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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Aus den Tagen der Klassiker.

erfahren, daß die Meinung berechtigt erscheint, hier sei überhaupt nichts neues
mehr beizubringen. Da wir alle und alles kennen bis zu Goethes vertrautem
Diener und Sekretär Philipp Seidel, bis zu den Jenenser und Weimarer
Druckern der Zeit und bis zu Cottas Setzern, da wir Goethes blauen Werther¬
frack und Schillers "Schreibkommvde" für zwei Carolin beständig vor Augen
haben, so vergessen wir eben leicht, wieviel von den bergehoch gehäuften Mitteilungen
bloßes Material geblieben ist und wie episodisch gar manche bedeutenden Lebens¬
läufe behandelt worden find, die nur eine Zeit lang neben denen der Weimarer
Heroen hergegangen sind oder dieselben gekreuzt haben. Als im vorigen Jahre
die Briefe Charlottes von Kalb an Jean Paul durch P. Nerrlich veröffentlicht
wurden, kam es uns empfindlich zum Bewußtsein, daß wir ein wirklich ausgeführtes
Lebensbild der bedeutenden und originellen Frau nicht besitzen. Als vor einiger
Zeit in einem vortrefflichen Buche von Otto Balsas der Landschaftsmaler Johann
Christian Reinhart und seine Kreise (Leipzig, Seemann, 1882) dargestellt wurden,
besannen sich Hunderte, wie vielemal sie den Namen und die originellen Briefe
des Mannes in den Schillerbiographien erblickt hatten, ohne sich je weiter um
das fruchtreiche und bedeutsame Leben desselben zu kümmern. Und so wären
Dutzende, vielleicht Hunderte von Stellen namhaft zu machen, an denen die
allgemeine Kenntnis von allem, was das große Menschenalter zwischen 1770
und 1810 anlangt, recht unzulänglich ist. Es muß mindestens erlaubt sein, in
einer Reihe von kleinern Lebensbildern zur Geschichte der klassischen Periode
zerstreute Merkwürdigkeiten zu sammeln und verwischte Zeichnungen wieder auf¬
zufrischen.

Zwar der Mann, mit dessen Gestalt wir diese kleine Pvrträtgalerie er¬
öffnen, Karl von Dalberg, der letzte Kurfürst-Erzkanzler des hinsterbenden
heiligen römischen Reiches deutscher Nation, der von allen Patrioten vervehmte
Fürst-Primas des Rheinbundes, der Koadjutor, wie er in den Briefen Goethes,
Schillers, Wilhelm von Humboldts und Herzog Karl Augusts in den glück¬
licheren Zeiten seines Lebens hieß, hat keinen Biographen mehr zu erwarten.
Nach Josef Becks Buche über "Johann Heinrich von Wessenberg" (Freiburg, 1862)
und Karl von Beaulieu-Marconnays höchst gründlichem historisch-biographischen
Werke "Karl von Dalberg und seine Zeit" (Weimar, 1879) stünde nur in einem
Falle eine weitere allgemein interessante Publikation über Dalberg zu erwarten.
Als Beaulieu-Marconnay sein abschließendes Buch veröffentlichte, hatte er das
tiefste Bedauern auszusprechen, daß die Briefe der Herzöge Karl August von
Weimar, Ernst von Gotha und August von Gotha, die Schreiben von Goethe, Wie¬
land, Herder, Schiller, W. von Humboldt an Dalberg für uns verloren seien.
Im Fall diese kostbaren Dokumente hochinteressanter Beziehungen noch irgendwo
aufgefunden werden sollten, würden sie nicht nur Material zur Kulturgeschichte
der klassischen Epoche bieten, sie würden auch sicherlich die erste und zweite
Periode Dalbergs in ein besseres und glänzenderes Licht rücken. Daß sie an


Aus den Tagen der Klassiker.

erfahren, daß die Meinung berechtigt erscheint, hier sei überhaupt nichts neues
mehr beizubringen. Da wir alle und alles kennen bis zu Goethes vertrautem
Diener und Sekretär Philipp Seidel, bis zu den Jenenser und Weimarer
Druckern der Zeit und bis zu Cottas Setzern, da wir Goethes blauen Werther¬
frack und Schillers „Schreibkommvde" für zwei Carolin beständig vor Augen
haben, so vergessen wir eben leicht, wieviel von den bergehoch gehäuften Mitteilungen
bloßes Material geblieben ist und wie episodisch gar manche bedeutenden Lebens¬
läufe behandelt worden find, die nur eine Zeit lang neben denen der Weimarer
Heroen hergegangen sind oder dieselben gekreuzt haben. Als im vorigen Jahre
die Briefe Charlottes von Kalb an Jean Paul durch P. Nerrlich veröffentlicht
wurden, kam es uns empfindlich zum Bewußtsein, daß wir ein wirklich ausgeführtes
Lebensbild der bedeutenden und originellen Frau nicht besitzen. Als vor einiger
Zeit in einem vortrefflichen Buche von Otto Balsas der Landschaftsmaler Johann
Christian Reinhart und seine Kreise (Leipzig, Seemann, 1882) dargestellt wurden,
besannen sich Hunderte, wie vielemal sie den Namen und die originellen Briefe
des Mannes in den Schillerbiographien erblickt hatten, ohne sich je weiter um
das fruchtreiche und bedeutsame Leben desselben zu kümmern. Und so wären
Dutzende, vielleicht Hunderte von Stellen namhaft zu machen, an denen die
allgemeine Kenntnis von allem, was das große Menschenalter zwischen 1770
und 1810 anlangt, recht unzulänglich ist. Es muß mindestens erlaubt sein, in
einer Reihe von kleinern Lebensbildern zur Geschichte der klassischen Periode
zerstreute Merkwürdigkeiten zu sammeln und verwischte Zeichnungen wieder auf¬
zufrischen.

