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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Leonis vom Theater.

denken wachzurufen. Jedenfalls aber wird man uns darin Recht geben müssen,
wenn wir in dieser neueren Literatur etwas Richtunggebendes, eine bessere
Periode Verheißendes durchaus vermissen -- man müßte denn eben jene oben¬
erwähnte Richtung auf das französische Sittendrama hin in diesem Sinne
auffassen.

Nun haben wir aber noch eine Spezialität, und gerade dieser gilt der lauteste
Jubel, das lebhafteste Interesse unsers sit ven-z, vsrvo Thcaterpublikums: das
ist die "Posse." Gott bewahre uns zwar davor, daß wir es je verlernen sollten,
einen derben Witz zu vertragen! daß wir den Sinn für gesunden und volks¬
tümlichen, wenn auch nicht immer sehr salonfähigen Humor verlieren sollten!
daß wir kein Verständnis mehr haben sollten für die Ausbildung neuer,
wenn auch einstweilen noch roher Formen eines unsern Zeitanschauungen und
unsern Volkssitten entsprechenden dramatischen Lebens! Aber, so unbefangen
wir der Frage gegenüberstehen mögen, ob die "Berliner Posse" nach ihrem
geistigen und sittlichen Gehalte von diesem Standpunkte aus betrachtet werden
kann, so scheint uns doch darüber ein Zweifel nicht möglich, daß eine Entwicklung,
ein Werden und Wachsen auf diesem Gebiete schlechterdings nicht stattfindet.
Die Hochflut der alten Berliner Possen, die wenigstens etwas Naturwüchsiges
an sich trugen, hat sich verlaufen; Jacobson, Willen, l'Arronge haben jetzt so
ziemlich das ganze Feld okkupirt, und weder ist bei ihnen ein Fortschritt wahr¬
zunehmen (ihre besten Freunde werden das nicht behaupten wollen!), noch ist
ein Nachwuchs aufgetreten. Nein, die "Kunstgattung" der Posse schleppt sich
eben hin, weil das Publikum "diesen Geist begreift" und solcher Kunstwerke
würdig ist, nicht weil irgendein Drang von innen heraus die Produktion von
Stücken einer bestimmten Art mit einem instinktiven Volksbedürfnis in Ver¬
bindung brächte. Das Publikum ist gewöhnt worden, sich seine stumpfen
Nerven mit Possen kitzeln zu lassen; gut, schreiben wir ihm Possen, und zwar
recht stark gepfefferte, damit doch auch eine "Steigerung des Interesses" statt¬
finde! Worin diese "Steigerung" zu bestehen pflegt, nun, das ist nicht schwer
zu erraten. Soweit wie die Franzosen mit ihrer Livre a>ux dois haben wir's
zwar noch nicht gebracht, aber doch weit genug. In dem vielbesprochenen
"Jüngsten Leutnant" z. B. vermögen wir eine andre Idee nicht zu erblicken,
als daß, nachdem Jahrtausende der Kulturentwicklung daran gearbeitet haben,
eine Schranke zwischen den Geschlechtern aufzurichten, jetzt den heranwachsenden
jungen Leuten die Art gelehrt werden soll, wie man sich in recht schamloser
Weise dem andern Geschlecht an den Kopf wirst. Das sind die Reizmittel, mit
deren fortwährender Steigerung man sich abmüht, und letzteres ist der leitende
Gedanke für die ganze Possenfabrikation und Possenanfführung.

Hiernach glauben wir, soweit dies im Nahmen einiger kurzen Andeutungen
möglich ist, unsre geringe Wertschätzung des heutigen Theaters hinlänglich mo-
tivirt zu haben. Aber vielleicht findet die so ungleich größere Wertschätzung,


Leonis vom Theater.

denken wachzurufen. Jedenfalls aber wird man uns darin Recht geben müssen,
wenn wir in dieser neueren Literatur etwas Richtunggebendes, eine bessere
Periode Verheißendes durchaus vermissen — man müßte denn eben jene oben¬
erwähnte Richtung auf das französische Sittendrama hin in diesem Sinne
auffassen.

