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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die deutsche Diaspora im Gsten Europas.

legenden zur Erwerbung von Land und zur Einrichtung einer und der andern
deutschen Kolonie, so dürfte man sich vielleicht immer noch fragen, ob wir
damit nicht für die Engländer arbeiten würden, denen wir es in Flottensachen
niemals gleichthun werden, und denen wir zu Lande nicht beikommen können
wie den uns zur See gleichfalls überlegenen Franzosen. Sprechen wir heute
von deutschen Kolonien, so meinen wir Ansiedlungen unsrer Landsleute außer¬
halb der Machtsphäre Deutschlands und Deutsch-Österreichs, die unsrer Sprache
und Sitte treugeblieben sind und die wir deshalb, obgleich kein politisches Band
sie mit uns verknüpft, in gewissem Maße als noch zu unsrer Nation gehörig
betrachten dürfen. Diese Diaspora erstreckt sich in Gestalt größerer und kleinerer
deutscher Sprachinseln über die gesamte Erde, und dazu kommen zahlreiche
Deutsche, die in fremden Landen vereinzelt leben.

Sehen wir uns nach den Deutschen um, die in Europa außerhalb des
Reiches, der Habsburgischen Monarchie und der Schweiz angesiedelt sind, so
finden wir, daß die Mehrzahl derselben im Osten des Weltteils wohnen. In
Schweden und Norwegen leben davon nur einige Tausende, in Dänemark waren
bei der Zählung von 1880 nicht weniger als 33334 ansässig, in England kann
man ihre Zahl auf eine Viertelmillion anschlagen, von denen mindestens 150000
auf London, 20000 auf Manchester und 10000 auf Liverpool zu rechnen sind.
In Frankreich hatten sich bis zum Kriege von 1870, abgesehen von den El-
sässern, mehrere Hunderttausende unsrer Landsleute niedergelassen, darunter mehr
als 80 000 in Paris. Dieselben spielten fast in allen Geschäftszweigen eine
nicht unwichtige Rolle, und namentlich war die Champagnerfabrikation vorzugs¬
weise in ihren Händen -- ungefähr wie in der Havanna die der Zigarren.
Nach der Zühlung von 1872 aber waren hier nur noch 104169 Deutsche an¬
sässig, und darunter befanden sich nicht wenige Juden, die als Kommis und
Zeitungskorrespondenten ihr Brot suchten und die der Reichskanzler wohl haupt¬
sächlich im Auge hatte, als er unterm 2. Februar 1373 an den Grafen Armin
schrieb: "Wenn ich es auch bei jeder Gelegenheit als eine Pflicht der Regie¬
rung Seiner Majestät des Kaisers betrachte, deren Erfüllung ich mich niemals
entziehe, den nachbarlichen Volksinteressen unsrer Landsleute vollen Schutz zu
gewähren, so kann ich doch mit dem "Pariser deutschen Ursprungs," der nur
soweit deutsch bleibt, als er Schutz und Unterstützung beansprucht, nicht sym-
pathisiren." In Rom sammeln die Kunst, die Kirche und die Archäologie viele
Deutsche zu dauerndem Aufenthalt in den Mauern der Stadt, in andern großen
Städten Italiens sind deutsche Gastwirte und Kellner nicht selten, und im Norden
befinden sich einige aus dem Mittelalter stammende deutsche Sprachinseln, die
Lötts Lonnuuni bei Vieenza, die benachbarten Irsclsoi "üommuni und die Enclaven
am.Monte Rosa und in Friaul, die aber sämtlich stark in der Verwälschung
begriffen sind und sprachlich sowie der Sitte nach bald nicht mehr zu uns ge¬
hören werden. 1871 belief sich die Gesamtzahl der im deutschen Reiche ge-


Die deutsche Diaspora im Gsten Europas.

legenden zur Erwerbung von Land und zur Einrichtung einer und der andern
deutschen Kolonie, so dürfte man sich vielleicht immer noch fragen, ob wir
damit nicht für die Engländer arbeiten würden, denen wir es in Flottensachen
niemals gleichthun werden, und denen wir zu Lande nicht beikommen können
wie den uns zur See gleichfalls überlegenen Franzosen. Sprechen wir heute
von deutschen Kolonien, so meinen wir Ansiedlungen unsrer Landsleute außer¬
halb der Machtsphäre Deutschlands und Deutsch-Österreichs, die unsrer Sprache
und Sitte treugeblieben sind und die wir deshalb, obgleich kein politisches Band
sie mit uns verknüpft, in gewissem Maße als noch zu unsrer Nation gehörig
betrachten dürfen. Diese Diaspora erstreckt sich in Gestalt größerer und kleinerer
deutscher Sprachinseln über die gesamte Erde, und dazu kommen zahlreiche
Deutsche, die in fremden Landen vereinzelt leben.

