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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Line Geschichte der amerikanischen Literatur.

aber die christliche Religion, dieses erste Triebrad des Denkens in der neuen
Welt, hält noch immer ihre Macht aufrecht mitten im Streit der Politik und
dem Geräusch des Handels. In keinem Lande hat sie mehr Einfluß; in keinem
sind ihre Formeln mannichfacher ausgebildet." Ihr Einfluß auf die gesamte
Literatur Amerikas ist in der That unverkennbar, in keiner Literatur wagt sich
das Frivole und Unsittliche so wenig auf dem Büchermarkt hervor, wie in der
amerikanischen. Nur die Tagespresse macht eine Ausnahme.

Im folgenden Abschnitt faßt Nichol zusammen, was die amerikanische Li¬
teratur in der ersten Hälfte des Jahrhunderts an hervorragenden Leistungen
auf dem Gebiete der Geschichtschreibung, der naturwissenschaftlichen und son¬
stigen Forschung auszuweisen hat. Am ausführlichsten verweilt er bei den Ge¬
schichtschreibern Bancroft, Hildrcth, Prescott und Motley. Ebendort hat die
Darstellung der "jungen amerikanischen Romantik," welche durch Brockden Brown,
Irving, Cooper, Poe mit einem heute noch fortlebenden Glänze vertreten ist,
ihre Stelle gefunden. Damit betreten wir den Boden der modernen schonen
Literatur, und der nächste Abschnitt umfaßt die reprsssuta-lips xosts.

Mit glücklicher Wahl erkennt Nichol als solche Vrycmt, Longfellow, Poe,
Whitmau und Joaquin Miller. In den beiden ersteren find am meisten euro¬
päische Vorbilder bemerkbar, bei Bryant englische, bei Longfellow deutsche; die
zwei letzteren sind freier davon. Whitmcm ist der Vorläufer einer neuen reim¬
losen Dichtung mit großartigen Menschheits- und Wcltideen. Miller ist der
Säuger des fernsten Westens, der goldenen Sierra, und als solcher ein Vor¬
gänger von Bret Harte. In Whitmau ahnt Nichol mehr die "große Kraft,"
als daß er ihre erlösende Bedeutung erkennt. Indem er länger als nötig bei
den Mängeln der Form der Whitmcmschen Dichtungen verweilt, schreckt er vor
der Bekanntschaft mit demselben ab. Er hätte von Freiligraths Kritik lernen
können, wie ein Dichter den reimlosen Iss-oss ok Aufs sein feinfühlendes Ohr
leiht und herrliche Klänge daraus vernimmt. Indeß ist es schon viel, wenn
ein englischer Kritiker und Lehrer einer englischen Hochschule es wagt, Whitmcm
bis zu einem gewissen Grade hochzuschätzen. Dem deutschen Publikum werden
Whitmans Dichtungen vermutlich noch länger verschlossen sein, da wir, seit
Freiligrath nicht mehr lebt, niemand wüßten, der der schwierigen Aufgabe, eine
Auswahl der Je-avss ok Zrass zu verdeutschen, gewachsen wäre. Das beste und
gerechteste Stück Kritik dagegen lesen wir bei Nichol über den unlängst ver¬
storbenen Longfellow. Vortrefflich empfindet er den europäischen Odem in dessen
Dichtungen, die ihm auf amerikanischem Boden den Eindruck von "Emigranten¬
literatur" machen und ihm ovörlaäsu vnd oulturs g,nel burcisuscl vitlr los
musiv ok mtsUsowill luxur^ erscheinen. Dabei weiß er das reine Wesen, die
sonnige Klarheit, den idyllischen Zauber dieser formeuschöucn Dichtungen wohl
zu würdigen. Er schildert hübsch den Zusammenhang zwischen Longfellows
Dichtungen und der Lebenslust, welche den Dichter als Mitglied der Hochschule


Grenzbowi IV. 1883, 71
Line Geschichte der amerikanischen Literatur.

aber die christliche Religion, dieses erste Triebrad des Denkens in der neuen
Welt, hält noch immer ihre Macht aufrecht mitten im Streit der Politik und
dem Geräusch des Handels. In keinem Lande hat sie mehr Einfluß; in keinem
sind ihre Formeln mannichfacher ausgebildet." Ihr Einfluß auf die gesamte
Literatur Amerikas ist in der That unverkennbar, in keiner Literatur wagt sich
das Frivole und Unsittliche so wenig auf dem Büchermarkt hervor, wie in der
amerikanischen. Nur die Tagespresse macht eine Ausnahme.

Im folgenden Abschnitt faßt Nichol zusammen, was die amerikanische Li¬
teratur in der ersten Hälfte des Jahrhunderts an hervorragenden Leistungen
auf dem Gebiete der Geschichtschreibung, der naturwissenschaftlichen und son¬
stigen Forschung auszuweisen hat. Am ausführlichsten verweilt er bei den Ge¬
schichtschreibern Bancroft, Hildrcth, Prescott und Motley. Ebendort hat die
Darstellung der „jungen amerikanischen Romantik," welche durch Brockden Brown,
Irving, Cooper, Poe mit einem heute noch fortlebenden Glänze vertreten ist,
ihre Stelle gefunden. Damit betreten wir den Boden der modernen schonen
Literatur, und der nächste Abschnitt umfaßt die reprsssuta-lips xosts.

