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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

den Eheherrn Vulkan hintergangen, und alle gespannt horchen, indeß in ihren
Händen die Spindeln sich drehen und die weiche Wolle sich abwindet (Geor-
gica 4, 348):


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ganz so versammelt in der "Spinnstube," wie sie uns Justus Möser in einer
seiner "Patriotischen Phantasien" beschreibt, die Hausfrau die Mägde um sich,
die Räder drehen sich, und ebenso munter gehen die Geschichten, die Scherze
von Mund zu Mund. Auch dies ist jetzt vergangen: welches Mädchen sitzt
noch am Spinnrocken? Eine noch abstraktere Mechanik, die Fabrik, durch Dampf
getrieben, hat das Geschäft übernommen. So ist mit dem Weibe und seiner
Spindel bei Homer kein Zusammenhang mehr. Auch die Guitarre mit der
seidenen Schleife hängt dem Mädchen nicht mehr anmutig im Arm und be¬
gleitet sie in den Garten, in den Wald; sie sitzt am Klaviere, einem unförm¬
lichen Kasten, und kehrt uns den Rücken.

Oft ändert sich nur der Name, und der reale Inhalt besteht fort. Aristo¬
teles rechnete den Sklaven als wesentliches Glied mit zu menschlicher Nieder¬
lassung und Haushaltung; der Gegensatz von Freien und Sklaven erschien ihm
so notwendig, wie der von Kultur und Barbarei oder von Hellenen und Asiaten
(in den ersten Kapiteln seiner Politik). In unsern Häusern ist die Scheide zwischen
Herrschaft und Dienerschaft immer unmerklicher geworden, und der Dienst stellt
sich fast nur als eine durch Vertrag festgesetzte Hilfsleistung dar. Dennoch
wirkt auch heute der Unterschied der Rasse noch ungeschwächt fort, und so kann
das, was der griechische Denker aus dem natürlichen Bestände, den er vorfand,
als Gebot ableitete, nicht ungiltig geworden sein: wenn der Amerikaner zwei
Schwarze mietet, die Arbeit des Hauses zu verrichten, so achtet er sie nicht als
Genossen, und jene haben das Gefühl, daß sie einer tieferstehenden Nasse an¬
gehören, sich nicht selbst bestimmen, sich nicht selbst helfen können, und erwarten
den Willen und die Einsicht von dem geistig und sittlich höher organisirten
Herrn. So will es die Ordnung der Natur, und auf diese, als den Grund
und Boden aller Politik, richtete Aristoteles seinen Blick. Wenn Solon, der
vielerfahrene, darum düstere Gesetzgeber und Menschenkenner, in einer uns bei
Stobäus erhaltenen wunderbaren Elegie die primären Berufszweige aufzählt, in
denen die menschliche Gesellschaft ihre Momente auseinanderlegt, so erkennen wir
nach drittehalb Jahrtausenden leicht die Umrisse unsers heutigen vielgestaltigen
Lebens, aber auch, wie manches seitdem anders geordnet, leise verschoben ist.
Das Geschäft der Menschen, sagt er, ist verschieden, der eine greift nach diesem,
der andre nach jenem: der eine wird Schiffer, durchstreift das Meer, des Ge¬
winnes begierig, und achtet nicht der Stürme, die sein Leben bedrohen (43):


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Gedanken über Goethe.

den Eheherrn Vulkan hintergangen, und alle gespannt horchen, indeß in ihren
Händen die Spindeln sich drehen und die weiche Wolle sich abwindet (Geor-
gica 4, 348):


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äsvolvuut —,

ganz so versammelt in der „Spinnstube," wie sie uns Justus Möser in einer
seiner „Patriotischen Phantasien" beschreibt, die Hausfrau die Mägde um sich,
die Räder drehen sich, und ebenso munter gehen die Geschichten, die Scherze
von Mund zu Mund. Auch dies ist jetzt vergangen: welches Mädchen sitzt
noch am Spinnrocken? Eine noch abstraktere Mechanik, die Fabrik, durch Dampf
getrieben, hat das Geschäft übernommen. So ist mit dem Weibe und seiner
Spindel bei Homer kein Zusammenhang mehr. Auch die Guitarre mit der
seidenen Schleife hängt dem Mädchen nicht mehr anmutig im Arm und be¬
gleitet sie in den Garten, in den Wald; sie sitzt am Klaviere, einem unförm¬
lichen Kasten, und kehrt uns den Rücken.