Sehen wir uns nach den Deutschen um, die in Europa außerhalb des
Reiches, der Habsburgischen Monarchie und der Schweiz angesiedelt sind, so
finden wir, daß die Mehrzahl derselben im Osten des Weltteils wohnen. In
Schweden und Norwegen leben davon nur einige Tausende, in Dänemark waren
bei der Zählung von 1880 nicht weniger als 33334 ansässig, in England kann
man ihre Zahl auf eine Viertelmillion anschlagen, von denen mindestens 150000
auf London, 20000 auf Manchester und 10000 auf Liverpool zu rechnen sind.
In Frankreich hatten sich bis zum Kriege von 1870, abgesehen von den El-
sässern, mehrere Hunderttausende unsrer Landsleute niedergelassen, darunter mehr
als 80 000 in Paris. Dieselben spielten fast in allen Geschäftszweigen eine
nicht unwichtige Rolle, und namentlich war die Champagnerfabrikation vorzugs¬
weise in ihren Händen — ungefähr wie in der Havanna die der Zigarren.
Nach der Zühlung von 1872 aber waren hier nur noch 104169 Deutsche an¬
sässig, und darunter befanden sich nicht wenige Juden, die als Kommis und
Zeitungskorrespondenten ihr Brot suchten und die der Reichskanzler wohl haupt¬
sächlich im Auge hatte, als er unterm 2. Februar 1373 an den Grafen Armin
schrieb: „Wenn ich es auch bei jeder Gelegenheit als eine Pflicht der Regie¬
rung Seiner Majestät des Kaisers betrachte, deren Erfüllung ich mich niemals
entziehe, den nachbarlichen Volksinteressen unsrer Landsleute vollen Schutz zu
gewähren, so kann ich doch mit dem »Pariser deutschen Ursprungs,« der nur
soweit deutsch bleibt, als er Schutz und Unterstützung beansprucht, nicht sym-
pathisiren." In Rom sammeln die Kunst, die Kirche und die Archäologie viele
Deutsche zu dauerndem Aufenthalt in den Mauern der Stadt, in andern großen
Städten Italiens sind deutsche Gastwirte und Kellner nicht selten, und im Norden
befinden sich einige aus dem Mittelalter stammende deutsche Sprachinseln, die
Lötts Lonnuuni bei Vieenza, die benachbarten Irsclsoi «üommuni und die Enclaven
am.Monte Rosa und in Friaul, die aber sämtlich stark in der Verwälschung
begriffen sind und sprachlich sowie der Sitte nach bald nicht mehr zu uns ge¬
hören werden. 1871 belief sich die Gesamtzahl der im deutschen Reiche ge-


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[0354] Die deutsche Diaspora im Gsten Europas. legenden zur Erwerbung von Land und zur Einrichtung einer und der andern deutschen Kolonie, so dürfte man sich vielleicht immer noch fragen, ob wir damit nicht für die Engländer arbeiten würden, denen wir es in Flottensachen niemals gleichthun werden, und denen wir zu Lande nicht beikommen können wie den uns zur See gleichfalls überlegenen Franzosen. Sprechen wir heute von deutschen Kolonien, so meinen wir Ansiedlungen unsrer Landsleute außer¬ halb der Machtsphäre Deutschlands und Deutsch-Österreichs, die unsrer Sprache und Sitte treugeblieben sind und die wir deshalb, obgleich kein politisches Band sie mit uns verknüpft, in gewissem Maße als noch zu unsrer Nation gehörig betrachten dürfen. Diese Diaspora erstreckt sich in Gestalt größerer und kleinerer deutscher Sprachinseln über die gesamte Erde, und dazu kommen zahlreiche Deutsche, die in fremden Landen vereinzelt leben. Sehen wir uns nach den Deutschen um, die in Europa außerhalb des Reiches, der Habsburgischen Monarchie und der Schweiz angesiedelt sind, so finden wir, daß die Mehrzahl derselben im Osten des Weltteils wohnen. In Schweden und Norwegen leben davon nur einige Tausende, in Dänemark waren bei der Zählung von 1880 nicht weniger als 33334 ansässig, in England kann man ihre Zahl auf eine Viertelmillion anschlagen, von denen mindestens 150000 auf London, 20000 auf Manchester und 10000 auf Liverpool zu rechnen sind. In Frankreich hatten sich bis zum Kriege von 1870, abgesehen von den El- sässern, mehrere Hunderttausende unsrer Landsleute niedergelassen, darunter mehr als 80 000 in Paris. Dieselben spielten fast in allen Geschäftszweigen eine nicht unwichtige Rolle, und namentlich war die Champagnerfabrikation vorzugs¬ weise in ihren Händen — ungefähr wie in der Havanna die der Zigarren. Nach der Zühlung von 1872 aber waren hier nur noch 104169 Deutsche an¬ sässig, und darunter befanden sich nicht wenige Juden, die als Kommis und Zeitungskorrespondenten ihr Brot suchten und die der Reichskanzler wohl haupt¬ sächlich im Auge hatte, als er unterm 2. Februar 1373 an den Grafen Armin schrieb: „Wenn ich es auch bei jeder Gelegenheit als eine Pflicht der Regie¬ rung Seiner Majestät des Kaisers betrachte, deren Erfüllung ich mich niemals entziehe, den nachbarlichen Volksinteressen unsrer Landsleute vollen Schutz zu gewähren, so kann ich doch mit dem »Pariser deutschen Ursprungs,« der nur soweit deutsch bleibt, als er Schutz und Unterstützung beansprucht, nicht sym- pathisiren." In Rom sammeln die Kunst, die Kirche und die Archäologie viele Deutsche zu dauerndem Aufenthalt in den Mauern der Stadt, in andern großen Städten Italiens sind deutsche Gastwirte und Kellner nicht selten, und im Norden befinden sich einige aus dem Mittelalter stammende deutsche Sprachinseln, die Lötts Lonnuuni bei Vieenza, die benachbarten Irsclsoi «üommuni und die Enclaven am.Monte Rosa und in Friaul, die aber sämtlich stark in der Verwälschung begriffen sind und sprachlich sowie der Sitte nach bald nicht mehr zu uns ge¬ hören werden. 1871 belief sich die Gesamtzahl der im deutschen Reiche ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/354>, abgerufen am 21.06.2024.