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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Neue Gedichte.

dessen die Menschheit auf keiner Höhe des Geistes zu entbehren vermag, immer
wieder, wie in der Jugend so im Alter, bekennt. Die künstlerische Form freilich,
in welcher diese Gesinnungen hier poetisch gefaßt werden, läßt auch für be¬
scheidene Ansprüche zu wünschen übrig, es sind in der umfangreichen Samm¬
lung viel schöne Stellen und einzelne poetische Bilder, aber kaum einige Dich¬
tungen vorhanden, die wir als vollendete und wirklich schöne Gedichte bezeichnen
könnten.

Unter den Sammlungen jüngerer Dichter enthält Mein Wanderfrüh¬
ling, Lieder und Gedichte von Max Brauer (Leipzig, Breitkopf und Härtel),
einige frische und anmutende Klänge, die größtenteils einer Wälschlcmdsfahrt
des wahrscheinlich noch jugendlichen Dichters entstammen. Derselbe hat übrigens
Ursache, sich vor der "Scheffelei" zu hüten, oder besser vor der Sorte von
gemachter Jugendlust, gemachter Wanderfreudc und gemachtem Liebessang,
welche sich in die gegenwärtige deutsche Lyrik hereiudrängt und, weil sie mit
einer gewissen Art von Sprachvirtuosität und fertiger Manier auftritt, nicht
so leicht als Dilettantismus erkannt werden kann wie das Stammeln der ly¬
rischen Unmündigkeit. -- Die Gedichte von Friedrich von Hoffs (Essen,
G. D. Bädeker) bieten ein paar hübsche Lieder, die freilich nur Wiederklang
tausendmal gesungener Weisen sind, ein prächtiges kleines Gedicht "Philoxenns,"
einige leidliche Übersetzungen und ganz unmögliche Zeitgedichte von 1870. Solcher
greuliche Basel wie das Gedicht: "Hui vivs? Werda" und so armselige Einfälle
wie "Kuckuck und Kutschte" hätten die große Erhebung von 1870 nie verunzieren
sollen. Wenn der Verfasser im ersten Entrüstnngsfieber sich vor dreizehn Jahren
Verse von diesem Kaliber:


Mit Kolbenstoß im Rücken wollt
Ihr übern Rhein uns schmeißen?
Ihr frechen Jungen, Girardins,
Da keimt ihr schlecht die Preußen

nicht glaubte versagen zu können, so brauchte" sie wenigstens nicht aus alten
Zeitungen wieder abgedruckt und in Goldschnitt gefaßt zu werden.

Unter den lyrisch-epischen Dichtungen erheben einige den Anspruch, wirk¬
liche Epen zu sein. So Melechsalci, ein romantisches Gedicht in elf Gesängen
von Albert Kellner (Berlin, Verlagsanstalt, 1883). Den Tenor dieser ro¬
mantischen je'reuzfahrergeschichtc lehrt gleich der Anfang kennen:


Vor des Allmachtgen Thron beschicken
Ward, da erfüllt der Jahre Maß.
Honorius, der lang hinieden
Auf der Apostel Stuhle saß.
Ihm folgt Gregor, ein Greis, obzwar
Ihm Willenskraft zu eigen war,
Trotz manchem Jüngling. Also gleich
Erhebt im ganzen Christenreich

Neue Gedichte.

dessen die Menschheit auf keiner Höhe des Geistes zu entbehren vermag, immer
wieder, wie in der Jugend so im Alter, bekennt. Die künstlerische Form freilich,
in welcher diese Gesinnungen hier poetisch gefaßt werden, läßt auch für be¬
scheidene Ansprüche zu wünschen übrig, es sind in der umfangreichen Samm¬
lung viel schöne Stellen und einzelne poetische Bilder, aber kaum einige Dich¬
tungen vorhanden, die wir als vollendete und wirklich schöne Gedichte bezeichnen
könnten.

Unter den Sammlungen jüngerer Dichter enthält Mein Wanderfrüh¬
ling, Lieder und Gedichte von Max Brauer (Leipzig, Breitkopf und Härtel),
einige frische und anmutende Klänge, die größtenteils einer Wälschlcmdsfahrt
des wahrscheinlich noch jugendlichen Dichters entstammen. Derselbe hat übrigens
Ursache, sich vor der „Scheffelei" zu hüten, oder besser vor der Sorte von
gemachter Jugendlust, gemachter Wanderfreudc und gemachtem Liebessang,
welche sich in die gegenwärtige deutsche Lyrik hereiudrängt und, weil sie mit
einer gewissen Art von Sprachvirtuosität und fertiger Manier auftritt, nicht
so leicht als Dilettantismus erkannt werden kann wie das Stammeln der ly¬
rischen Unmündigkeit. — Die Gedichte von Friedrich von Hoffs (Essen,
G. D. Bädeker) bieten ein paar hübsche Lieder, die freilich nur Wiederklang
tausendmal gesungener Weisen sind, ein prächtiges kleines Gedicht „Philoxenns,"
einige leidliche Übersetzungen und ganz unmögliche Zeitgedichte von 1870. Solcher
greuliche Basel wie das Gedicht: „Hui vivs? Werda" und so armselige Einfälle
wie „Kuckuck und Kutschte" hätten die große Erhebung von 1870 nie verunzieren
sollen. Wenn der Verfasser im ersten Entrüstnngsfieber sich vor dreizehn Jahren
Verse von diesem Kaliber:


