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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Linne Zola.

Naturalismus sei, der Natur den Spiegel vorhalten, so kommen wir dahin,
bekennen zu müssen, daß jeder Dichter, wie überhaupt jeder Künstler, Naturalist
sei. Denn sie halten alle insofern der Natur den Spiegel vor, als sie die Er¬
scheinungen der Welt so wiedergeben, wie sie sich in ihrem Kopfe spiegeln. Nur
bestehen zwischen den verschiedenen Spiegelbildern große Unterschiede. Die ganz
unbedeutenden Künstler geben flache, schiefe, verzerrte Bilder gemäß ihrem wenig
befähigten und unharmonischen Geiste, die mittelmüßigen geben solche Bilder,
welche der Menge als gut und richtig erscheinen, die großen Künstler aber
geben, ihrem umfassenden und in die Tiefe blickenden Genius gemäß, wundervoll
tiefe, harmonische und schöne Bilder, sodaß nur die bedeutenderen Geister im¬
stande sind, darin die Welt wieder zu erblicken. Zola aber will etwas beson¬
deres sein, indem er sich Naturalist nennt, und alle Naturalisten wollen etwas
besondres sein. Sie wenden sich nämlich gegen diejenigen, welche sie Roman¬
tiker nennen, und behaupten, daß dies Schönfärber seien und in einer erträumten
Welt lebten, während sie, die Naturalisten, der Wahrheit huldigten. Die Wahr¬
heit aber, sagen sie, biete keinen schönen Anblick.

In dieser Meinung hat Zola Romane geschrieben, in welchen er die fran¬
zösische Gesellschaft geißelt, "ut besonders sind hier drei Romane zu nennen:
^.88onunoir, worin er das arme Volk der Großstadt, ?ot-Loui11s, worin er den
Vürgerstand, und Mna,, worin er die Aristokratie darstellt. Diese drei Romane
schildern das ganze Volk, insofern es seine Blüte und Krone in der Hauptstadt
entfaltet, als durchaus verdorben, und bilden ein geschlossenes Ganzes, worin
Zolas Anschauung sich rein und unverfälscht ausprägt. Er hat zwar noch
andre Romane geschrieben und z. B. das LouKsur ass Vg,in68 auf ?0t-L0ni11s
folgen lassen, aber er hat damit wohl nur der lastenden Wucht der allgemeinen
Entrüstung nachgegeben und etwas gegen sich selbst gesündigt, denn die Schil¬
derungen im LoMsur sind schwach, schattenhaft und charakterlos im Vergleich
zu der Energie, mit welcher jene drei Romane durchgeführt sind.

Also die Wahrheit, die ungeschminkte Wahrheit will Zola über die fran¬
zösische Gesellschaft sage". Das ^ssommoir ist eine Schenke in der Vorstadt,
welche vom armen Volke besucht wird, und sie dient ihm als Beispiel, um zu
zeigen, daß der Branntwein das arme Volk frißt. Er stellt das Volk dar als
eine Herde unmündiger Geschöpfe, eben über den Standpunkt des Menschen¬
affen hinausgewachsen, ohne jeden Sinn für Geistiges, allein auf die Erhaltung
und die Fortpflanzung des Lebens bedacht, in enger Arbeit gebunden und der
Verführung zum Trunke schutzlos ausgesetzt. Die Heldin des Romans ist eine
hübsche, gute und fleißige Person, welche aus Charakterschwäche, während sie
doch über ihre Pflicht hinaus brav ist, der allgemeinen moralischen Krankheit
zum Opfer fällt und gleich ihrem Gatten am Trunke stirbt. In ?ot-LouiIIs
wird der Bürgerstand insofern als dem Proletariat ähnlich gezeichnet, als auch
hier die beiden einzigen Hebel der Ereignisse der Trieb der Ernährung und der


Linne Zola.

Naturalismus sei, der Natur den Spiegel vorhalten, so kommen wir dahin,
bekennen zu müssen, daß jeder Dichter, wie überhaupt jeder Künstler, Naturalist
sei. Denn sie halten alle insofern der Natur den Spiegel vor, als sie die Er¬
scheinungen der Welt so wiedergeben, wie sie sich in ihrem Kopfe spiegeln. Nur
bestehen zwischen den verschiedenen Spiegelbildern große Unterschiede. Die ganz
unbedeutenden Künstler geben flache, schiefe, verzerrte Bilder gemäß ihrem wenig
befähigten und unharmonischen Geiste, die mittelmüßigen geben solche Bilder,
welche der Menge als gut und richtig erscheinen, die großen Künstler aber
geben, ihrem umfassenden und in die Tiefe blickenden Genius gemäß, wundervoll
tiefe, harmonische und schöne Bilder, sodaß nur die bedeutenderen Geister im¬
stande sind, darin die Welt wieder zu erblicken. Zola aber will etwas beson¬
deres sein, indem er sich Naturalist nennt, und alle Naturalisten wollen etwas
besondres sein. Sie wenden sich nämlich gegen diejenigen, welche sie Roman¬
tiker nennen, und behaupten, daß dies Schönfärber seien und in einer erträumten
Welt lebten, während sie, die Naturalisten, der Wahrheit huldigten. Die Wahr¬
heit aber, sagen sie, biete keinen schönen Anblick.