Oft ändert sich nur der Name, und der reale Inhalt besteht fort. Aristo¬
teles rechnete den Sklaven als wesentliches Glied mit zu menschlicher Nieder¬
lassung und Haushaltung; der Gegensatz von Freien und Sklaven erschien ihm
so notwendig, wie der von Kultur und Barbarei oder von Hellenen und Asiaten
(in den ersten Kapiteln seiner Politik). In unsern Häusern ist die Scheide zwischen
Herrschaft und Dienerschaft immer unmerklicher geworden, und der Dienst stellt
sich fast nur als eine durch Vertrag festgesetzte Hilfsleistung dar. Dennoch
wirkt auch heute der Unterschied der Rasse noch ungeschwächt fort, und so kann
das, was der griechische Denker aus dem natürlichen Bestände, den er vorfand,
als Gebot ableitete, nicht ungiltig geworden sein: wenn der Amerikaner zwei
Schwarze mietet, die Arbeit des Hauses zu verrichten, so achtet er sie nicht als
Genossen, und jene haben das Gefühl, daß sie einer tieferstehenden Nasse an¬
gehören, sich nicht selbst bestimmen, sich nicht selbst helfen können, und erwarten
den Willen und die Einsicht von dem geistig und sittlich höher organisirten
Herrn. So will es die Ordnung der Natur, und auf diese, als den Grund
und Boden aller Politik, richtete Aristoteles seinen Blick. Wenn Solon, der
vielerfahrene, darum düstere Gesetzgeber und Menschenkenner, in einer uns bei
Stobäus erhaltenen wunderbaren Elegie die primären Berufszweige aufzählt, in
denen die menschliche Gesellschaft ihre Momente auseinanderlegt, so erkennen wir
nach drittehalb Jahrtausenden leicht die Umrisse unsers heutigen vielgestaltigen
Lebens, aber auch, wie manches seitdem anders geordnet, leise verschoben ist.
Das Geschäft der Menschen, sagt er, ist verschieden, der eine greift nach diesem,
der andre nach jenem: der eine wird Schiffer, durchstreift das Meer, des Ge¬
winnes begierig, und achtet nicht der Stürme, die sein Leben bedrohen (43):


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[0092] Gedanken über Goethe. den Eheherrn Vulkan hintergangen, und alle gespannt horchen, indeß in ihren Händen die Spindeln sich drehen und die weiche Wolle sich abwindet (Geor- gica 4, 348): vÄi'llülls Wo es,pli>,s <tum tasis militia psnsg, äsvolvuut —, ganz so versammelt in der „Spinnstube," wie sie uns Justus Möser in einer seiner „Patriotischen Phantasien" beschreibt, die Hausfrau die Mägde um sich, die Räder drehen sich, und ebenso munter gehen die Geschichten, die Scherze von Mund zu Mund. Auch dies ist jetzt vergangen: welches Mädchen sitzt noch am Spinnrocken? Eine noch abstraktere Mechanik, die Fabrik, durch Dampf getrieben, hat das Geschäft übernommen. So ist mit dem Weibe und seiner Spindel bei Homer kein Zusammenhang mehr. Auch die Guitarre mit der seidenen Schleife hängt dem Mädchen nicht mehr anmutig im Arm und be¬ gleitet sie in den Garten, in den Wald; sie sitzt am Klaviere, einem unförm¬ lichen Kasten, und kehrt uns den Rücken. Oft ändert sich nur der Name, und der reale Inhalt besteht fort. Aristo¬ teles rechnete den Sklaven als wesentliches Glied mit zu menschlicher Nieder¬ lassung und Haushaltung; der Gegensatz von Freien und Sklaven erschien ihm so notwendig, wie der von Kultur und Barbarei oder von Hellenen und Asiaten (in den ersten Kapiteln seiner Politik). In unsern Häusern ist die Scheide zwischen Herrschaft und Dienerschaft immer unmerklicher geworden, und der Dienst stellt sich fast nur als eine durch Vertrag festgesetzte Hilfsleistung dar. Dennoch wirkt auch heute der Unterschied der Rasse noch ungeschwächt fort, und so kann das, was der griechische Denker aus dem natürlichen Bestände, den er vorfand, als Gebot ableitete, nicht ungiltig geworden sein: wenn der Amerikaner zwei Schwarze mietet, die Arbeit des Hauses zu verrichten, so achtet er sie nicht als Genossen, und jene haben das Gefühl, daß sie einer tieferstehenden Nasse an¬ gehören, sich nicht selbst bestimmen, sich nicht selbst helfen können, und erwarten den Willen und die Einsicht von dem geistig und sittlich höher organisirten Herrn. So will es die Ordnung der Natur, und auf diese, als den Grund und Boden aller Politik, richtete Aristoteles seinen Blick. Wenn Solon, der vielerfahrene, darum düstere Gesetzgeber und Menschenkenner, in einer uns bei Stobäus erhaltenen wunderbaren Elegie die primären Berufszweige aufzählt, in denen die menschliche Gesellschaft ihre Momente auseinanderlegt, so erkennen wir nach drittehalb Jahrtausenden leicht die Umrisse unsers heutigen vielgestaltigen Lebens, aber auch, wie manches seitdem anders geordnet, leise verschoben ist. Das Geschäft der Menschen, sagt er, ist verschieden, der eine greift nach diesem, der andre nach jenem: der eine wird Schiffer, durchstreift das Meer, des Ge¬ winnes begierig, und achtet nicht der Stürme, die sein Leben bedrohen (43): ^ V^^Se^ 0^X«F« X^Fos «/LtV

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/92>, abgerufen am 27.07.2024.