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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Wahrheit über die Katastrophe von Jena.

Während der Zivilist es für natürlich hielt, daß die Armee ihn im Kriege
vor Schaden zu schützen habe, hatte die Staatsbehörde allen Glauben an ihr
Recht, im allgemeinen Interesse in Privatverhältnisse einzugreifen, vollständig
eingebüßt, und durch diese Zaghaftigkeit war die Armee gerade im eignen Lande
und dem von Verbündeten unglaublich hilflos geworden. Die Dorfschulzen ver¬
weigerten dem gegen den Feind des Vaterlandes marschirenden Heere Quartiere,
Fouragefuhreu und sogar den Mitgebrauch der Häckselmaschinen ihres Ortes.
Bei den Gefechten in der Nähe von Schleiz und Saalfeld hatten die Pferde
der Abteilung Hohenlohes keinen Hafer, in Jena auf der Staatskammer befand
sich ein ziemlicher Vorrat davon, aber ehe sich mau dessen bemächtigte, fragte man
erst in Weimar an, ob man dürfe, und ehe die Antwort eintraf, war die Möglich¬
keit der Benutzung verloren gegangen. Ähnlich verfuhren die Truppen bei Auer-
stüdt. Vom Rückzüge erzählt Clausewitz als Augenzeuge: "Als am 16. Oktober,
nachdem die Mannschaften schon den 14. und 15. nichts genossen hatten, die
vollkommen ausgehungerten Truppen bei Kreußeu ankamen, schickte Prinz August
von Preußen nach dem nahe gelegenen Dorfe, um für seine Grenadiere einige
Lebensmittel zu holen. Die Bauern weigerten sich, ganz im Stile der Zeit,
etwas herzugeben, es mußte Gewalt angewendet werden, und darüber entstand
ein Zetergeschrei. Da ließ der alte Major von Rabiel von der Garde Clause¬
witz rufen, der des Prinzen Adjutant war, war ganz entrüstet über den Vorfall
und bat dringend, dem Prinzen vorzustellen, daß ein solches Raubsystem in der
preußische" Armee nicht üblich und dem Geiste derselben zuwider sei."

Sehr unheilvoll wirkte neben allem andern, daß gerade die gescheitesten
Köpfe den Krieg wie ein Spiel auffaßte", bei dem es mehr auf Nachdenken.
Wissen, Kunst und Methode als auf Hauen, Stechen und Schießen ankomme,
und wo die gesunde Leidenschaft keine, die "Humanität" aber eine große Rolle
spiele. "Die kaltsinnige, allen Enthusiasmus und aller Einfachheit entkleidete
Lehre von der Kriegführung, welche sich die Epigonen Friedrichs des Großen
zurechtlegte", hat viel gesündigt. Aber sie sproßte doch erst auf dem Boden,
den der Geist der Zeit beackert und für solche Saat empfänglich gemacht hatte."
Nicht ängstliche Überwachung der äußerlich schönen, willigen und braven Truppen,
nicht strenge Disziplin, nicht unendliche Wiederholungen bei den Exerzitien, nicht
das Aufgeben aller Selbständigkeit der Untergebenen konnten hier helfen, sondern
eine gründliche Heeresreform, welche die praktische Verwertung der gesamten
Volkskraft für den Kriegsdienst ins Auge faßte. Anfänge dazu fehlten nicht,
c>ber Friedrich Wilhelm war zu ihrer Weiterentwicklung zu bescheiden, zu kritisch,
er besaß zu wenig Selbstvertrauen, und "sein richtiger Verstand und scharfer
Veobachtungsgeist wurden, wie Clausewitz sagt, von seinem unüberwindlichen
Hange zum Zweifel nur in die Richtung der menschlichen Schwächen und Un-
vollkommenheiten getrieben, die er schnell entdeckte, und die seinen Mangel an
Vertrauen zur Geringschätzung steigerten." So fand er denn auch in den Vor-


Grenzbotcn IV. 1883. 77
Die Wahrheit über die Katastrophe von Jena.

