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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Fortschritte der sozialpolitischen Debatte,

Offenbar ist aber in den Verhandlungen zu Haid die Anschauung, daß
eine umfassende Wirksamkeit auf diesem Boden kaum durchzuführen sein werde,
ausschlaggebend gewesen. Jedenfalls würde eine durchgreifende und entscheidende
Wirksamkeit auf dem Boden patriarchalischer Beziehungen voraussetzen, daß im
gewerblichen und industriellen Leben sich ein intensiver Zug nach Steigerung
der persönlichen Beziehungen geltend mache. Es ist aber gerade das Gegenteil
der Fall, Die zunehmende Umwandlung wirtschaftlicher Betriebe in Aktien¬
gesellschaften und die Ausdehnung des Aktienwesens selbst auf landwirtschaftlichen
Gebiete verengern den Boden patriarchalischer Beziehungen immermehr. Gerade
diese Umgestaltung ist zugleich schließlich der dringendste Grund für ein großes
und umfassendes sozialpolitisches Einschreiten. Und vor diesem dringendsten
Grunde würde man ratlos stehen, wenn man sich auf die Entfaltung Patriarchat
lischer Bestrebungen beschränken wollte. Immerhin können dieselben Hand in
Hand gehen mit den staatssozialistischen -- wenn wir so sagen dürfen -- Be¬
strebungen. Und für die Bethätigung der christlichen Menschen- und Bruder¬
liebe wird immer noch Raum bleiben, selbst wenn die sozialpolitischen Bestrebungen
so erfolgreich sein sollten, daß binnen kurzer Zeit eine Umbettung der sozialen
Verhältnisse und damit die Überwindung der sozialen Notstände sich anbahnen
sollte. Denn nur der Utopist mag sich darüber täuschen, daß auch unter den
bestmöglichen sozialen Verhältnissen das Leben der Mehrheit der Menschen ein
Leben voll Mühe und Arbeit sein wird. Wo aber dies ist, da wird es doch
genug des Schwererträglicheu zu lindern und zu erleichtern geben.

Daß diese Anschauung in den weltlichen Kreisen der katholischen Sozial¬
politiker einflußreiche Vertreter hat, daran ist allerdings nicht mehr zu zweifeln.
Wenn aber auch die klerikalen Kreise noch stark widerstreben, auch sie muß
die Praxis zum Teil wenigstens dieser Einsicht zuführen. Ein Beweis dafür,
und zwar ein sehr beachtenswerter, ist gerade auch in diesen Tagen und viel¬
leicht nicht unbeabsichtigt fast gleichzeitig mit den Halber Beschlüssen an das
Licht getreten und zwar in Gestalt eines kleinen Schriftchens,*) dessen Verfasser
unter den katholischen Sozialpolitikern einen der ersten Plätze einnimmt. Auch
dieser seiner jüngsten kleinen Schrift kann man unter den sozialpolitischen Ver¬
öffentlichungen nicht nur der letzten Zeit in erster Reihe ihren Platz anweisen.
In derselben wird versucht, auf wissenschaftlicher, mathematischer Grundlage und
in streng logischer Entwicklung zu einem klaren, berechenbaren Begriff über das
natürliche Verhältnis zwischen Kapitalzins und Arbeitslohn bei wirtschaftlichen
Unternehmungen zu gelangen.

Gerade im Hinblick auf manche entgegengesetzte Erscheinung auf dem Boden
der sozialpolitischen Debatte bietet schon das Vorwort des Schriftchens nicht



5) Die Gesetze für Berechnung von Kapitalzins und Arbeitslohn. Erste Beilage zur
Apologie des Christentums. Von Fr. Alb. Maria Weiß, 0. ?r. Frcitmrg, Herder, 1883.
Fortschritte der sozialpolitischen Debatte,

Offenbar ist aber in den Verhandlungen zu Haid die Anschauung, daß
eine umfassende Wirksamkeit auf diesem Boden kaum durchzuführen sein werde,
ausschlaggebend gewesen. Jedenfalls würde eine durchgreifende und entscheidende
Wirksamkeit auf dem Boden patriarchalischer Beziehungen voraussetzen, daß im
gewerblichen und industriellen Leben sich ein intensiver Zug nach Steigerung
der persönlichen Beziehungen geltend mache. Es ist aber gerade das Gegenteil
der Fall, Die zunehmende Umwandlung wirtschaftlicher Betriebe in Aktien¬
gesellschaften und die Ausdehnung des Aktienwesens selbst auf landwirtschaftlichen
Gebiete verengern den Boden patriarchalischer Beziehungen immermehr. Gerade
diese Umgestaltung ist zugleich schließlich der dringendste Grund für ein großes
und umfassendes sozialpolitisches Einschreiten. Und vor diesem dringendsten
Grunde würde man ratlos stehen, wenn man sich auf die Entfaltung Patriarchat
lischer Bestrebungen beschränken wollte. Immerhin können dieselben Hand in
Hand gehen mit den staatssozialistischen — wenn wir so sagen dürfen — Be¬
strebungen. Und für die Bethätigung der christlichen Menschen- und Bruder¬
liebe wird immer noch Raum bleiben, selbst wenn die sozialpolitischen Bestrebungen
so erfolgreich sein sollten, daß binnen kurzer Zeit eine Umbettung der sozialen
Verhältnisse und damit die Überwindung der sozialen Notstände sich anbahnen
sollte. Denn nur der Utopist mag sich darüber täuschen, daß auch unter den
bestmöglichen sozialen Verhältnissen das Leben der Mehrheit der Menschen ein
Leben voll Mühe und Arbeit sein wird. Wo aber dies ist, da wird es doch
genug des Schwererträglicheu zu lindern und zu erleichtern geben.