In dieser Meinung hat Zola Romane geschrieben, in welchen er die fran¬
zösische Gesellschaft geißelt, »ut besonders sind hier drei Romane zu nennen:
^.88onunoir, worin er das arme Volk der Großstadt, ?ot-Loui11s, worin er den
Vürgerstand, und Mna,, worin er die Aristokratie darstellt. Diese drei Romane
schildern das ganze Volk, insofern es seine Blüte und Krone in der Hauptstadt
entfaltet, als durchaus verdorben, und bilden ein geschlossenes Ganzes, worin
Zolas Anschauung sich rein und unverfälscht ausprägt. Er hat zwar noch
andre Romane geschrieben und z. B. das LouKsur ass Vg,in68 auf ?0t-L0ni11s
folgen lassen, aber er hat damit wohl nur der lastenden Wucht der allgemeinen
Entrüstung nachgegeben und etwas gegen sich selbst gesündigt, denn die Schil¬
derungen im LoMsur sind schwach, schattenhaft und charakterlos im Vergleich
zu der Energie, mit welcher jene drei Romane durchgeführt sind.

Also die Wahrheit, die ungeschminkte Wahrheit will Zola über die fran¬
zösische Gesellschaft sage». Das ^ssommoir ist eine Schenke in der Vorstadt,
welche vom armen Volke besucht wird, und sie dient ihm als Beispiel, um zu
zeigen, daß der Branntwein das arme Volk frißt. Er stellt das Volk dar als
eine Herde unmündiger Geschöpfe, eben über den Standpunkt des Menschen¬
affen hinausgewachsen, ohne jeden Sinn für Geistiges, allein auf die Erhaltung
und die Fortpflanzung des Lebens bedacht, in enger Arbeit gebunden und der
Verführung zum Trunke schutzlos ausgesetzt. Die Heldin des Romans ist eine
hübsche, gute und fleißige Person, welche aus Charakterschwäche, während sie
doch über ihre Pflicht hinaus brav ist, der allgemeinen moralischen Krankheit
zum Opfer fällt und gleich ihrem Gatten am Trunke stirbt. In ?ot-LouiIIs
wird der Bürgerstand insofern als dem Proletariat ähnlich gezeichnet, als auch
hier die beiden einzigen Hebel der Ereignisse der Trieb der Ernährung und der


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[0626] Linne Zola. Naturalismus sei, der Natur den Spiegel vorhalten, so kommen wir dahin, bekennen zu müssen, daß jeder Dichter, wie überhaupt jeder Künstler, Naturalist sei. Denn sie halten alle insofern der Natur den Spiegel vor, als sie die Er¬ scheinungen der Welt so wiedergeben, wie sie sich in ihrem Kopfe spiegeln. Nur bestehen zwischen den verschiedenen Spiegelbildern große Unterschiede. Die ganz unbedeutenden Künstler geben flache, schiefe, verzerrte Bilder gemäß ihrem wenig befähigten und unharmonischen Geiste, die mittelmüßigen geben solche Bilder, welche der Menge als gut und richtig erscheinen, die großen Künstler aber geben, ihrem umfassenden und in die Tiefe blickenden Genius gemäß, wundervoll tiefe, harmonische und schöne Bilder, sodaß nur die bedeutenderen Geister im¬ stande sind, darin die Welt wieder zu erblicken. Zola aber will etwas beson¬ deres sein, indem er sich Naturalist nennt, und alle Naturalisten wollen etwas besondres sein. Sie wenden sich nämlich gegen diejenigen, welche sie Roman¬ tiker nennen, und behaupten, daß dies Schönfärber seien und in einer erträumten Welt lebten, während sie, die Naturalisten, der Wahrheit huldigten. Die Wahr¬ heit aber, sagen sie, biete keinen schönen Anblick. In dieser Meinung hat Zola Romane geschrieben, in welchen er die fran¬ zösische Gesellschaft geißelt, »ut besonders sind hier drei Romane zu nennen: ^.88onunoir, worin er das arme Volk der Großstadt, ?ot-Loui11s, worin er den Vürgerstand, und Mna,, worin er die Aristokratie darstellt. Diese drei Romane schildern das ganze Volk, insofern es seine Blüte und Krone in der Hauptstadt entfaltet, als durchaus verdorben, und bilden ein geschlossenes Ganzes, worin Zolas Anschauung sich rein und unverfälscht ausprägt. Er hat zwar noch andre Romane geschrieben und z. B. das LouKsur ass Vg,in68 auf ?0t-L0ni11s folgen lassen, aber er hat damit wohl nur der lastenden Wucht der allgemeinen Entrüstung nachgegeben und etwas gegen sich selbst gesündigt, denn die Schil¬ derungen im LoMsur sind schwach, schattenhaft und charakterlos im Vergleich zu der Energie, mit welcher jene drei Romane durchgeführt sind. Also die Wahrheit, die ungeschminkte Wahrheit will Zola über die fran¬ zösische Gesellschaft sage». Das ^ssommoir ist eine Schenke in der Vorstadt, welche vom armen Volke besucht wird, und sie dient ihm als Beispiel, um zu zeigen, daß der Branntwein das arme Volk frißt. Er stellt das Volk dar als eine Herde unmündiger Geschöpfe, eben über den Standpunkt des Menschen¬ affen hinausgewachsen, ohne jeden Sinn für Geistiges, allein auf die Erhaltung und die Fortpflanzung des Lebens bedacht, in enger Arbeit gebunden und der Verführung zum Trunke schutzlos ausgesetzt. Die Heldin des Romans ist eine hübsche, gute und fleißige Person, welche aus Charakterschwäche, während sie doch über ihre Pflicht hinaus brav ist, der allgemeinen moralischen Krankheit zum Opfer fällt und gleich ihrem Gatten am Trunke stirbt. In ?ot-LouiIIs wird der Bürgerstand insofern als dem Proletariat ähnlich gezeichnet, als auch hier die beiden einzigen Hebel der Ereignisse der Trieb der Ernährung und der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/626>, abgerufen am 01.09.2024.