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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Linne Zola.

diejenige Lektüre für die beste hält, welche ihm am besten gefällt, und das; ihm
diejenige am besten gefällt, welche seinem eigne" Denken am verwandtesten ist.
Nun hat die Natur es aber so eingerichtet, daß in allen Dingen das mittlere
Maß weitaus am meisten vorkommt. Sehr wenige Leute haben ganz kleine,
sehr wenige Leute ganz große Nasen, die meisten haben eine Nase von mittlerer
Größe. Es giebt äußerst wenig Riesen in der Welt und äußerst wenig Zwerge.
Sehr wenige Frauen sind von vollkommener Schönheit und sehr wenige durchaus
häßlich, die meisten sind so gestaltet, daß das Auge ihren Anblick gern erträgt, ohne
gerade in Entzücken zu geraten. So sind auch sehr wenige Leute ganz schlecht und sehr
wenige ganz gut, bei den meisten steht es mit der Tugend wie mit dem Gelde: sie
haben davon gerade soviel, um sich ehrlich durchbringen zu können. Und so ist es
denn auch mit der Einsicht. Wenige sind ganz dumm, wenige ganz gescheit, die meisten
haben eine mittelmäßige Dosis von Verstand bekommen. Da nun jeder das
ihm Ähnliche bevorzugt, so ist es klar, daß es weder die guten noch die schlechten
Bücher sind, welche viel und gern gelesen werden, sondern eben die mittelmäßigen.
Das wissen auch die beliebten Autoren sehr gut, und sowohl Gustav Freytag
wie Georg Ebers, sowohl Felix Decbr wie Friedrich Spielhagen verbergen sorg¬
fältig die tiefe Erkenntnis und die weisheitsvolle Schöpfungskraft ihres über¬
legenen Geistes, machen dem Publikum allerhand gefällige Scherze vor und
erzählen ihm Geschichten, die es versteht, weil sie nicht Lust haben, gleich
Shakespeare und Goethe auf einsamer Höhe zu thronen. Denn was wir unter
wirklich guten Geisteswerkcn zu verstehen haben, das ist sehr leicht und einfach
zu sagen: Es sind solche Werke, welche erst nach dem Tode ihrer Urheber in
weitern Kreisen genannt werden und dann im Laufe der Jahrhunderte zu wachsen
anfangen, gleich den hohen Thürmen der Dome, die erst dem Auge des Fern¬
stehenden kenntlich aus der Häusermasse emporragen. Denn die Zeit bringt den
Wert aller Dinge ans Licht. Sie ist die Mutter der Wahrheit.

So können wir auch wohl von Zola getrosten Mutes sagen: seine Romane
können weder ganz gut noch ganz schlecht sein; sie würden sonst nicht soviel
gelesen werden. Nur wollen wir uns mit diesem so ganz allgemeinen Urteil
nicht begnügen, sondern die Eigenart dieses Schriftstellers näher untersuchen,
um zu sehen, in welcher Weise er denn lesenswert ist, was ihn über die gewöhn¬
lichen Romanschreiber erhebt und worin er hinter großen Dichtern und tiefen
Denkern zurücksteht.

Zola nennt sich selbst einen Naturalisten, und er hat auch über das Wesen
des Naturalismus geschrieben. Doch wollen wir hier seine Ansichten nicht be¬
rücksichtigen, da er ja hierbei in eigner Sache kämpft, sondern wir wollen ihn
nach seinen Werken, nach feinen Romanen beurteilen, dem Spruche gemäß, daß
der Baum an seinen Früchten zu erkennen ist. Mit dem Naturalismus nämlich
ist es eine eigne Sache, und nicht eben leicht offenbart sich sein eigentliches
Wesen dein suchenden Blicke. Wollen wir ihn so verstehen, daß es heißen soll,


Linne Zola.

diejenige Lektüre für die beste hält, welche ihm am besten gefällt, und das; ihm
diejenige am besten gefällt, welche seinem eigne» Denken am verwandtesten ist.
Nun hat die Natur es aber so eingerichtet, daß in allen Dingen das mittlere
Maß weitaus am meisten vorkommt. Sehr wenige Leute haben ganz kleine,
sehr wenige Leute ganz große Nasen, die meisten haben eine Nase von mittlerer
Größe. Es giebt äußerst wenig Riesen in der Welt und äußerst wenig Zwerge.
Sehr wenige Frauen sind von vollkommener Schönheit und sehr wenige durchaus
häßlich, die meisten sind so gestaltet, daß das Auge ihren Anblick gern erträgt, ohne
gerade in Entzücken zu geraten. So sind auch sehr wenige Leute ganz schlecht und sehr
wenige ganz gut, bei den meisten steht es mit der Tugend wie mit dem Gelde: sie
haben davon gerade soviel, um sich ehrlich durchbringen zu können. Und so ist es
denn auch mit der Einsicht. Wenige sind ganz dumm, wenige ganz gescheit, die meisten
haben eine mittelmäßige Dosis von Verstand bekommen. Da nun jeder das
ihm Ähnliche bevorzugt, so ist es klar, daß es weder die guten noch die schlechten
Bücher sind, welche viel und gern gelesen werden, sondern eben die mittelmäßigen.
Das wissen auch die beliebten Autoren sehr gut, und sowohl Gustav Freytag
wie Georg Ebers, sowohl Felix Decbr wie Friedrich Spielhagen verbergen sorg¬
fältig die tiefe Erkenntnis und die weisheitsvolle Schöpfungskraft ihres über¬
legenen Geistes, machen dem Publikum allerhand gefällige Scherze vor und
erzählen ihm Geschichten, die es versteht, weil sie nicht Lust haben, gleich
Shakespeare und Goethe auf einsamer Höhe zu thronen. Denn was wir unter
wirklich guten Geisteswerkcn zu verstehen haben, das ist sehr leicht und einfach
zu sagen: Es sind solche Werke, welche erst nach dem Tode ihrer Urheber in
weitern Kreisen genannt werden und dann im Laufe der Jahrhunderte zu wachsen
anfangen, gleich den hohen Thürmen der Dome, die erst dem Auge des Fern¬
stehenden kenntlich aus der Häusermasse emporragen. Denn die Zeit bringt den
Wert aller Dinge ans Licht. Sie ist die Mutter der Wahrheit.

