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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Wahrheit über die Katastrophe von Jena.

hätten sie sich bemühen sollen, am Feinde neues zu lernen, hätten sie darnach
trachten sollen, zu erraten, was ein andrer Friedrich in der Zeit nach der großen
Revolution gethan haben würde. Ein solcher hätte ohne Zweifel angesichts der
französischen Konskription die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und den fran¬
zösischen Tirailleurs vor den Kolonnen preußische Schützenschwärme vor Linien
entgegengestellt. "Wiederum darf man sagen: wenn sich die Armee in weitem
Kreisen und mit mehr Offenheit an die Frage: wie wird es uns ergehen? ge¬
wagt hätte, so würde sich vielleicht auch jener neue Friedrich gefunden haben;
gewiß wären Männer wie Scharnhorst, der auf dem richtigen Wege war, da¬
durch zu kühnerem Schritten gefördert worden. Niemals werden, wo nicht ein
großes, alles bewegendes Genie an der Spitze steht, reformatorische Ideen zur
Entwicklung ihrer letzten Konsequenzen und zu voller Kraft gelangen ohne einen
allgemeinen Gährungsprozeß. Sache des einzelnen entschlossenen Willens sind
hingegen die Maßregeln, welche jener Prozeß als die zweckmäßigsten hat er¬
kennen lassen. Es hätte nach des großen Königs Tode nicht gegolten, unter
allen Umstünden seinen Echelonangriff zu erhalten, wohl aber seine freie Art
zu denken, die wahrhaft königliche Unabhängigkeit seines Urteils, die es verstand,
zu rechter Stunde sich vom rein preußischen Standpunkte loszulösen und sich
selbst und den Gegner mit ungetrübtem Blicke zu mustern. Das wäre die beste
Art gewesen, das Andenken an die Thaten Friedrichs zu ehren. Die verkehrte
Weise, in der dies geschah, schließt die Reihe der hier zu untersuchenden Ur¬
sachen ab."

Der Verfasser entnimmt seiner an Taines vortreffliches Werk über Ur¬
sachen und Gang der Revolution von 1789 erinnernden Betrachtung der Kata¬
strophe von 1806 und ihrer Vorgeschichte zwei beherzigenswerte Lehren, die wir
mit einigen Kürzungen in seinen eignen Worten folgen lassen. "Die erste ist, daß
die große Katastrophe nicht einer Armee begegnete, welche innerlich und äußer¬
lich faul war, sondern daß sie ein im ganzen fleißiges, ordentliches, williges
Heer betraf, welches gehörig geputzt, gestriegelt, gebürstet, überwacht und geübt
wurde, in welchen" man dachte, arbeitete, überlegte, diftelte und schrieb wie mir je¬
mals in einem Heere... Es ist keineswegs notwendig, daß der Verfall bis zu
offenbarer Verwahrlosung fortschreitet, ehe die Möglichkeit einer Niederlage ein¬
tritt; vielmehr kann diese auch einer Armee zustoßen, die treffliche Revüen und
Parademanöver macht, den strengsten Anforderungen an Exerzierausbildung
genügt, schneller, prompter, exakter ist als andre, wenn sie darüber die natür¬
lichen und nach den Umständen ewig wechselnden Bedingungen für den Erfolg
im Kriege verkennt. Die zweite Lehre ist nicht minder wahr. In der schnellen
Erhebung Preußens nach dem tiefen Falle liegt ein großer Trost. Aber leicht
kann man sich dadurch verführen lassen, zu glauben, es habe eben nur des tiefen
Falles bedurft, um die Kräfte zu wecken und in sechs Jahren ein siegreiches
Heer entstehen zu lassen. Gewiß, die trüben Erfahrungen haben viel dazu ge-


Die Wahrheit über die Katastrophe von Jena.

hätten sie sich bemühen sollen, am Feinde neues zu lernen, hätten sie darnach
trachten sollen, zu erraten, was ein andrer Friedrich in der Zeit nach der großen
Revolution gethan haben würde. Ein solcher hätte ohne Zweifel angesichts der
französischen Konskription die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und den fran¬
zösischen Tirailleurs vor den Kolonnen preußische Schützenschwärme vor Linien
entgegengestellt. „Wiederum darf man sagen: wenn sich die Armee in weitem
Kreisen und mit mehr Offenheit an die Frage: wie wird es uns ergehen? ge¬
wagt hätte, so würde sich vielleicht auch jener neue Friedrich gefunden haben;
gewiß wären Männer wie Scharnhorst, der auf dem richtigen Wege war, da¬
durch zu kühnerem Schritten gefördert worden. Niemals werden, wo nicht ein
großes, alles bewegendes Genie an der Spitze steht, reformatorische Ideen zur
Entwicklung ihrer letzten Konsequenzen und zu voller Kraft gelangen ohne einen
allgemeinen Gährungsprozeß. Sache des einzelnen entschlossenen Willens sind
hingegen die Maßregeln, welche jener Prozeß als die zweckmäßigsten hat er¬
kennen lassen. Es hätte nach des großen Königs Tode nicht gegolten, unter
allen Umstünden seinen Echelonangriff zu erhalten, wohl aber seine freie Art
zu denken, die wahrhaft königliche Unabhängigkeit seines Urteils, die es verstand,
zu rechter Stunde sich vom rein preußischen Standpunkte loszulösen und sich
selbst und den Gegner mit ungetrübtem Blicke zu mustern. Das wäre die beste
Art gewesen, das Andenken an die Thaten Friedrichs zu ehren. Die verkehrte
Weise, in der dies geschah, schließt die Reihe der hier zu untersuchenden Ur¬
sachen ab."