Mit glücklicher Wahl erkennt Nichol als solche Vrycmt, Longfellow, Poe,
Whitmau und Joaquin Miller. In den beiden ersteren find am meisten euro¬
päische Vorbilder bemerkbar, bei Bryant englische, bei Longfellow deutsche; die
zwei letzteren sind freier davon. Whitmcm ist der Vorläufer einer neuen reim¬
losen Dichtung mit großartigen Menschheits- und Wcltideen. Miller ist der
Säuger des fernsten Westens, der goldenen Sierra, und als solcher ein Vor¬
gänger von Bret Harte. In Whitmau ahnt Nichol mehr die „große Kraft,"
als daß er ihre erlösende Bedeutung erkennt. Indem er länger als nötig bei
den Mängeln der Form der Whitmcmschen Dichtungen verweilt, schreckt er vor
der Bekanntschaft mit demselben ab. Er hätte von Freiligraths Kritik lernen
können, wie ein Dichter den reimlosen Iss-oss ok Aufs sein feinfühlendes Ohr
leiht und herrliche Klänge daraus vernimmt. Indeß ist es schon viel, wenn
ein englischer Kritiker und Lehrer einer englischen Hochschule es wagt, Whitmcm
bis zu einem gewissen Grade hochzuschätzen. Dem deutschen Publikum werden
Whitmans Dichtungen vermutlich noch länger verschlossen sein, da wir, seit
Freiligrath nicht mehr lebt, niemand wüßten, der der schwierigen Aufgabe, eine
Auswahl der Je-avss ok Zrass zu verdeutschen, gewachsen wäre. Das beste und
gerechteste Stück Kritik dagegen lesen wir bei Nichol über den unlängst ver¬
storbenen Longfellow. Vortrefflich empfindet er den europäischen Odem in dessen
Dichtungen, die ihm auf amerikanischem Boden den Eindruck von „Emigranten¬
literatur" machen und ihm ovörlaäsu vnd oulturs g,nel burcisuscl vitlr los
musiv ok mtsUsowill luxur^ erscheinen. Dabei weiß er das reine Wesen, die
sonnige Klarheit, den idyllischen Zauber dieser formeuschöucn Dichtungen wohl
zu würdigen. Er schildert hübsch den Zusammenhang zwischen Longfellows
Dichtungen und der Lebenslust, welche den Dichter als Mitglied der Hochschule


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[0571] Line Geschichte der amerikanischen Literatur. aber die christliche Religion, dieses erste Triebrad des Denkens in der neuen Welt, hält noch immer ihre Macht aufrecht mitten im Streit der Politik und dem Geräusch des Handels. In keinem Lande hat sie mehr Einfluß; in keinem sind ihre Formeln mannichfacher ausgebildet." Ihr Einfluß auf die gesamte Literatur Amerikas ist in der That unverkennbar, in keiner Literatur wagt sich das Frivole und Unsittliche so wenig auf dem Büchermarkt hervor, wie in der amerikanischen. Nur die Tagespresse macht eine Ausnahme. Im folgenden Abschnitt faßt Nichol zusammen, was die amerikanische Li¬ teratur in der ersten Hälfte des Jahrhunderts an hervorragenden Leistungen auf dem Gebiete der Geschichtschreibung, der naturwissenschaftlichen und son¬ stigen Forschung auszuweisen hat. Am ausführlichsten verweilt er bei den Ge¬ schichtschreibern Bancroft, Hildrcth, Prescott und Motley. Ebendort hat die Darstellung der „jungen amerikanischen Romantik," welche durch Brockden Brown, Irving, Cooper, Poe mit einem heute noch fortlebenden Glänze vertreten ist, ihre Stelle gefunden. Damit betreten wir den Boden der modernen schonen Literatur, und der nächste Abschnitt umfaßt die reprsssuta-lips xosts. Mit glücklicher Wahl erkennt Nichol als solche Vrycmt, Longfellow, Poe, Whitmau und Joaquin Miller. In den beiden ersteren find am meisten euro¬ päische Vorbilder bemerkbar, bei Bryant englische, bei Longfellow deutsche; die zwei letzteren sind freier davon. Whitmcm ist der Vorläufer einer neuen reim¬ losen Dichtung mit großartigen Menschheits- und Wcltideen. Miller ist der Säuger des fernsten Westens, der goldenen Sierra, und als solcher ein Vor¬ gänger von Bret Harte. In Whitmau ahnt Nichol mehr die „große Kraft," als daß er ihre erlösende Bedeutung erkennt. Indem er länger als nötig bei den Mängeln der Form der Whitmcmschen Dichtungen verweilt, schreckt er vor der Bekanntschaft mit demselben ab. Er hätte von Freiligraths Kritik lernen können, wie ein Dichter den reimlosen Iss-oss ok Aufs sein feinfühlendes Ohr leiht und herrliche Klänge daraus vernimmt. Indeß ist es schon viel, wenn ein englischer Kritiker und Lehrer einer englischen Hochschule es wagt, Whitmcm bis zu einem gewissen Grade hochzuschätzen. Dem deutschen Publikum werden Whitmans Dichtungen vermutlich noch länger verschlossen sein, da wir, seit Freiligrath nicht mehr lebt, niemand wüßten, der der schwierigen Aufgabe, eine Auswahl der Je-avss ok Zrass zu verdeutschen, gewachsen wäre. Das beste und gerechteste Stück Kritik dagegen lesen wir bei Nichol über den unlängst ver¬ storbenen Longfellow. Vortrefflich empfindet er den europäischen Odem in dessen Dichtungen, die ihm auf amerikanischem Boden den Eindruck von „Emigranten¬ literatur" machen und ihm ovörlaäsu vnd oulturs g,nel burcisuscl vitlr los musiv ok mtsUsowill luxur^ erscheinen. Dabei weiß er das reine Wesen, die sonnige Klarheit, den idyllischen Zauber dieser formeuschöucn Dichtungen wohl zu würdigen. Er schildert hübsch den Zusammenhang zwischen Longfellows Dichtungen und der Lebenslust, welche den Dichter als Mitglied der Hochschule Grenzbowi IV. 1883, 71

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/571>, abgerufen am 28.07.2024.