Daß diese Anschauung in den weltlichen Kreisen der katholischen Sozial¬
politiker einflußreiche Vertreter hat, daran ist allerdings nicht mehr zu zweifeln.
Wenn aber auch die klerikalen Kreise noch stark widerstreben, auch sie muß
die Praxis zum Teil wenigstens dieser Einsicht zuführen. Ein Beweis dafür,
und zwar ein sehr beachtenswerter, ist gerade auch in diesen Tagen und viel¬
leicht nicht unbeabsichtigt fast gleichzeitig mit den Halber Beschlüssen an das
Licht getreten und zwar in Gestalt eines kleinen Schriftchens,*) dessen Verfasser
unter den katholischen Sozialpolitikern einen der ersten Plätze einnimmt. Auch
dieser seiner jüngsten kleinen Schrift kann man unter den sozialpolitischen Ver¬
öffentlichungen nicht nur der letzten Zeit in erster Reihe ihren Platz anweisen.
In derselben wird versucht, auf wissenschaftlicher, mathematischer Grundlage und
in streng logischer Entwicklung zu einem klaren, berechenbaren Begriff über das
natürliche Verhältnis zwischen Kapitalzins und Arbeitslohn bei wirtschaftlichen
Unternehmungen zu gelangen.

Gerade im Hinblick auf manche entgegengesetzte Erscheinung auf dem Boden
der sozialpolitischen Debatte bietet schon das Vorwort des Schriftchens nicht



5) Die Gesetze für Berechnung von Kapitalzins und Arbeitslohn. Erste Beilage zur
Apologie des Christentums. Von Fr. Alb. Maria Weiß, 0. ?r. Frcitmrg, Herder, 1883.
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[0551] Fortschritte der sozialpolitischen Debatte, Offenbar ist aber in den Verhandlungen zu Haid die Anschauung, daß eine umfassende Wirksamkeit auf diesem Boden kaum durchzuführen sein werde, ausschlaggebend gewesen. Jedenfalls würde eine durchgreifende und entscheidende Wirksamkeit auf dem Boden patriarchalischer Beziehungen voraussetzen, daß im gewerblichen und industriellen Leben sich ein intensiver Zug nach Steigerung der persönlichen Beziehungen geltend mache. Es ist aber gerade das Gegenteil der Fall, Die zunehmende Umwandlung wirtschaftlicher Betriebe in Aktien¬ gesellschaften und die Ausdehnung des Aktienwesens selbst auf landwirtschaftlichen Gebiete verengern den Boden patriarchalischer Beziehungen immermehr. Gerade diese Umgestaltung ist zugleich schließlich der dringendste Grund für ein großes und umfassendes sozialpolitisches Einschreiten. Und vor diesem dringendsten Grunde würde man ratlos stehen, wenn man sich auf die Entfaltung Patriarchat lischer Bestrebungen beschränken wollte. Immerhin können dieselben Hand in Hand gehen mit den staatssozialistischen — wenn wir so sagen dürfen — Be¬ strebungen. Und für die Bethätigung der christlichen Menschen- und Bruder¬ liebe wird immer noch Raum bleiben, selbst wenn die sozialpolitischen Bestrebungen so erfolgreich sein sollten, daß binnen kurzer Zeit eine Umbettung der sozialen Verhältnisse und damit die Überwindung der sozialen Notstände sich anbahnen sollte. Denn nur der Utopist mag sich darüber täuschen, daß auch unter den bestmöglichen sozialen Verhältnissen das Leben der Mehrheit der Menschen ein Leben voll Mühe und Arbeit sein wird. Wo aber dies ist, da wird es doch genug des Schwererträglicheu zu lindern und zu erleichtern geben. Daß diese Anschauung in den weltlichen Kreisen der katholischen Sozial¬ politiker einflußreiche Vertreter hat, daran ist allerdings nicht mehr zu zweifeln. Wenn aber auch die klerikalen Kreise noch stark widerstreben, auch sie muß die Praxis zum Teil wenigstens dieser Einsicht zuführen. Ein Beweis dafür, und zwar ein sehr beachtenswerter, ist gerade auch in diesen Tagen und viel¬ leicht nicht unbeabsichtigt fast gleichzeitig mit den Halber Beschlüssen an das Licht getreten und zwar in Gestalt eines kleinen Schriftchens,*) dessen Verfasser unter den katholischen Sozialpolitikern einen der ersten Plätze einnimmt. Auch dieser seiner jüngsten kleinen Schrift kann man unter den sozialpolitischen Ver¬ öffentlichungen nicht nur der letzten Zeit in erster Reihe ihren Platz anweisen. In derselben wird versucht, auf wissenschaftlicher, mathematischer Grundlage und in streng logischer Entwicklung zu einem klaren, berechenbaren Begriff über das natürliche Verhältnis zwischen Kapitalzins und Arbeitslohn bei wirtschaftlichen Unternehmungen zu gelangen. Gerade im Hinblick auf manche entgegengesetzte Erscheinung auf dem Boden der sozialpolitischen Debatte bietet schon das Vorwort des Schriftchens nicht 5) Die Gesetze für Berechnung von Kapitalzins und Arbeitslohn. Erste Beilage zur Apologie des Christentums. Von Fr. Alb. Maria Weiß, 0. ?r. Frcitmrg, Herder, 1883.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/551>, abgerufen am 28.07.2024.