Nun haben wir aber noch eine Spezialität, und gerade dieser gilt der lauteste
Jubel, das lebhafteste Interesse unsers sit ven-z, vsrvo Thcaterpublikums: das
ist die „Posse." Gott bewahre uns zwar davor, daß wir es je verlernen sollten,
einen derben Witz zu vertragen! daß wir den Sinn für gesunden und volks¬
tümlichen, wenn auch nicht immer sehr salonfähigen Humor verlieren sollten!
daß wir kein Verständnis mehr haben sollten für die Ausbildung neuer,
wenn auch einstweilen noch roher Formen eines unsern Zeitanschauungen und
unsern Volkssitten entsprechenden dramatischen Lebens! Aber, so unbefangen
wir der Frage gegenüberstehen mögen, ob die „Berliner Posse" nach ihrem
geistigen und sittlichen Gehalte von diesem Standpunkte aus betrachtet werden
kann, so scheint uns doch darüber ein Zweifel nicht möglich, daß eine Entwicklung,
ein Werden und Wachsen auf diesem Gebiete schlechterdings nicht stattfindet.
Die Hochflut der alten Berliner Possen, die wenigstens etwas Naturwüchsiges
an sich trugen, hat sich verlaufen; Jacobson, Willen, l'Arronge haben jetzt so
ziemlich das ganze Feld okkupirt, und weder ist bei ihnen ein Fortschritt wahr¬
zunehmen (ihre besten Freunde werden das nicht behaupten wollen!), noch ist
ein Nachwuchs aufgetreten. Nein, die „Kunstgattung" der Posse schleppt sich
eben hin, weil das Publikum „diesen Geist begreift" und solcher Kunstwerke
würdig ist, nicht weil irgendein Drang von innen heraus die Produktion von
Stücken einer bestimmten Art mit einem instinktiven Volksbedürfnis in Ver¬
bindung brächte. Das Publikum ist gewöhnt worden, sich seine stumpfen
Nerven mit Possen kitzeln zu lassen; gut, schreiben wir ihm Possen, und zwar
recht stark gepfefferte, damit doch auch eine „Steigerung des Interesses" statt¬
finde! Worin diese „Steigerung" zu bestehen pflegt, nun, das ist nicht schwer
zu erraten. Soweit wie die Franzosen mit ihrer Livre a>ux dois haben wir's
zwar noch nicht gebracht, aber doch weit genug. In dem vielbesprochenen
«Jüngsten Leutnant" z. B. vermögen wir eine andre Idee nicht zu erblicken,
als daß, nachdem Jahrtausende der Kulturentwicklung daran gearbeitet haben,
eine Schranke zwischen den Geschlechtern aufzurichten, jetzt den heranwachsenden
jungen Leuten die Art gelehrt werden soll, wie man sich in recht schamloser
Weise dem andern Geschlecht an den Kopf wirst. Das sind die Reizmittel, mit
deren fortwährender Steigerung man sich abmüht, und letzteres ist der leitende
Gedanke für die ganze Possenfabrikation und Possenanfführung.

Hiernach glauben wir, soweit dies im Nahmen einiger kurzen Andeutungen
möglich ist, unsre geringe Wertschätzung des heutigen Theaters hinlänglich mo-
tivirt zu haben. Aber vielleicht findet die so ungleich größere Wertschätzung,


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[0431] Leonis vom Theater. denken wachzurufen. Jedenfalls aber wird man uns darin Recht geben müssen, wenn wir in dieser neueren Literatur etwas Richtunggebendes, eine bessere Periode Verheißendes durchaus vermissen — man müßte denn eben jene oben¬ erwähnte Richtung auf das französische Sittendrama hin in diesem Sinne auffassen. Nun haben wir aber noch eine Spezialität, und gerade dieser gilt der lauteste Jubel, das lebhafteste Interesse unsers sit ven-z, vsrvo Thcaterpublikums: das ist die „Posse." Gott bewahre uns zwar davor, daß wir es je verlernen sollten, einen derben Witz zu vertragen! daß wir den Sinn für gesunden und volks¬ tümlichen, wenn auch nicht immer sehr salonfähigen Humor verlieren sollten! daß wir kein Verständnis mehr haben sollten für die Ausbildung neuer, wenn auch einstweilen noch roher Formen eines unsern Zeitanschauungen und unsern Volkssitten entsprechenden dramatischen Lebens! Aber, so unbefangen wir der Frage gegenüberstehen mögen, ob die „Berliner Posse" nach ihrem geistigen und sittlichen Gehalte von diesem Standpunkte aus betrachtet werden kann, so scheint uns doch darüber ein Zweifel nicht möglich, daß eine Entwicklung, ein Werden und Wachsen auf diesem Gebiete schlechterdings nicht stattfindet. Die Hochflut der alten Berliner Possen, die wenigstens etwas Naturwüchsiges an sich trugen, hat sich verlaufen; Jacobson, Willen, l'Arronge haben jetzt so ziemlich das ganze Feld okkupirt, und weder ist bei ihnen ein Fortschritt wahr¬ zunehmen (ihre besten Freunde werden das nicht behaupten wollen!), noch ist ein Nachwuchs aufgetreten. Nein, die „Kunstgattung" der Posse schleppt sich eben hin, weil das Publikum „diesen Geist begreift" und solcher Kunstwerke würdig ist, nicht weil irgendein Drang von innen heraus die Produktion von Stücken einer bestimmten Art mit einem instinktiven Volksbedürfnis in Ver¬ bindung brächte. Das Publikum ist gewöhnt worden, sich seine stumpfen Nerven mit Possen kitzeln zu lassen; gut, schreiben wir ihm Possen, und zwar recht stark gepfefferte, damit doch auch eine „Steigerung des Interesses" statt¬ finde! Worin diese „Steigerung" zu bestehen pflegt, nun, das ist nicht schwer zu erraten. Soweit wie die Franzosen mit ihrer Livre a>ux dois haben wir's zwar noch nicht gebracht, aber doch weit genug. In dem vielbesprochenen «Jüngsten Leutnant" z. B. vermögen wir eine andre Idee nicht zu erblicken, als daß, nachdem Jahrtausende der Kulturentwicklung daran gearbeitet haben, eine Schranke zwischen den Geschlechtern aufzurichten, jetzt den heranwachsenden jungen Leuten die Art gelehrt werden soll, wie man sich in recht schamloser Weise dem andern Geschlecht an den Kopf wirst. Das sind die Reizmittel, mit deren fortwährender Steigerung man sich abmüht, und letzteres ist der leitende Gedanke für die ganze Possenfabrikation und Possenanfführung. Hiernach glauben wir, soweit dies im Nahmen einiger kurzen Andeutungen möglich ist, unsre geringe Wertschätzung des heutigen Theaters hinlänglich mo- tivirt zu haben. Aber vielleicht findet die so ungleich größere Wertschätzung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/431>, abgerufen am 22.06.2024.