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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

E^Mrahms' Kompositionen gehören folgenden Gattnnge" an: Klavier,
Lied, Kammermusik, Konzert, Chor, Orchester, Mit Klavier-
Merken debütirte der junge Komponist. Seine ersten beiden Druck-
Hefte Maren die Klaviersonaten in O-aur und ^is-moU, denen
bald, als ox. 5, die dritte in I'-moll folgte. Diese Publikation
war im Sinne der Kinder dieser Welt keine "zeitgemäße," denn im Jahre 1853
war die Ära der Sonate längst vorüber. Im Jahre 1800 erschienen in Deutsch¬
land noch 65 Sonaten (darunter 8 vierhändige); Beethoven, Hahdn, Kotzeluch,
Stadler, Gyrowetz, Clementi, Cramer, Hummel, Wölfl, alle bedeutenden oder
beliebten Namen finden sich in dem Verzeichnisse. Fünfzig Jahre später ist die
Zahl der Sonatenwerke im Jahresdurchschnitt auf drei reduzirt, und es wuchern
die Salon- und Charakterstücke. Wenn Brahms sich mit seinen Erstlingen, er
selbst ein Neuling, gegen den Strom warf, so lag ihm dabei gewiß jede Ten¬
denz fern, aber dieser erste Schritt charakterisirt schon seine Stellung zur Kunst,
er zeigt den von Haus aus auf das Große gerichteten Sinn und den Cha¬
rakter, der selbständig, ohne Rücksicht auf Strömungen und Chancen, seine
Ideale wählt.

Die Sonaten von Brahms erscheinen uns als hochinteressante und geniale
Versuche, eine Art von Balladenstoff in die Sonatenform zu gießen. Die Phan¬
tasie arbeitet hier mit bestimmten Größen, sie stellt Originale auf: in den
Hauptszcnen treten Gestalten vor uns, welche an die ungewöhnlichen Erschei¬
nungen der Sagen und Märchen erinnern. Ob wild und fürchterlich, ob träu¬
merisch hold und lieblich -- an allen Charakteren, welche in diesen Sonaten
auftauchen, wird man die Schärfe und Sicherheit der Zeichnung bewundern
müssen. Als ein besondres Meisterstück charakteristischer Erfindung ist uns
immer das Hauptthema im ersten Satze der Ks-moll-Sonate erschienen. Von
unbändiger Kraft, von unheimlicher Färbung und von dem riesigen Maße, wie
es ist, gleicht es dem Beowulf des mittelalterlichen Epos. Die Entwicklung in
den Sonaten ist reich an Katastrophen, an schauerlichen Klängen und an jähen
Wendungen, für deren Erklärung die musikalische Logik allein nicht ausreicht.
Als eine der drastischsten sei die Stelle in der Oäur-Sonate genannt, wo das
Trio in das Scherzo zurückleitet. Ein phantastisches deskriptives Element wiegt
in diesen Sonaten vor, es grenzt zuweilen an das Opernhafte -- aber es ist


Johannes Brahms.

E^Mrahms' Kompositionen gehören folgenden Gattnnge» an: Klavier,
Lied, Kammermusik, Konzert, Chor, Orchester, Mit Klavier-
Merken debütirte der junge Komponist. Seine ersten beiden Druck-
Hefte Maren die Klaviersonaten in O-aur und ^is-moU, denen
bald, als ox. 5, die dritte in I'-moll folgte. Diese Publikation
war im Sinne der Kinder dieser Welt keine „zeitgemäße," denn im Jahre 1853
war die Ära der Sonate längst vorüber. Im Jahre 1800 erschienen in Deutsch¬
land noch 65 Sonaten (darunter 8 vierhändige); Beethoven, Hahdn, Kotzeluch,
Stadler, Gyrowetz, Clementi, Cramer, Hummel, Wölfl, alle bedeutenden oder
beliebten Namen finden sich in dem Verzeichnisse. Fünfzig Jahre später ist die
Zahl der Sonatenwerke im Jahresdurchschnitt auf drei reduzirt, und es wuchern
die Salon- und Charakterstücke. Wenn Brahms sich mit seinen Erstlingen, er
selbst ein Neuling, gegen den Strom warf, so lag ihm dabei gewiß jede Ten¬
denz fern, aber dieser erste Schritt charakterisirt schon seine Stellung zur Kunst,
er zeigt den von Haus aus auf das Große gerichteten Sinn und den Cha¬
rakter, der selbständig, ohne Rücksicht auf Strömungen und Chancen, seine
Ideale wählt.

