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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Zur Geschichte der christlichen Aebesthätigkeit.

me zusammenfassende Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit im
vollen Sinne des Wortes gab es bisher nicht. Für die alte
Kirche und das Mittelalter liegt dieselbe jetzt in den beiden am
Fuße dieser Seite angezeigten Büchern Uhlhorns vor/") Und
wir dürfen sagen, daß uns in ihnen eine wissenschaftliche Gabe
von hohem Werte dargeboten wird, eine Gabe, gleich ausgezeichnet durch die
Gründlichkeit der Forschung wie durch die Durchsichtigkeit einer überaus an¬
regenden Darstellung. Es ist nicht das erstemal, daß wir dem Verfasser auf
den Pfaden der kirchengeschichtlichen Forschung begegnen. Sein "Kampf des
Christentums mit dem Heidentum," um schon in dritter Auflage vorliegend,
konnte ihm als solider Unterbau für die Geschichte der Liebesthätigkeit in der
alten Kirche dienen. Für das Mittelalter hat er seine Vorstudien in mehreren
Aufsätzen der "Zeitschrift für Kirchengeschichte" niedergelegt. So ist er im Voll¬
besitze des wesentlichen Materials an seine Arbeit herangetreten, und wir dürfen
uns Glück wünschen, daß er sie bis zu diesem Ende führen konnte.

Das Bedürfnis nach einer Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit liegt
uns gerade heute besonders nahe. Bismarcks schönes Wort vom "praktischen
Christentum" scheint einer neuen Epoche unsrer innern Politik, ja unsers staat¬
lichen Lebens überhaupt die Signatur geben zu sollen. Die ersten Schritte auf
dem vorgezeichneten Wege sind gethan, die ersten grundlegenden Gesetze einem
widerwilligen Parlamente abgerungen. Doch was vor uns liegt, ist uns heute
noch verschlossen, noch wissen wir nicht, ob es gelingen wird, das große soziale
Problem, vor welches unsre Zeit gestellt ist, ans diesem Wege zu bemeistern.
Umso ersprießlicher ist es, den Blick nach rückwärts zu wenden und den Faden
der Entwicklung zu verfolgen, welcher die Gegenwart mit der Vergangenheit
verknüpft. Gewiß, es sind ganz andre und viel komplizirtere soziale Verhält¬
nisse, denen wir uns heute gegenüber befinden, als diejenigen waren, welche das
christlich gewordene Rom und die Welt des Mittelalters beschäftigten; durchaus
verschieden sind auch die Mittel, welche der Staat von heute anwendet, von
denen, welcher sich die Kirche jener Jahrhunderte bediente; und welch ein Wechsel
der Anschauungen dokumentirt sich nicht allein in dem Umstände, daß es heute



*) Die christliche Liebesthätigkeit in der alten Kirche. Von G. Uhlhorn,
Dr. took., Abt zuLoccum Stuttgart, Gumbert, 1382. 421 S. -- Die christliche Liebes-
thätigkeit im Mittelalter. Von G. Uhlhorn. Stuttgart, Gumbert, 1884. S31 S.
(Auch unter dem Titel: Die christliche Liebesthätigkeit. Band II.)
Zur Geschichte der christlichen Aebesthätigkeit.

me zusammenfassende Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit im
vollen Sinne des Wortes gab es bisher nicht. Für die alte
Kirche und das Mittelalter liegt dieselbe jetzt in den beiden am
Fuße dieser Seite angezeigten Büchern Uhlhorns vor/") Und
wir dürfen sagen, daß uns in ihnen eine wissenschaftliche Gabe
von hohem Werte dargeboten wird, eine Gabe, gleich ausgezeichnet durch die
Gründlichkeit der Forschung wie durch die Durchsichtigkeit einer überaus an¬
regenden Darstellung. Es ist nicht das erstemal, daß wir dem Verfasser auf
den Pfaden der kirchengeschichtlichen Forschung begegnen. Sein „Kampf des
Christentums mit dem Heidentum," um schon in dritter Auflage vorliegend,
konnte ihm als solider Unterbau für die Geschichte der Liebesthätigkeit in der
alten Kirche dienen. Für das Mittelalter hat er seine Vorstudien in mehreren
Aufsätzen der „Zeitschrift für Kirchengeschichte" niedergelegt. So ist er im Voll¬
besitze des wesentlichen Materials an seine Arbeit herangetreten, und wir dürfen
uns Glück wünschen, daß er sie bis zu diesem Ende führen konnte.