Zwar der Mann, mit dessen Gestalt wir diese kleine Pvrträtgalerie er¬
öffnen, Karl von Dalberg, der letzte Kurfürst-Erzkanzler des hinsterbenden
heiligen römischen Reiches deutscher Nation, der von allen Patrioten vervehmte
Fürst-Primas des Rheinbundes, der Koadjutor, wie er in den Briefen Goethes,
Schillers, Wilhelm von Humboldts und Herzog Karl Augusts in den glück¬
licheren Zeiten seines Lebens hieß, hat keinen Biographen mehr zu erwarten.
Nach Josef Becks Buche über „Johann Heinrich von Wessenberg" (Freiburg, 1862)
und Karl von Beaulieu-Marconnays höchst gründlichem historisch-biographischen
Werke „Karl von Dalberg und seine Zeit" (Weimar, 1879) stünde nur in einem
Falle eine weitere allgemein interessante Publikation über Dalberg zu erwarten.
Als Beaulieu-Marconnay sein abschließendes Buch veröffentlichte, hatte er das
tiefste Bedauern auszusprechen, daß die Briefe der Herzöge Karl August von
Weimar, Ernst von Gotha und August von Gotha, die Schreiben von Goethe, Wie¬
land, Herder, Schiller, W. von Humboldt an Dalberg für uns verloren seien.
Im Fall diese kostbaren Dokumente hochinteressanter Beziehungen noch irgendwo
aufgefunden werden sollten, würden sie nicht nur Material zur Kulturgeschichte
der klassischen Epoche bieten, sie würden auch sicherlich die erste und zweite
Periode Dalbergs in ein besseres und glänzenderes Licht rücken. Daß sie an


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[0073] Aus den Tagen der Klassiker. erfahren, daß die Meinung berechtigt erscheint, hier sei überhaupt nichts neues mehr beizubringen. Da wir alle und alles kennen bis zu Goethes vertrautem Diener und Sekretär Philipp Seidel, bis zu den Jenenser und Weimarer Druckern der Zeit und bis zu Cottas Setzern, da wir Goethes blauen Werther¬ frack und Schillers „Schreibkommvde" für zwei Carolin beständig vor Augen haben, so vergessen wir eben leicht, wieviel von den bergehoch gehäuften Mitteilungen bloßes Material geblieben ist und wie episodisch gar manche bedeutenden Lebens¬ läufe behandelt worden find, die nur eine Zeit lang neben denen der Weimarer Heroen hergegangen sind oder dieselben gekreuzt haben. Als im vorigen Jahre die Briefe Charlottes von Kalb an Jean Paul durch P. Nerrlich veröffentlicht wurden, kam es uns empfindlich zum Bewußtsein, daß wir ein wirklich ausgeführtes Lebensbild der bedeutenden und originellen Frau nicht besitzen. Als vor einiger Zeit in einem vortrefflichen Buche von Otto Balsas der Landschaftsmaler Johann Christian Reinhart und seine Kreise (Leipzig, Seemann, 1882) dargestellt wurden, besannen sich Hunderte, wie vielemal sie den Namen und die originellen Briefe des Mannes in den Schillerbiographien erblickt hatten, ohne sich je weiter um das fruchtreiche und bedeutsame Leben desselben zu kümmern. Und so wären Dutzende, vielleicht Hunderte von Stellen namhaft zu machen, an denen die allgemeine Kenntnis von allem, was das große Menschenalter zwischen 1770 und 1810 anlangt, recht unzulänglich ist. Es muß mindestens erlaubt sein, in einer Reihe von kleinern Lebensbildern zur Geschichte der klassischen Periode zerstreute Merkwürdigkeiten zu sammeln und verwischte Zeichnungen wieder auf¬ zufrischen. Zwar der Mann, mit dessen Gestalt wir diese kleine Pvrträtgalerie er¬ öffnen, Karl von Dalberg, der letzte Kurfürst-Erzkanzler des hinsterbenden heiligen römischen Reiches deutscher Nation, der von allen Patrioten vervehmte Fürst-Primas des Rheinbundes, der Koadjutor, wie er in den Briefen Goethes, Schillers, Wilhelm von Humboldts und Herzog Karl Augusts in den glück¬ licheren Zeiten seines Lebens hieß, hat keinen Biographen mehr zu erwarten. Nach Josef Becks Buche über „Johann Heinrich von Wessenberg" (Freiburg, 1862) und Karl von Beaulieu-Marconnays höchst gründlichem historisch-biographischen Werke „Karl von Dalberg und seine Zeit" (Weimar, 1879) stünde nur in einem Falle eine weitere allgemein interessante Publikation über Dalberg zu erwarten. Als Beaulieu-Marconnay sein abschließendes Buch veröffentlichte, hatte er das tiefste Bedauern auszusprechen, daß die Briefe der Herzöge Karl August von Weimar, Ernst von Gotha und August von Gotha, die Schreiben von Goethe, Wie¬ land, Herder, Schiller, W. von Humboldt an Dalberg für uns verloren seien. Im Fall diese kostbaren Dokumente hochinteressanter Beziehungen noch irgendwo aufgefunden werden sollten, würden sie nicht nur Material zur Kulturgeschichte der klassischen Epoche bieten, sie würden auch sicherlich die erste und zweite Periode Dalbergs in ein besseres und glänzenderes Licht rücken. Daß sie an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/73>, abgerufen am 27.07.2024.