Die Sonaten von Brahms erscheinen uns als hochinteressante und geniale
Versuche, eine Art von Balladenstoff in die Sonatenform zu gießen. Die Phan¬
tasie arbeitet hier mit bestimmten Größen, sie stellt Originale auf: in den
Hauptszcnen treten Gestalten vor uns, welche an die ungewöhnlichen Erschei¬
nungen der Sagen und Märchen erinnern. Ob wild und fürchterlich, ob träu¬
merisch hold und lieblich — an allen Charakteren, welche in diesen Sonaten
auftauchen, wird man die Schärfe und Sicherheit der Zeichnung bewundern
müssen. Als ein besondres Meisterstück charakteristischer Erfindung ist uns
immer das Hauptthema im ersten Satze der Ks-moll-Sonate erschienen. Von
unbändiger Kraft, von unheimlicher Färbung und von dem riesigen Maße, wie
es ist, gleicht es dem Beowulf des mittelalterlichen Epos. Die Entwicklung in
den Sonaten ist reich an Katastrophen, an schauerlichen Klängen und an jähen
Wendungen, für deren Erklärung die musikalische Logik allein nicht ausreicht.
Als eine der drastischsten sei die Stelle in der Oäur-Sonate genannt, wo das
Trio in das Scherzo zurückleitet. Ein phantastisches deskriptives Element wiegt
in diesen Sonaten vor, es grenzt zuweilen an das Opernhafte — aber es ist


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[0175] Johannes Brahms. E^Mrahms' Kompositionen gehören folgenden Gattnnge» an: Klavier, Lied, Kammermusik, Konzert, Chor, Orchester, Mit Klavier- Merken debütirte der junge Komponist. Seine ersten beiden Druck- Hefte Maren die Klaviersonaten in O-aur und ^is-moU, denen bald, als ox. 5, die dritte in I'-moll folgte. Diese Publikation war im Sinne der Kinder dieser Welt keine „zeitgemäße," denn im Jahre 1853 war die Ära der Sonate längst vorüber. Im Jahre 1800 erschienen in Deutsch¬ land noch 65 Sonaten (darunter 8 vierhändige); Beethoven, Hahdn, Kotzeluch, Stadler, Gyrowetz, Clementi, Cramer, Hummel, Wölfl, alle bedeutenden oder beliebten Namen finden sich in dem Verzeichnisse. Fünfzig Jahre später ist die Zahl der Sonatenwerke im Jahresdurchschnitt auf drei reduzirt, und es wuchern die Salon- und Charakterstücke. Wenn Brahms sich mit seinen Erstlingen, er selbst ein Neuling, gegen den Strom warf, so lag ihm dabei gewiß jede Ten¬ denz fern, aber dieser erste Schritt charakterisirt schon seine Stellung zur Kunst, er zeigt den von Haus aus auf das Große gerichteten Sinn und den Cha¬ rakter, der selbständig, ohne Rücksicht auf Strömungen und Chancen, seine Ideale wählt. Die Sonaten von Brahms erscheinen uns als hochinteressante und geniale Versuche, eine Art von Balladenstoff in die Sonatenform zu gießen. Die Phan¬ tasie arbeitet hier mit bestimmten Größen, sie stellt Originale auf: in den Hauptszcnen treten Gestalten vor uns, welche an die ungewöhnlichen Erschei¬ nungen der Sagen und Märchen erinnern. Ob wild und fürchterlich, ob träu¬ merisch hold und lieblich — an allen Charakteren, welche in diesen Sonaten auftauchen, wird man die Schärfe und Sicherheit der Zeichnung bewundern müssen. Als ein besondres Meisterstück charakteristischer Erfindung ist uns immer das Hauptthema im ersten Satze der Ks-moll-Sonate erschienen. Von unbändiger Kraft, von unheimlicher Färbung und von dem riesigen Maße, wie es ist, gleicht es dem Beowulf des mittelalterlichen Epos. Die Entwicklung in den Sonaten ist reich an Katastrophen, an schauerlichen Klängen und an jähen Wendungen, für deren Erklärung die musikalische Logik allein nicht ausreicht. Als eine der drastischsten sei die Stelle in der Oäur-Sonate genannt, wo das Trio in das Scherzo zurückleitet. Ein phantastisches deskriptives Element wiegt in diesen Sonaten vor, es grenzt zuweilen an das Opernhafte — aber es ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/175>, abgerufen am 21.06.2024.