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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Musikalische Genüsse,

Strebungen und Strömungen ist der größte Teil des Publikums dieser ihm mit
ungeheuern Opfern und Kosten aufgenötigten Richtung innerlich entschieden
fremd geblieben, und wie tief diese Anschauung selbst in obere Schichten der
Bevölkerung hineinreicht, wird man erkennen, wenn einmal ein andrer Wind
aus den höchsten Kreisen wehen wird. Der Unterschied zwischen dem süd- und
norddeutschen Musikbedürfnis scheint mir lediglich darin zu bestehen, daß man im
Süden von der Tonkunst in erster Linie eine Wirkung auf das Gemüt erwartet,
während man sich im Norden damit begnügt, daß der Geist dadurch beschäftigt
und angeregt werde. Nur dadurch wird die belästigende Überfülle des Gebotenen
bei den Festen des "Allgemeinen" Musikvereins erklärlich, und die Möglichkeit,
für neun bis zwölf auf wenige Tage sich verteilende Aufführungen noch Zuhörer
zu finden. Andrerseits macht dies auch einigermaßen die Wahl der Tonstücke
erklärlich; diesen wüsten, geschraubten, überladenen, unfertigen und ungeklärten
Werke, wie man sie in Weimar sich gefallen lassen mußte, würde mau sich in München
nie gefallen lassen. Es ist ja nicht uninteressant, die Kunst auch auf ihren
Abwegen zu verfolgen und solchen traurigen Experimenten beizuwohnen, wie
es auch interessant sein mag, einer Sektion oder einer Vivisektion zuzusehen.
Aber es ist das nicht jedermanns Sache. In Süddeutschland wäre es ganz
unmöglich, eine unmittelbare Folge von Konzerten solchen Inhaltes wie diese
Weimarer zu geben. Um dergleichen hinzunehmen, fehlt hier dem Publikum
vollständig die Ruhe und das Sitzefleisch, der Kritik das Geschick und der Mut,
etwas zu loben, was niemandem gefällt. Zwar die Kritik ist überall beeinflußt und
aus taufenden von Gründen immer bereit, die allgemeine Meinung zu falschen.
Ich glaube aber, daß sie bei uns nach Anhörung solcher Hervorbringungen moralisch
gezwungen wäre, mit der Wahrheit herauszurücken. Der Süddeutsche, leicht
entflammt und begeistert, ist auch leicht zum Zorne gereizt, und merkt er, daß
man ihm ein X für ein U machen will, so braucht er seine Fäuste.

Trotz der in Weimar gemachten wenig erfreulichen Erfahrungen gewann
übrigens der Versucher doch noch einmal Macht über mich. Wer sich mut¬
willig in Gefahr begiebt, kommt darin um. Ich hätte doch nun ge¬
witzigt sein und an meinen Musikschwelgereien genug haben können; aber
als ich auf der Heimfahrt in Altenburg nochmals aufstieg, verkündigten
große Anschlagzettel, daß Bilse mit seiner Kapelle da sei und am Abend
im Schützcnhaussaale konzertiren würde. Vorsichtig hatte man auf den Zet¬
teln nur die Besetzung des Orchesters, aber nicht das Programm mitgeteilt.
Die erstere Angabe hatte den Zweck, Lärm zu machen und zu blende", die Mit¬
teilung des letztern würde das Publikum wohl stutzig gemacht haben. Ich
erinnere mich sehr wohl noch der Zeit, da Bilse von höhere" Kunstideen ge¬
leitet schien und den Besuchern seiner Konzerte wirkliche Kunstgenüsse bot.
Ouvertüren und Symphonien klassischer Tonmeister in vollendeter Ausführung
zogen alle Freunde der Musik in seine Konzerte. Jetzt, wo er ganz verwagnert


Musikalische Genüsse,

Strebungen und Strömungen ist der größte Teil des Publikums dieser ihm mit
ungeheuern Opfern und Kosten aufgenötigten Richtung innerlich entschieden
fremd geblieben, und wie tief diese Anschauung selbst in obere Schichten der
Bevölkerung hineinreicht, wird man erkennen, wenn einmal ein andrer Wind
aus den höchsten Kreisen wehen wird. Der Unterschied zwischen dem süd- und
norddeutschen Musikbedürfnis scheint mir lediglich darin zu bestehen, daß man im
Süden von der Tonkunst in erster Linie eine Wirkung auf das Gemüt erwartet,
während man sich im Norden damit begnügt, daß der Geist dadurch beschäftigt
und angeregt werde. Nur dadurch wird die belästigende Überfülle des Gebotenen
bei den Festen des „Allgemeinen" Musikvereins erklärlich, und die Möglichkeit,
für neun bis zwölf auf wenige Tage sich verteilende Aufführungen noch Zuhörer
zu finden. Andrerseits macht dies auch einigermaßen die Wahl der Tonstücke
erklärlich; diesen wüsten, geschraubten, überladenen, unfertigen und ungeklärten
Werke, wie man sie in Weimar sich gefallen lassen mußte, würde mau sich in München
nie gefallen lassen. Es ist ja nicht uninteressant, die Kunst auch auf ihren
Abwegen zu verfolgen und solchen traurigen Experimenten beizuwohnen, wie
es auch interessant sein mag, einer Sektion oder einer Vivisektion zuzusehen.
Aber es ist das nicht jedermanns Sache. In Süddeutschland wäre es ganz
unmöglich, eine unmittelbare Folge von Konzerten solchen Inhaltes wie diese
Weimarer zu geben. Um dergleichen hinzunehmen, fehlt hier dem Publikum
vollständig die Ruhe und das Sitzefleisch, der Kritik das Geschick und der Mut,
etwas zu loben, was niemandem gefällt. Zwar die Kritik ist überall beeinflußt und
aus taufenden von Gründen immer bereit, die allgemeine Meinung zu falschen.
Ich glaube aber, daß sie bei uns nach Anhörung solcher Hervorbringungen moralisch
gezwungen wäre, mit der Wahrheit herauszurücken. Der Süddeutsche, leicht
entflammt und begeistert, ist auch leicht zum Zorne gereizt, und merkt er, daß
man ihm ein X für ein U machen will, so braucht er seine Fäuste.

Trotz der in Weimar gemachten wenig erfreulichen Erfahrungen gewann
übrigens der Versucher doch noch einmal Macht über mich. Wer sich mut¬
willig in Gefahr begiebt, kommt darin um. Ich hätte doch nun ge¬
witzigt sein und an meinen Musikschwelgereien genug haben können; aber
als ich auf der Heimfahrt in Altenburg nochmals aufstieg, verkündigten
große Anschlagzettel, daß Bilse mit seiner Kapelle da sei und am Abend
im Schützcnhaussaale konzertiren würde. Vorsichtig hatte man auf den Zet¬
teln nur die Besetzung des Orchesters, aber nicht das Programm mitgeteilt.
Die erstere Angabe hatte den Zweck, Lärm zu machen und zu blende», die Mit¬
teilung des letztern würde das Publikum wohl stutzig gemacht haben. Ich
erinnere mich sehr wohl noch der Zeit, da Bilse von höhere» Kunstideen ge¬
leitet schien und den Besuchern seiner Konzerte wirkliche Kunstgenüsse bot.
Ouvertüren und Symphonien klassischer Tonmeister in vollendeter Ausführung
zogen alle Freunde der Musik in seine Konzerte. Jetzt, wo er ganz verwagnert


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/47>, abgerufen am 23.06.2024.