Während der Zivilist es für natürlich hielt, daß die Armee ihn im Kriege
vor Schaden zu schützen habe, hatte die Staatsbehörde allen Glauben an ihr
Recht, im allgemeinen Interesse in Privatverhältnisse einzugreifen, vollständig
eingebüßt, und durch diese Zaghaftigkeit war die Armee gerade im eignen Lande
und dem von Verbündeten unglaublich hilflos geworden. Die Dorfschulzen ver¬
weigerten dem gegen den Feind des Vaterlandes marschirenden Heere Quartiere,
Fouragefuhreu und sogar den Mitgebrauch der Häckselmaschinen ihres Ortes.
Bei den Gefechten in der Nähe von Schleiz und Saalfeld hatten die Pferde
der Abteilung Hohenlohes keinen Hafer, in Jena auf der Staatskammer befand
sich ein ziemlicher Vorrat davon, aber ehe sich mau dessen bemächtigte, fragte man
erst in Weimar an, ob man dürfe, und ehe die Antwort eintraf, war die Möglich¬
keit der Benutzung verloren gegangen. Ähnlich verfuhren die Truppen bei Auer-
stüdt. Vom Rückzüge erzählt Clausewitz als Augenzeuge: „Als am 16. Oktober,
nachdem die Mannschaften schon den 14. und 15. nichts genossen hatten, die
vollkommen ausgehungerten Truppen bei Kreußeu ankamen, schickte Prinz August
von Preußen nach dem nahe gelegenen Dorfe, um für seine Grenadiere einige
Lebensmittel zu holen. Die Bauern weigerten sich, ganz im Stile der Zeit,
etwas herzugeben, es mußte Gewalt angewendet werden, und darüber entstand
ein Zetergeschrei. Da ließ der alte Major von Rabiel von der Garde Clause¬
witz rufen, der des Prinzen Adjutant war, war ganz entrüstet über den Vorfall
und bat dringend, dem Prinzen vorzustellen, daß ein solches Raubsystem in der
preußische» Armee nicht üblich und dem Geiste derselben zuwider sei."

Sehr unheilvoll wirkte neben allem andern, daß gerade die gescheitesten
Köpfe den Krieg wie ein Spiel auffaßte», bei dem es mehr auf Nachdenken.
Wissen, Kunst und Methode als auf Hauen, Stechen und Schießen ankomme,
und wo die gesunde Leidenschaft keine, die „Humanität" aber eine große Rolle
spiele. „Die kaltsinnige, allen Enthusiasmus und aller Einfachheit entkleidete
Lehre von der Kriegführung, welche sich die Epigonen Friedrichs des Großen
zurechtlegte», hat viel gesündigt. Aber sie sproßte doch erst auf dem Boden,
den der Geist der Zeit beackert und für solche Saat empfänglich gemacht hatte."
Nicht ängstliche Überwachung der äußerlich schönen, willigen und braven Truppen,
nicht strenge Disziplin, nicht unendliche Wiederholungen bei den Exerzitien, nicht
das Aufgeben aller Selbständigkeit der Untergebenen konnten hier helfen, sondern
eine gründliche Heeresreform, welche die praktische Verwertung der gesamten
Volkskraft für den Kriegsdienst ins Auge faßte. Anfänge dazu fehlten nicht,
c>ber Friedrich Wilhelm war zu ihrer Weiterentwicklung zu bescheiden, zu kritisch,
er besaß zu wenig Selbstvertrauen, und „sein richtiger Verstand und scharfer
Veobachtungsgeist wurden, wie Clausewitz sagt, von seinem unüberwindlichen
Hange zum Zweifel nur in die Richtung der menschlichen Schwächen und Un-
vollkommenheiten getrieben, die er schnell entdeckte, und die seinen Mangel an
Vertrauen zur Geringschätzung steigerten." So fand er denn auch in den Vor-


