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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

Nichte besaß u> s, w. So scheint auch hier die frühe Ehe als organisch, die
Ehe als Jugendglück, das sich im Laufe der Jahre läutert und beruhigt, aber
den Reichtum seines Inhalts nicht verliert, eine wenigstens negative Bestätigung
zu erhalten.

Das Menschenleben als gesetzmäßig und unveränderlich, als durch natür¬
liche Kräfte bewirkt zu betrachten, mußte dem Dichter nahe liegen, der auch
Naturforscher war und die Natur selbst und ihr unbewußtes Schaffen zu er¬
gründen, ihrer durch geistige Teilnahme würdig zu werden sein Leben lang sich
bestrebte. Auch in der Natur sah er mehr das Allgemeine, das Ganze, die
Gattung und leitete mit genialer Anschauung die Art, die besondre Gestalt aus
jenem umfassenden Lebensgrunde ab. "Hatte ich doch, sagt er selbst, erst un¬
bewußt und ans innerm Trieb, auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen!"
Wie wir aber nach den Erdepochen, in den Schichten des Bodens, in Höhlen
und Bergen die tierischen und pflanzlichen Musterformen in langsamen Über¬
gängen und Zusammenhängen sich verwandeln sehen, so bildet sich auch die
menschliche Gesellschaft geschichtlich zu immer neuer Verschiedenheit aus, ohne
daß, hier wie dort, eine unverbrüchliche Schranke, die alles umschließt, je über¬
schritten werden könnte. Und so bleibt sie für den, der das Erste und All¬
gemeine, die göttliche Idee schaut, immer ähnlich, gleichartig, ja dieselbe.

Es kann belehrend sein, mit den obigen Darstellungen Goethes die ähn¬
lichen Schillers zu vergleichen, die ebenfalls dem letzten Dezennium des Jahr¬
hunderts angehören, die "Elegie," das "Eleusische Fest," das "Lied von der
Glocke." Dort, bei Goethe, ein jedes in lebendiger Gegenwart, von der Phan¬
tasie eingegeben, poetisch vergeistigt, bedeutsam und auf eine unendliche Ferne
weisend und doch an seinem Punkte bestimmt und beseelt -- hier denkende Be¬
trachtung des Gegensatzes von Natur und Kultur, Konstruktion der Folge und
des Zusammenhanges menschlicher Bildungsstufen, weite Umrisse der allgemeinen
Gruppen des Lebens, alles metaphorisch geschmückt, in rhetorischen Glanz, in
reicher Fülle der Worte, hin und wieder durch einen treffenden konkreten Zug
individualisirt. So zeigt uns der "Spaziergang" (oder die "Elegie" vom
Jahre 1795), wie der Mensch als Naturwesen beginnt, wie er dann zum Be¬
wußtsein erwacht und die Freiheit mißbraucht, wie Verrat und Lüge, Laster und
Irrtum die Welt beherrschen, wie es endlich aus diesem Elend für den Edleren
nur eine Zuflucht giebt, die Rückkehr zur Natur, die immer dieselbe liebevolle Mutter
ist, eine Hingabe, die aber nun nicht mehr die blinde des Anfangs, sondern eine
freie und bewußte ist. Daß das Gemälde des Naturfriedens, dann der sich selbst
zerstörenden Bildung an einen Spaziergang des Dichters geknüpft ist, gab Ge¬
legenheit zu Beschreibungen und Schilderungen, also zu sinnlicher Belebung der
abstrakten Grundlage. Allein die vielen musivischen Stifte wollen in ihrem
Nebeneinander doch nicht recht zur Einheit zusammenfließen; der Stil, mehr
prächtig als sachlich, reich an Tropen, Antithesen und schmückenden Adjektiven,


Gedanken über Goethe.

Nichte besaß u> s, w. So scheint auch hier die frühe Ehe als organisch, die
Ehe als Jugendglück, das sich im Laufe der Jahre läutert und beruhigt, aber
den Reichtum seines Inhalts nicht verliert, eine wenigstens negative Bestätigung
zu erhalten.

Das Menschenleben als gesetzmäßig und unveränderlich, als durch natür¬
liche Kräfte bewirkt zu betrachten, mußte dem Dichter nahe liegen, der auch
Naturforscher war und die Natur selbst und ihr unbewußtes Schaffen zu er¬
gründen, ihrer durch geistige Teilnahme würdig zu werden sein Leben lang sich
bestrebte. Auch in der Natur sah er mehr das Allgemeine, das Ganze, die
Gattung und leitete mit genialer Anschauung die Art, die besondre Gestalt aus
jenem umfassenden Lebensgrunde ab. „Hatte ich doch, sagt er selbst, erst un¬
bewußt und ans innerm Trieb, auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen!"
Wie wir aber nach den Erdepochen, in den Schichten des Bodens, in Höhlen
und Bergen die tierischen und pflanzlichen Musterformen in langsamen Über¬
gängen und Zusammenhängen sich verwandeln sehen, so bildet sich auch die
menschliche Gesellschaft geschichtlich zu immer neuer Verschiedenheit aus, ohne
daß, hier wie dort, eine unverbrüchliche Schranke, die alles umschließt, je über¬
schritten werden könnte. Und so bleibt sie für den, der das Erste und All¬
gemeine, die göttliche Idee schaut, immer ähnlich, gleichartig, ja dieselbe.

Es kann belehrend sein, mit den obigen Darstellungen Goethes die ähn¬
lichen Schillers zu vergleichen, die ebenfalls dem letzten Dezennium des Jahr¬
hunderts angehören, die „Elegie," das „Eleusische Fest," das „Lied von der
Glocke." Dort, bei Goethe, ein jedes in lebendiger Gegenwart, von der Phan¬
tasie eingegeben, poetisch vergeistigt, bedeutsam und auf eine unendliche Ferne
weisend und doch an seinem Punkte bestimmt und beseelt — hier denkende Be¬
trachtung des Gegensatzes von Natur und Kultur, Konstruktion der Folge und
des Zusammenhanges menschlicher Bildungsstufen, weite Umrisse der allgemeinen
Gruppen des Lebens, alles metaphorisch geschmückt, in rhetorischen Glanz, in
reicher Fülle der Worte, hin und wieder durch einen treffenden konkreten Zug
individualisirt. So zeigt uns der „Spaziergang" (oder die „Elegie" vom
Jahre 1795), wie der Mensch als Naturwesen beginnt, wie er dann zum Be¬
wußtsein erwacht und die Freiheit mißbraucht, wie Verrat und Lüge, Laster und
Irrtum die Welt beherrschen, wie es endlich aus diesem Elend für den Edleren
nur eine Zuflucht giebt, die Rückkehr zur Natur, die immer dieselbe liebevolle Mutter
ist, eine Hingabe, die aber nun nicht mehr die blinde des Anfangs, sondern eine
freie und bewußte ist. Daß das Gemälde des Naturfriedens, dann der sich selbst
zerstörenden Bildung an einen Spaziergang des Dichters geknüpft ist, gab Ge¬
legenheit zu Beschreibungen und Schilderungen, also zu sinnlicher Belebung der
abstrakten Grundlage. Allein die vielen musivischen Stifte wollen in ihrem
Nebeneinander doch nicht recht zur Einheit zusammenfließen; der Stil, mehr
prächtig als sachlich, reich an Tropen, Antithesen und schmückenden Adjektiven,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/96>, abgerufen am 27.07.2024.