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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Der neue Merlin.

Vier Monate dauerte die selige Zeit, in der ich mich vor aller Welt ver¬
gessen wähnte, außer von ihr. Im vierten Monat kam Gabriella häufiger, und
auf ihrem Gesicht lag ein himmlischer Ausdruck von Zuversicht und froher Er¬
wartung. Sie vertraute mir, daß die Maßregeln, die sie treffen mußte, um
sich und ihr Erbe aus der Gewalt der habsüchtigen Verwandten zu lösen, un¬
erwartet schnellen, glücklichen Fortgang hätten, daß mein Exil auf diesem Eiland
vielleicht nur noch nach Monaten und jedenfalls nicht nach Jahren zählen werde,
daß wir dann gemeinsam in die freie Welt, weit, weit in die Welt, wie sie
sagte, fliegen würden.

In so froher Zuversicht trat Gabriella auch das letztemal unter dies Dach!
Wo Sie vorhin mit Ihrer Geliebten standen, Signor Federigo, da lehnte ich
Arm in Arm mit ihr, in süßem Geplauder. Wie oft habe ich in der langen
Zeit, die seitdem verstrichen ist, mir das Hirn zermartert, mir jedes Wort jenes
Nachmittags ins Gedächtnis zurückzurufen. Aber wer prägt in der glücklichen
Stunde, der tausend gleiche Stunden folgen sollen, sich Wort um Wort ein?
Unvergessen lebt der hoffnungsfrohe Ton Gabriellas in meiner Seele, ich sehe
sie scheiden, da die Sonne auf dem Wasserspiegel im West zu ruhen scheint,
mein Arm liegt noch um ihren süßen, schlanken Leib, und ich geleite sie zwischen
Rebenfeldern bis zu den Steinstufen, wo ihre Gondel liegt. Sie küßt mich heiß,
noch einmal und zum letztenmal: Auf Wiedersehen, Felice! Und die Gondel
stößt ab, die heißgeliebte, holde Frau steht aufrecht in ihr und kehrt mir ihr
Gesicht zu, auf dem sich der rosige Wiederschein der Abendsonne und ein mutiges,
herzbeglückcndes Lächeln begegnen. Dann werden ihre Züge undeutlicher. Die
Gondel gleitet dahin und entschwindet langsam meinen Augen -- ich sehe
Gabriellas Tuchweber -- noch einmal -- zum letztenmal!

Signor Constantini hatte die letzten Worte mit zitternder Stimme ge¬
sprochen, und sei" Gesicht nach dem Wasser hinausgewandt. Jetzt brach ein
schluchzender Laut aus seiner Brust hervor, er barg sein Gesicht in die Hände
und vermochte nicht weiter zu sprechen. Doktor Carstens saß neben ihm und
blickte ernst zurück nach dem Hause, dessen Geheimnis ihm mit einemmale erschlossen
war. Vom Flutspiegel her kam ein Hauch, der die brennenden Wangen des
Alten und seines jungen Gastes kühlte. Eine tiefe Stille umfing beide, Doktor
Carstens war es zu Mut, als müsse er jeden Atemzug anhalten, um die Stim¬
mung des Augenblicks nicht zu stören. Endlich reichte Felice Constantini dem
jungen Deutschen die Hand und versuchte zu lächeln.

Verzeihen Sie mir, Signor Federigo! Solche Dinge behalten immer die
gleiche Gewalt über uns, die Jahre mildern nichts, und wir müssen uns ihnen
beinahe willenlos überlassen. Ich mutmaße, daß Sie den trauervollen Schluß
meiner Geschichte schon erraten haben. Zwei Tage nach jenem Abend harrte
ich in fröhlicher Zuversicht meiner jungen Frau, und als sie am versprochenen
Morgen nicht auf Torcello eintraf, beschwichtigte ich die Unruhe, die mich er-


Der neue Merlin.

Vier Monate dauerte die selige Zeit, in der ich mich vor aller Welt ver¬
gessen wähnte, außer von ihr. Im vierten Monat kam Gabriella häufiger, und
auf ihrem Gesicht lag ein himmlischer Ausdruck von Zuversicht und froher Er¬
wartung. Sie vertraute mir, daß die Maßregeln, die sie treffen mußte, um
sich und ihr Erbe aus der Gewalt der habsüchtigen Verwandten zu lösen, un¬
erwartet schnellen, glücklichen Fortgang hätten, daß mein Exil auf diesem Eiland
vielleicht nur noch nach Monaten und jedenfalls nicht nach Jahren zählen werde,
daß wir dann gemeinsam in die freie Welt, weit, weit in die Welt, wie sie
sagte, fliegen würden.

In so froher Zuversicht trat Gabriella auch das letztemal unter dies Dach!
Wo Sie vorhin mit Ihrer Geliebten standen, Signor Federigo, da lehnte ich
Arm in Arm mit ihr, in süßem Geplauder. Wie oft habe ich in der langen
Zeit, die seitdem verstrichen ist, mir das Hirn zermartert, mir jedes Wort jenes
Nachmittags ins Gedächtnis zurückzurufen. Aber wer prägt in der glücklichen
Stunde, der tausend gleiche Stunden folgen sollen, sich Wort um Wort ein?
Unvergessen lebt der hoffnungsfrohe Ton Gabriellas in meiner Seele, ich sehe
sie scheiden, da die Sonne auf dem Wasserspiegel im West zu ruhen scheint,
mein Arm liegt noch um ihren süßen, schlanken Leib, und ich geleite sie zwischen
Rebenfeldern bis zu den Steinstufen, wo ihre Gondel liegt. Sie küßt mich heiß,
noch einmal und zum letztenmal: Auf Wiedersehen, Felice! Und die Gondel
stößt ab, die heißgeliebte, holde Frau steht aufrecht in ihr und kehrt mir ihr
Gesicht zu, auf dem sich der rosige Wiederschein der Abendsonne und ein mutiges,
herzbeglückcndes Lächeln begegnen. Dann werden ihre Züge undeutlicher. Die
Gondel gleitet dahin und entschwindet langsam meinen Augen — ich sehe
Gabriellas Tuchweber — noch einmal — zum letztenmal!