So können wir auch wohl von Zola getrosten Mutes sagen: seine Romane
können weder ganz gut noch ganz schlecht sein; sie würden sonst nicht soviel
gelesen werden. Nur wollen wir uns mit diesem so ganz allgemeinen Urteil
nicht begnügen, sondern die Eigenart dieses Schriftstellers näher untersuchen,
um zu sehen, in welcher Weise er denn lesenswert ist, was ihn über die gewöhn¬
lichen Romanschreiber erhebt und worin er hinter großen Dichtern und tiefen
Denkern zurücksteht.

Zola nennt sich selbst einen Naturalisten, und er hat auch über das Wesen
des Naturalismus geschrieben. Doch wollen wir hier seine Ansichten nicht be¬
rücksichtigen, da er ja hierbei in eigner Sache kämpft, sondern wir wollen ihn
nach seinen Werken, nach feinen Romanen beurteilen, dem Spruche gemäß, daß
der Baum an seinen Früchten zu erkennen ist. Mit dem Naturalismus nämlich
ist es eine eigne Sache, und nicht eben leicht offenbart sich sein eigentliches
Wesen dein suchenden Blicke. Wollen wir ihn so verstehen, daß es heißen soll,


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[0625] Linne Zola. diejenige Lektüre für die beste hält, welche ihm am besten gefällt, und das; ihm diejenige am besten gefällt, welche seinem eigne» Denken am verwandtesten ist. Nun hat die Natur es aber so eingerichtet, daß in allen Dingen das mittlere Maß weitaus am meisten vorkommt. Sehr wenige Leute haben ganz kleine, sehr wenige Leute ganz große Nasen, die meisten haben eine Nase von mittlerer Größe. Es giebt äußerst wenig Riesen in der Welt und äußerst wenig Zwerge. Sehr wenige Frauen sind von vollkommener Schönheit und sehr wenige durchaus häßlich, die meisten sind so gestaltet, daß das Auge ihren Anblick gern erträgt, ohne gerade in Entzücken zu geraten. So sind auch sehr wenige Leute ganz schlecht und sehr wenige ganz gut, bei den meisten steht es mit der Tugend wie mit dem Gelde: sie haben davon gerade soviel, um sich ehrlich durchbringen zu können. Und so ist es denn auch mit der Einsicht. Wenige sind ganz dumm, wenige ganz gescheit, die meisten haben eine mittelmäßige Dosis von Verstand bekommen. Da nun jeder das ihm Ähnliche bevorzugt, so ist es klar, daß es weder die guten noch die schlechten Bücher sind, welche viel und gern gelesen werden, sondern eben die mittelmäßigen. Das wissen auch die beliebten Autoren sehr gut, und sowohl Gustav Freytag wie Georg Ebers, sowohl Felix Decbr wie Friedrich Spielhagen verbergen sorg¬ fältig die tiefe Erkenntnis und die weisheitsvolle Schöpfungskraft ihres über¬ legenen Geistes, machen dem Publikum allerhand gefällige Scherze vor und erzählen ihm Geschichten, die es versteht, weil sie nicht Lust haben, gleich Shakespeare und Goethe auf einsamer Höhe zu thronen. Denn was wir unter wirklich guten Geisteswerkcn zu verstehen haben, das ist sehr leicht und einfach zu sagen: Es sind solche Werke, welche erst nach dem Tode ihrer Urheber in weitern Kreisen genannt werden und dann im Laufe der Jahrhunderte zu wachsen anfangen, gleich den hohen Thürmen der Dome, die erst dem Auge des Fern¬ stehenden kenntlich aus der Häusermasse emporragen. Denn die Zeit bringt den Wert aller Dinge ans Licht. Sie ist die Mutter der Wahrheit. So können wir auch wohl von Zola getrosten Mutes sagen: seine Romane können weder ganz gut noch ganz schlecht sein; sie würden sonst nicht soviel gelesen werden. Nur wollen wir uns mit diesem so ganz allgemeinen Urteil nicht begnügen, sondern die Eigenart dieses Schriftstellers näher untersuchen, um zu sehen, in welcher Weise er denn lesenswert ist, was ihn über die gewöhn¬ lichen Romanschreiber erhebt und worin er hinter großen Dichtern und tiefen Denkern zurücksteht. Zola nennt sich selbst einen Naturalisten, und er hat auch über das Wesen des Naturalismus geschrieben. Doch wollen wir hier seine Ansichten nicht be¬ rücksichtigen, da er ja hierbei in eigner Sache kämpft, sondern wir wollen ihn nach seinen Werken, nach feinen Romanen beurteilen, dem Spruche gemäß, daß der Baum an seinen Früchten zu erkennen ist. Mit dem Naturalismus nämlich ist es eine eigne Sache, und nicht eben leicht offenbart sich sein eigentliches Wesen dein suchenden Blicke. Wollen wir ihn so verstehen, daß es heißen soll,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/625>, abgerufen am 27.07.2024.