Mit Kolbenstoß im Rücken wollt
Ihr übern Rhein uns schmeißen?
Ihr frechen Jungen, Girardins,
Da keimt ihr schlecht die Preußen

nicht glaubte versagen zu können, so brauchte» sie wenigstens nicht aus alten
Zeitungen wieder abgedruckt und in Goldschnitt gefaßt zu werden.

Unter den lyrisch-epischen Dichtungen erheben einige den Anspruch, wirk¬
liche Epen zu sein. So Melechsalci, ein romantisches Gedicht in elf Gesängen
von Albert Kellner (Berlin, Verlagsanstalt, 1883). Den Tenor dieser ro¬
mantischen je'reuzfahrergeschichtc lehrt gleich der Anfang kennen:


Vor des Allmachtgen Thron beschicken
Ward, da erfüllt der Jahre Maß.
Honorius, der lang hinieden
Auf der Apostel Stuhle saß.
Ihm folgt Gregor, ein Greis, obzwar
Ihm Willenskraft zu eigen war,
Trotz manchem Jüngling. Also gleich
Erhebt im ganzen Christenreich

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[0689] Neue Gedichte. dessen die Menschheit auf keiner Höhe des Geistes zu entbehren vermag, immer wieder, wie in der Jugend so im Alter, bekennt. Die künstlerische Form freilich, in welcher diese Gesinnungen hier poetisch gefaßt werden, läßt auch für be¬ scheidene Ansprüche zu wünschen übrig, es sind in der umfangreichen Samm¬ lung viel schöne Stellen und einzelne poetische Bilder, aber kaum einige Dich¬ tungen vorhanden, die wir als vollendete und wirklich schöne Gedichte bezeichnen könnten. Unter den Sammlungen jüngerer Dichter enthält Mein Wanderfrüh¬ ling, Lieder und Gedichte von Max Brauer (Leipzig, Breitkopf und Härtel), einige frische und anmutende Klänge, die größtenteils einer Wälschlcmdsfahrt des wahrscheinlich noch jugendlichen Dichters entstammen. Derselbe hat übrigens Ursache, sich vor der „Scheffelei" zu hüten, oder besser vor der Sorte von gemachter Jugendlust, gemachter Wanderfreudc und gemachtem Liebessang, welche sich in die gegenwärtige deutsche Lyrik hereiudrängt und, weil sie mit einer gewissen Art von Sprachvirtuosität und fertiger Manier auftritt, nicht so leicht als Dilettantismus erkannt werden kann wie das Stammeln der ly¬ rischen Unmündigkeit. — Die Gedichte von Friedrich von Hoffs (Essen, G. D. Bädeker) bieten ein paar hübsche Lieder, die freilich nur Wiederklang tausendmal gesungener Weisen sind, ein prächtiges kleines Gedicht „Philoxenns," einige leidliche Übersetzungen und ganz unmögliche Zeitgedichte von 1870. Solcher greuliche Basel wie das Gedicht: „Hui vivs? Werda" und so armselige Einfälle wie „Kuckuck und Kutschte" hätten die große Erhebung von 1870 nie verunzieren sollen. Wenn der Verfasser im ersten Entrüstnngsfieber sich vor dreizehn Jahren Verse von diesem Kaliber: Mit Kolbenstoß im Rücken wollt Ihr übern Rhein uns schmeißen? Ihr frechen Jungen, Girardins, Da keimt ihr schlecht die Preußen nicht glaubte versagen zu können, so brauchte» sie wenigstens nicht aus alten Zeitungen wieder abgedruckt und in Goldschnitt gefaßt zu werden. Unter den lyrisch-epischen Dichtungen erheben einige den Anspruch, wirk¬ liche Epen zu sein. So Melechsalci, ein romantisches Gedicht in elf Gesängen von Albert Kellner (Berlin, Verlagsanstalt, 1883). Den Tenor dieser ro¬ mantischen je'reuzfahrergeschichtc lehrt gleich der Anfang kennen: Vor des Allmachtgen Thron beschicken Ward, da erfüllt der Jahre Maß. Honorius, der lang hinieden Auf der Apostel Stuhle saß. Ihm folgt Gregor, ein Greis, obzwar Ihm Willenskraft zu eigen war, Trotz manchem Jüngling. Also gleich Erhebt im ganzen Christenreich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/689>, abgerufen am 28.07.2024.