Das Bedürfnis nach einer Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit liegt
uns gerade heute besonders nahe. Bismarcks schönes Wort vom „praktischen
Christentum" scheint einer neuen Epoche unsrer innern Politik, ja unsers staat¬
lichen Lebens überhaupt die Signatur geben zu sollen. Die ersten Schritte auf
dem vorgezeichneten Wege sind gethan, die ersten grundlegenden Gesetze einem
widerwilligen Parlamente abgerungen. Doch was vor uns liegt, ist uns heute
noch verschlossen, noch wissen wir nicht, ob es gelingen wird, das große soziale
Problem, vor welches unsre Zeit gestellt ist, ans diesem Wege zu bemeistern.
Umso ersprießlicher ist es, den Blick nach rückwärts zu wenden und den Faden
der Entwicklung zu verfolgen, welcher die Gegenwart mit der Vergangenheit
verknüpft. Gewiß, es sind ganz andre und viel komplizirtere soziale Verhält¬
nisse, denen wir uns heute gegenüber befinden, als diejenigen waren, welche das
christlich gewordene Rom und die Welt des Mittelalters beschäftigten; durchaus
verschieden sind auch die Mittel, welche der Staat von heute anwendet, von
denen, welcher sich die Kirche jener Jahrhunderte bediente; und welch ein Wechsel
der Anschauungen dokumentirt sich nicht allein in dem Umstände, daß es heute



*) Die christliche Liebesthätigkeit in der alten Kirche. Von G. Uhlhorn,
Dr. took., Abt zuLoccum Stuttgart, Gumbert, 1382. 421 S. — Die christliche Liebes-
thätigkeit im Mittelalter. Von G. Uhlhorn. Stuttgart, Gumbert, 1884. S31 S.
(Auch unter dem Titel: Die christliche Liebesthätigkeit. Band II.)
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[0216] Zur Geschichte der christlichen Aebesthätigkeit. me zusammenfassende Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit im vollen Sinne des Wortes gab es bisher nicht. Für die alte Kirche und das Mittelalter liegt dieselbe jetzt in den beiden am Fuße dieser Seite angezeigten Büchern Uhlhorns vor/") Und wir dürfen sagen, daß uns in ihnen eine wissenschaftliche Gabe von hohem Werte dargeboten wird, eine Gabe, gleich ausgezeichnet durch die Gründlichkeit der Forschung wie durch die Durchsichtigkeit einer überaus an¬ regenden Darstellung. Es ist nicht das erstemal, daß wir dem Verfasser auf den Pfaden der kirchengeschichtlichen Forschung begegnen. Sein „Kampf des Christentums mit dem Heidentum," um schon in dritter Auflage vorliegend, konnte ihm als solider Unterbau für die Geschichte der Liebesthätigkeit in der alten Kirche dienen. Für das Mittelalter hat er seine Vorstudien in mehreren Aufsätzen der „Zeitschrift für Kirchengeschichte" niedergelegt. So ist er im Voll¬ besitze des wesentlichen Materials an seine Arbeit herangetreten, und wir dürfen uns Glück wünschen, daß er sie bis zu diesem Ende führen konnte. Das Bedürfnis nach einer Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit liegt uns gerade heute besonders nahe. Bismarcks schönes Wort vom „praktischen Christentum" scheint einer neuen Epoche unsrer innern Politik, ja unsers staat¬ lichen Lebens überhaupt die Signatur geben zu sollen. Die ersten Schritte auf dem vorgezeichneten Wege sind gethan, die ersten grundlegenden Gesetze einem widerwilligen Parlamente abgerungen. Doch was vor uns liegt, ist uns heute noch verschlossen, noch wissen wir nicht, ob es gelingen wird, das große soziale Problem, vor welches unsre Zeit gestellt ist, ans diesem Wege zu bemeistern. Umso ersprießlicher ist es, den Blick nach rückwärts zu wenden und den Faden der Entwicklung zu verfolgen, welcher die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpft. Gewiß, es sind ganz andre und viel komplizirtere soziale Verhält¬ nisse, denen wir uns heute gegenüber befinden, als diejenigen waren, welche das christlich gewordene Rom und die Welt des Mittelalters beschäftigten; durchaus verschieden sind auch die Mittel, welche der Staat von heute anwendet, von denen, welcher sich die Kirche jener Jahrhunderte bediente; und welch ein Wechsel der Anschauungen dokumentirt sich nicht allein in dem Umstände, daß es heute *) Die christliche Liebesthätigkeit in der alten Kirche. Von G. Uhlhorn, Dr. took., Abt zuLoccum Stuttgart, Gumbert, 1382. 421 S. — Die christliche Liebes- thätigkeit im Mittelalter. Von G. Uhlhorn. Stuttgart, Gumbert, 1884. S31 S. (Auch unter dem Titel: Die christliche Liebesthätigkeit. Band II.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/216>, abgerufen am 21.06.2024.