Der Verfasser entnimmt seiner an Taines vortreffliches Werk über Ur¬
sachen und Gang der Revolution von 1789 erinnernden Betrachtung der Kata¬
strophe von 1806 und ihrer Vorgeschichte zwei beherzigenswerte Lehren, die wir
mit einigen Kürzungen in seinen eignen Worten folgen lassen. „Die erste ist, daß
die große Katastrophe nicht einer Armee begegnete, welche innerlich und äußer¬
lich faul war, sondern daß sie ein im ganzen fleißiges, ordentliches, williges
Heer betraf, welches gehörig geputzt, gestriegelt, gebürstet, überwacht und geübt
wurde, in welchen« man dachte, arbeitete, überlegte, diftelte und schrieb wie mir je¬
mals in einem Heere... Es ist keineswegs notwendig, daß der Verfall bis zu
offenbarer Verwahrlosung fortschreitet, ehe die Möglichkeit einer Niederlage ein¬
tritt; vielmehr kann diese auch einer Armee zustoßen, die treffliche Revüen und
Parademanöver macht, den strengsten Anforderungen an Exerzierausbildung
genügt, schneller, prompter, exakter ist als andre, wenn sie darüber die natür¬
lichen und nach den Umständen ewig wechselnden Bedingungen für den Erfolg
im Kriege verkennt. Die zweite Lehre ist nicht minder wahr. In der schnellen
Erhebung Preußens nach dem tiefen Falle liegt ein großer Trost. Aber leicht
kann man sich dadurch verführen lassen, zu glauben, es habe eben nur des tiefen
Falles bedurft, um die Kräfte zu wecken und in sechs Jahren ein siegreiches
Heer entstehen zu lassen. Gewiß, die trüben Erfahrungen haben viel dazu ge-


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[0622] Die Wahrheit über die Katastrophe von Jena. hätten sie sich bemühen sollen, am Feinde neues zu lernen, hätten sie darnach trachten sollen, zu erraten, was ein andrer Friedrich in der Zeit nach der großen Revolution gethan haben würde. Ein solcher hätte ohne Zweifel angesichts der französischen Konskription die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und den fran¬ zösischen Tirailleurs vor den Kolonnen preußische Schützenschwärme vor Linien entgegengestellt. „Wiederum darf man sagen: wenn sich die Armee in weitem Kreisen und mit mehr Offenheit an die Frage: wie wird es uns ergehen? ge¬ wagt hätte, so würde sich vielleicht auch jener neue Friedrich gefunden haben; gewiß wären Männer wie Scharnhorst, der auf dem richtigen Wege war, da¬ durch zu kühnerem Schritten gefördert worden. Niemals werden, wo nicht ein großes, alles bewegendes Genie an der Spitze steht, reformatorische Ideen zur Entwicklung ihrer letzten Konsequenzen und zu voller Kraft gelangen ohne einen allgemeinen Gährungsprozeß. Sache des einzelnen entschlossenen Willens sind hingegen die Maßregeln, welche jener Prozeß als die zweckmäßigsten hat er¬ kennen lassen. Es hätte nach des großen Königs Tode nicht gegolten, unter allen Umstünden seinen Echelonangriff zu erhalten, wohl aber seine freie Art zu denken, die wahrhaft königliche Unabhängigkeit seines Urteils, die es verstand, zu rechter Stunde sich vom rein preußischen Standpunkte loszulösen und sich selbst und den Gegner mit ungetrübtem Blicke zu mustern. Das wäre die beste Art gewesen, das Andenken an die Thaten Friedrichs zu ehren. Die verkehrte Weise, in der dies geschah, schließt die Reihe der hier zu untersuchenden Ur¬ sachen ab." Der Verfasser entnimmt seiner an Taines vortreffliches Werk über Ur¬ sachen und Gang der Revolution von 1789 erinnernden Betrachtung der Kata¬ strophe von 1806 und ihrer Vorgeschichte zwei beherzigenswerte Lehren, die wir mit einigen Kürzungen in seinen eignen Worten folgen lassen. „Die erste ist, daß die große Katastrophe nicht einer Armee begegnete, welche innerlich und äußer¬ lich faul war, sondern daß sie ein im ganzen fleißiges, ordentliches, williges Heer betraf, welches gehörig geputzt, gestriegelt, gebürstet, überwacht und geübt wurde, in welchen« man dachte, arbeitete, überlegte, diftelte und schrieb wie mir je¬ mals in einem Heere... Es ist keineswegs notwendig, daß der Verfall bis zu offenbarer Verwahrlosung fortschreitet, ehe die Möglichkeit einer Niederlage ein¬ tritt; vielmehr kann diese auch einer Armee zustoßen, die treffliche Revüen und Parademanöver macht, den strengsten Anforderungen an Exerzierausbildung genügt, schneller, prompter, exakter ist als andre, wenn sie darüber die natür¬ lichen und nach den Umständen ewig wechselnden Bedingungen für den Erfolg im Kriege verkennt. Die zweite Lehre ist nicht minder wahr. In der schnellen Erhebung Preußens nach dem tiefen Falle liegt ein großer Trost. Aber leicht kann man sich dadurch verführen lassen, zu glauben, es habe eben nur des tiefen Falles bedurft, um die Kräfte zu wecken und in sechs Jahren ein siegreiches Heer entstehen zu lassen. Gewiß, die trüben Erfahrungen haben viel dazu ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/622>, abgerufen am 27.07.2024.