Goethebibliothek" wird unter dem Jahre 1780 ein Liederheft aufgeführt: Sammlung verschiedener Lieder von guten Dichtern und Tonkünstlern. Nürnberg bey Johann Michael Schmidt. Kupfer¬ stecher. M 1780. Hirzel hat diese Liedersammlung in sein Verzeichnis auf¬ genommen, weil sich im zweiten Heste derselben — im ganzen sind es drei — eine Komposition des Goethischen „Veilchens" findet, die nicht nur Verände¬ rungen des Goethischen Textes zeigt, sondern auch die Unterschrift „Gleim" trägt. Als Komponist des Liedes ist genannt I. A. Se---n. Weder in der Verwechslung der beiden Dichter noch in den Textab¬ weichungen , die übrigens zum Teil der Komposition zuliebe gemacht sein mögen, liegt etwas auffälliges zu einer Zeit, wo die Himburgische Sammlung noch nicht erschienen war, wo die Jugendlieder Goethes nur zerstreut gedruckt waren und sicherlich vielfach abschriftlich oder gar nur mündlich verbreitet wurden. Im vorliegenden Falle läßt sich nachweisen, woher der Irrtum stammt. Die erwähnte Liedersammlung ist, wie der Herausgeber im Vorworte sagt, teils aus Musenalmanachen, teils aus andern Quellen zusammengestellt. Beim „Veilchen" ist man versucht, zunächst sich in den Musenalmanachen umzusehen, zu denen ja nicht selten auch von Dilettanten, die anonym zu bleiben wünschten, musikalische Beiträge geliefert wurden. Die Komposition stammt aber aus andrer Quelle; sie ist entnommen der Sammlung deutscher Lieder für das Klavier von Herrn Joseph Anton Steffan, k. k. Hofklaviermeister. Wien, bei Joseph Edlen von Kurzböck, 1778—1781. Diese Sammlung, die aus vier Abteilungen besteht, enthält in der ersten, 1778 erschienenen Abteilung unter Nummer 14: Das Veilchen auf der Wiese. Von Gleim. Die Komposition ist mit allen Textabweichungen genau dieselbe wie in der Sammlung Schmidts. Sie würde also in dem Hirzelschen Verzeichnis lieber unter 1778 aufzuführen und dabei auf den Nachdruck von 1780 nur zu verweisen sein. Die Liedersammlung Steffans zeigt nun, wie die Verwechslung zwischen Goethe und Gleim entstanden ist. Die erste Sammlung der Steffanschen Lieder wird nämlich durch ein „Veilchen" eröffnet, das allerdings von Gleim ist: Das Veilchen im Hornung. In Korkes Ausgabe von Gleims Werken steht es, sehr verändert, unter der zuerst 1794 erschienenen Liedersammlung „Das Hüttchen" mit der Überschrift „An das Veilchen neben dem Hüttchen." Natürlich muß es aber schon in den siebziger Jahren irgendwo einzeln gedruckt gewesen sein. Auch in diesem Liede soll das Veilchen des Mädchens Brust schmücken, auch dort heißt es das „arme" Veilchen, auch dort „stirbt" das Veilchen. Der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/470
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/470>, abgerufen am 27.06.2024.