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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Belgische und holländische Verlegenheiten.

Liberalen noch andre Ursachen mit: ein erheblicher Teil der Beamten hat, mit
seiner Stellung unzufrieden, gegen die freisinnige Regierung gestimmt, die ar¬
beitenden Klassen, welche die Regierung für die in Handel und Wandel herr¬
schende Stockung verantwortlich machen, haben desgleichen gethan, und schließlich
machten sich viele Liberale, als ihrer Sache zu sicher, der Lässigkeit schuldig,
während ihre Gegner den größten Eifer entwickelten.

Die konservative Reaktion gegen die Maßlosigkeit eines Teiles der Libe¬
ralen kann nicht überraschen. Soweit Rom die Völker zu beherrschen und die
Gedankenfreiheit in Fesseln zu schlagen strebt, ist es ganz natürlich, wenn man
es haßt und verabscheut. Wenn aber freidenkerische Bigotterie die Kirche nieder¬
treten will, die Liberalen ihrerseits fanatisch, engherzig und unduldsam auftreten,
so ist es ebenso natürlich, daß darüber mancher an ihrem Programm irre wird
und ihrer Fahne den Rücken zukehrt, weil sie nicht mehr die Freiheit, sondern
die aufgeklärte Tyrannei bedeutet, die nicht weniger schmerzt als die ultramon¬
tane. Wie Überstürzung in solchen Angelegenheiten sich rächt, haben wir in
den letzten Jahren auch in andern Ländern gesehen, in Spanien z. B>, in ge¬
wissem Maße auch in Italien, ja selbst in Deutschland, wo Bismarck den
Virchowschcn "Kulturkampf" anfangs überhaupt nicht wollte und dann wenig¬
stens nur mit halbem Herzen die Falkschen Gesetze, die vielfach zuweit gingen,
guthieß/') Die Radikalen begreifen in ihrem dem Leben abgewandten Doktri¬
narismus niemals die Duldung von politischen Gegnern, und das Christentum
erscheint ihnen als besonders energisch zu bekämpfender Feind. In Frankreich
beherrscht diese Abneigung gegen die Religion noch immer die Mehrheit der
Gesetzgebung, und die Negierung kann sich hier die härtesten Maßregeln gegen
die Kirche erlauben, ohne von andrer Seite Widerspruch zu erfahren als von
den Monarchisten. Der Umschwung in Belgien sollte hier als Uvrosnro wirken
und zum Einhalten auf der abschüssigen Bahn veranlassen.

Die durch schwere Erkrankung des Prinzen Alexander erregte Beklemmung
in Holland scheint, während wir dies schreiben, ihren Gegenstand verloren zu
haben, da der Thronerbe König Wilhelms sich nach den letzten Nachrichten auf
dem Wege "der Besserung befindet. Wir brauchten also dieser Verlegenheit nicht
weiter zu gedenken, wenn nicht die ausländische Presse an dieselbe Vermutungen
geknüpft hätte, die völlig grundlos sind. Man begegnete selbst in einem unsrer
Politik sonst wohlgesinnten englischen Blatte, das sich großer Verbreitung er¬
freut, den seltsamsten Gedanken. Es sind noch Leute am Leben -- hieß es --,
die sich erinnern, wie die "spanischen Heiraten" und die Möglichkeit, daß fran¬
zösische Prinzen spanische Prinzessinnen heirateten, England und Frankreich bei-



*) Vergl, die Mitteilungen bei M, Busch, "Unser Reichskanzler," Bd.I, S, 139 bis 1S1,
die nach Stil und Inhalt offenbar aus bester Quelle stammen und von der Kritik viel zu
wenig beachtet worden sind.
Belgische und holländische Verlegenheiten.

Liberalen noch andre Ursachen mit: ein erheblicher Teil der Beamten hat, mit
seiner Stellung unzufrieden, gegen die freisinnige Regierung gestimmt, die ar¬
beitenden Klassen, welche die Regierung für die in Handel und Wandel herr¬
schende Stockung verantwortlich machen, haben desgleichen gethan, und schließlich
machten sich viele Liberale, als ihrer Sache zu sicher, der Lässigkeit schuldig,
während ihre Gegner den größten Eifer entwickelten.

Die konservative Reaktion gegen die Maßlosigkeit eines Teiles der Libe¬
ralen kann nicht überraschen. Soweit Rom die Völker zu beherrschen und die
Gedankenfreiheit in Fesseln zu schlagen strebt, ist es ganz natürlich, wenn man
es haßt und verabscheut. Wenn aber freidenkerische Bigotterie die Kirche nieder¬
treten will, die Liberalen ihrerseits fanatisch, engherzig und unduldsam auftreten,
so ist es ebenso natürlich, daß darüber mancher an ihrem Programm irre wird
und ihrer Fahne den Rücken zukehrt, weil sie nicht mehr die Freiheit, sondern
die aufgeklärte Tyrannei bedeutet, die nicht weniger schmerzt als die ultramon¬
tane. Wie Überstürzung in solchen Angelegenheiten sich rächt, haben wir in
den letzten Jahren auch in andern Ländern gesehen, in Spanien z. B>, in ge¬
wissem Maße auch in Italien, ja selbst in Deutschland, wo Bismarck den
Virchowschcn „Kulturkampf" anfangs überhaupt nicht wollte und dann wenig¬
stens nur mit halbem Herzen die Falkschen Gesetze, die vielfach zuweit gingen,
guthieß/') Die Radikalen begreifen in ihrem dem Leben abgewandten Doktri¬
narismus niemals die Duldung von politischen Gegnern, und das Christentum
erscheint ihnen als besonders energisch zu bekämpfender Feind. In Frankreich
beherrscht diese Abneigung gegen die Religion noch immer die Mehrheit der
Gesetzgebung, und die Negierung kann sich hier die härtesten Maßregeln gegen
die Kirche erlauben, ohne von andrer Seite Widerspruch zu erfahren als von
den Monarchisten. Der Umschwung in Belgien sollte hier als Uvrosnro wirken
und zum Einhalten auf der abschüssigen Bahn veranlassen.

Die durch schwere Erkrankung des Prinzen Alexander erregte Beklemmung
in Holland scheint, während wir dies schreiben, ihren Gegenstand verloren zu
haben, da der Thronerbe König Wilhelms sich nach den letzten Nachrichten auf
dem Wege "der Besserung befindet. Wir brauchten also dieser Verlegenheit nicht
weiter zu gedenken, wenn nicht die ausländische Presse an dieselbe Vermutungen
geknüpft hätte, die völlig grundlos sind. Man begegnete selbst in einem unsrer
Politik sonst wohlgesinnten englischen Blatte, das sich großer Verbreitung er¬
freut, den seltsamsten Gedanken. Es sind noch Leute am Leben — hieß es —,
die sich erinnern, wie die „spanischen Heiraten" und die Möglichkeit, daß fran¬
zösische Prinzen spanische Prinzessinnen heirateten, England und Frankreich bei-



*) Vergl, die Mitteilungen bei M, Busch, „Unser Reichskanzler," Bd.I, S, 139 bis 1S1,
die nach Stil und Inhalt offenbar aus bester Quelle stammen und von der Kritik viel zu
wenig beachtet worden sind.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/12>, abgerufen am 23.06.2024.