Grenzbotcn IV. 1883. 77
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[0619] Die Wahrheit über die Katastrophe von Jena. Während der Zivilist es für natürlich hielt, daß die Armee ihn im Kriege vor Schaden zu schützen habe, hatte die Staatsbehörde allen Glauben an ihr Recht, im allgemeinen Interesse in Privatverhältnisse einzugreifen, vollständig eingebüßt, und durch diese Zaghaftigkeit war die Armee gerade im eignen Lande und dem von Verbündeten unglaublich hilflos geworden. Die Dorfschulzen ver¬ weigerten dem gegen den Feind des Vaterlandes marschirenden Heere Quartiere, Fouragefuhreu und sogar den Mitgebrauch der Häckselmaschinen ihres Ortes. Bei den Gefechten in der Nähe von Schleiz und Saalfeld hatten die Pferde der Abteilung Hohenlohes keinen Hafer, in Jena auf der Staatskammer befand sich ein ziemlicher Vorrat davon, aber ehe sich mau dessen bemächtigte, fragte man erst in Weimar an, ob man dürfe, und ehe die Antwort eintraf, war die Möglich¬ keit der Benutzung verloren gegangen. Ähnlich verfuhren die Truppen bei Auer- stüdt. Vom Rückzüge erzählt Clausewitz als Augenzeuge: „Als am 16. Oktober, nachdem die Mannschaften schon den 14. und 15. nichts genossen hatten, die vollkommen ausgehungerten Truppen bei Kreußeu ankamen, schickte Prinz August von Preußen nach dem nahe gelegenen Dorfe, um für seine Grenadiere einige Lebensmittel zu holen. Die Bauern weigerten sich, ganz im Stile der Zeit, etwas herzugeben, es mußte Gewalt angewendet werden, und darüber entstand ein Zetergeschrei. Da ließ der alte Major von Rabiel von der Garde Clause¬ witz rufen, der des Prinzen Adjutant war, war ganz entrüstet über den Vorfall und bat dringend, dem Prinzen vorzustellen, daß ein solches Raubsystem in der preußische» Armee nicht üblich und dem Geiste derselben zuwider sei." Sehr unheilvoll wirkte neben allem andern, daß gerade die gescheitesten Köpfe den Krieg wie ein Spiel auffaßte», bei dem es mehr auf Nachdenken. Wissen, Kunst und Methode als auf Hauen, Stechen und Schießen ankomme, und wo die gesunde Leidenschaft keine, die „Humanität" aber eine große Rolle spiele. „Die kaltsinnige, allen Enthusiasmus und aller Einfachheit entkleidete Lehre von der Kriegführung, welche sich die Epigonen Friedrichs des Großen zurechtlegte», hat viel gesündigt. Aber sie sproßte doch erst auf dem Boden, den der Geist der Zeit beackert und für solche Saat empfänglich gemacht hatte." Nicht ängstliche Überwachung der äußerlich schönen, willigen und braven Truppen, nicht strenge Disziplin, nicht unendliche Wiederholungen bei den Exerzitien, nicht das Aufgeben aller Selbständigkeit der Untergebenen konnten hier helfen, sondern eine gründliche Heeresreform, welche die praktische Verwertung der gesamten Volkskraft für den Kriegsdienst ins Auge faßte. Anfänge dazu fehlten nicht, c>ber Friedrich Wilhelm war zu ihrer Weiterentwicklung zu bescheiden, zu kritisch, er besaß zu wenig Selbstvertrauen, und „sein richtiger Verstand und scharfer Veobachtungsgeist wurden, wie Clausewitz sagt, von seinem unüberwindlichen Hange zum Zweifel nur in die Richtung der menschlichen Schwächen und Un- vollkommenheiten getrieben, die er schnell entdeckte, und die seinen Mangel an Vertrauen zur Geringschätzung steigerten." So fand er denn auch in den Vor- Grenzbotcn IV. 1883. 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/619>, abgerufen am 01.09.2024.