Signor Constantini hatte die letzten Worte mit zitternder Stimme ge¬
sprochen, und sei» Gesicht nach dem Wasser hinausgewandt. Jetzt brach ein
schluchzender Laut aus seiner Brust hervor, er barg sein Gesicht in die Hände
und vermochte nicht weiter zu sprechen. Doktor Carstens saß neben ihm und
blickte ernst zurück nach dem Hause, dessen Geheimnis ihm mit einemmale erschlossen
war. Vom Flutspiegel her kam ein Hauch, der die brennenden Wangen des
Alten und seines jungen Gastes kühlte. Eine tiefe Stille umfing beide, Doktor
Carstens war es zu Mut, als müsse er jeden Atemzug anhalten, um die Stim¬
mung des Augenblicks nicht zu stören. Endlich reichte Felice Constantini dem
jungen Deutschen die Hand und versuchte zu lächeln.

Verzeihen Sie mir, Signor Federigo! Solche Dinge behalten immer die
gleiche Gewalt über uns, die Jahre mildern nichts, und wir müssen uns ihnen
beinahe willenlos überlassen. Ich mutmaße, daß Sie den trauervollen Schluß
meiner Geschichte schon erraten haben. Zwei Tage nach jenem Abend harrte
ich in fröhlicher Zuversicht meiner jungen Frau, und als sie am versprochenen
Morgen nicht auf Torcello eintraf, beschwichtigte ich die Unruhe, die mich er-


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[0702] Der neue Merlin. Vier Monate dauerte die selige Zeit, in der ich mich vor aller Welt ver¬ gessen wähnte, außer von ihr. Im vierten Monat kam Gabriella häufiger, und auf ihrem Gesicht lag ein himmlischer Ausdruck von Zuversicht und froher Er¬ wartung. Sie vertraute mir, daß die Maßregeln, die sie treffen mußte, um sich und ihr Erbe aus der Gewalt der habsüchtigen Verwandten zu lösen, un¬ erwartet schnellen, glücklichen Fortgang hätten, daß mein Exil auf diesem Eiland vielleicht nur noch nach Monaten und jedenfalls nicht nach Jahren zählen werde, daß wir dann gemeinsam in die freie Welt, weit, weit in die Welt, wie sie sagte, fliegen würden. In so froher Zuversicht trat Gabriella auch das letztemal unter dies Dach! Wo Sie vorhin mit Ihrer Geliebten standen, Signor Federigo, da lehnte ich Arm in Arm mit ihr, in süßem Geplauder. Wie oft habe ich in der langen Zeit, die seitdem verstrichen ist, mir das Hirn zermartert, mir jedes Wort jenes Nachmittags ins Gedächtnis zurückzurufen. Aber wer prägt in der glücklichen Stunde, der tausend gleiche Stunden folgen sollen, sich Wort um Wort ein? Unvergessen lebt der hoffnungsfrohe Ton Gabriellas in meiner Seele, ich sehe sie scheiden, da die Sonne auf dem Wasserspiegel im West zu ruhen scheint, mein Arm liegt noch um ihren süßen, schlanken Leib, und ich geleite sie zwischen Rebenfeldern bis zu den Steinstufen, wo ihre Gondel liegt. Sie küßt mich heiß, noch einmal und zum letztenmal: Auf Wiedersehen, Felice! Und die Gondel stößt ab, die heißgeliebte, holde Frau steht aufrecht in ihr und kehrt mir ihr Gesicht zu, auf dem sich der rosige Wiederschein der Abendsonne und ein mutiges, herzbeglückcndes Lächeln begegnen. Dann werden ihre Züge undeutlicher. Die Gondel gleitet dahin und entschwindet langsam meinen Augen — ich sehe Gabriellas Tuchweber — noch einmal — zum letztenmal! Signor Constantini hatte die letzten Worte mit zitternder Stimme ge¬ sprochen, und sei» Gesicht nach dem Wasser hinausgewandt. Jetzt brach ein schluchzender Laut aus seiner Brust hervor, er barg sein Gesicht in die Hände und vermochte nicht weiter zu sprechen. Doktor Carstens saß neben ihm und blickte ernst zurück nach dem Hause, dessen Geheimnis ihm mit einemmale erschlossen war. Vom Flutspiegel her kam ein Hauch, der die brennenden Wangen des Alten und seines jungen Gastes kühlte. Eine tiefe Stille umfing beide, Doktor Carstens war es zu Mut, als müsse er jeden Atemzug anhalten, um die Stim¬ mung des Augenblicks nicht zu stören. Endlich reichte Felice Constantini dem jungen Deutschen die Hand und versuchte zu lächeln. Verzeihen Sie mir, Signor Federigo! Solche Dinge behalten immer die gleiche Gewalt über uns, die Jahre mildern nichts, und wir müssen uns ihnen beinahe willenlos überlassen. Ich mutmaße, daß Sie den trauervollen Schluß meiner Geschichte schon erraten haben. Zwei Tage nach jenem Abend harrte ich in fröhlicher Zuversicht meiner jungen Frau, und als sie am versprochenen Morgen nicht auf Torcello eintraf, beschwichtigte ich die Unruhe, die mich er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/702>, abgerufen am 27.07.2024.