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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung de5 Faust.

Gelehrten gewohnt ist, "Goethe und Spinoza 1783--1786," neben ander"
merkwürdigen und aufschlußreichen Dingen auch festzustellen gesucht, daß vor
dem Jahre 1784 von wirklicher Spinozakcnntnis bei Goethe nicht die Rede
sein könne.

Von wirklicher Spinozakenntnis? Mag sein. Diese Bezeichnung schließt viel
in sich. Aber den Grundgedanken der Spinozalehre, die erhabene praktische
Grundstiiumung Gott und dem Leben gegenüber, die man Andacht, Religion
oder auch kontemplative Weisheit nennen kann, diese Stimmung und Anschauung
kaun Goethe sehr wohl schou durch den ersten Eindruck als Spinozas Eigentum
ergriffen und sich angeeignet haben als ein dauerndes Gewicht zur Herstellung
des Gleichgewichts seines nach den mannichfaltigsten Richtungen strebenden Seelen¬
lebens. Wir befinden uns bei dieser Annahme lediglich in Übereinstimmung
mit dem Dichter selbst, der uns genau dasselbe in Dichtung und Wahrheit
erzählt. Fiel nun aber der erste Eindruck der Spinozalehre in den Zeitpunkt,
wo die drei Themen der ursprünglichen Faustdichtung in der Ausbildung be¬
griffen waren und sich zu einem Ganzen zu verschmelzen strebten, so konnte
der Dichter aus der Spinozalehre eine wirksame Anleitung zur Ausgestaltung
entnehmen. Das Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen, mit Spinozas
Kunstausdrücken: "des Modus zur Substanz," paßte ganz in das Bedürfnis,
des Gedichtes, wie die Anlage desselben geworden war: den Helden, der das
Unendliche in sich sassen wollte, in die Endlichkeit zurückzuschleudern und für
jenen Versuch mit Verzweiflung zu strafen. Der Erdgeist ist die mit der ganzen
Schönheit und Macht begnadeter Dichterphantasie als lebendige Erscheinung
hingestellte Substanz des akosmischen, wcltfeindlichen Philosophen. Denn diese
Substanz ist die unendliche Kraft, die alle endlichen Kräfte, die empfindenden
wie die empfindungslosen, die bewußten wie die unbewußten, lediglich zu ihrem
Vehikel macht. Indem der Philosoph dem endlichen Geist die Fähigkeit beilegt,
die erhabene Vorstellung dieser Substanz zu denken und resignirend sich in sie
zu versenken -- eine Resignation, wodurch die Leidenschaften beschwichtigt werden,
mittelst deren die Substanz das endliche Wesen bewegt --, zieht er freilich eine
Konsequenz, die den Grundgedanken des Systems erschüttert. Goethe schildert
den Erdgeist, die, entsprechend dem Bedürfnis der Poesie, lebendig und persön¬
lich gewordene Substanz in jenen Worten, die auf den Lippe" der Welt sind,
wie sie die eigne unendliche Kraft genießt in dem Gegeneinanderschäumen der
endlichen Erscheinungen, deren ewiges Meer und glühend Leben der Gottheit
lebendiges Kleid ist. Die Wirksamkeit des Unendlichen thätig in sich zu fühlen
erfordert eine mitleidslose Seele, vor der die Empfindungen und Schicksale des
endlichen Seins sind wie die Formen aufsteigender und zerstiebender Wellen.
Mit Recht weist darum der Erdgeist das Verlangen Fausts zurück. Es ent¬
sprach dem Zweck der Dichtung, aber auch dein Geist Spinozas, daß die Stimme
der Zurückweisung ebenso erhaben als hart klingt.


Die Entstehung de5 Faust.

Gelehrten gewohnt ist, „Goethe und Spinoza 1783—1786," neben ander»
merkwürdigen und aufschlußreichen Dingen auch festzustellen gesucht, daß vor
dem Jahre 1784 von wirklicher Spinozakcnntnis bei Goethe nicht die Rede
sein könne.

Von wirklicher Spinozakenntnis? Mag sein. Diese Bezeichnung schließt viel
in sich. Aber den Grundgedanken der Spinozalehre, die erhabene praktische
Grundstiiumung Gott und dem Leben gegenüber, die man Andacht, Religion
oder auch kontemplative Weisheit nennen kann, diese Stimmung und Anschauung
kaun Goethe sehr wohl schou durch den ersten Eindruck als Spinozas Eigentum
ergriffen und sich angeeignet haben als ein dauerndes Gewicht zur Herstellung
des Gleichgewichts seines nach den mannichfaltigsten Richtungen strebenden Seelen¬
lebens. Wir befinden uns bei dieser Annahme lediglich in Übereinstimmung
mit dem Dichter selbst, der uns genau dasselbe in Dichtung und Wahrheit
erzählt. Fiel nun aber der erste Eindruck der Spinozalehre in den Zeitpunkt,
wo die drei Themen der ursprünglichen Faustdichtung in der Ausbildung be¬
griffen waren und sich zu einem Ganzen zu verschmelzen strebten, so konnte
der Dichter aus der Spinozalehre eine wirksame Anleitung zur Ausgestaltung
entnehmen. Das Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen, mit Spinozas
Kunstausdrücken: „des Modus zur Substanz," paßte ganz in das Bedürfnis,
des Gedichtes, wie die Anlage desselben geworden war: den Helden, der das
Unendliche in sich sassen wollte, in die Endlichkeit zurückzuschleudern und für
jenen Versuch mit Verzweiflung zu strafen. Der Erdgeist ist die mit der ganzen
Schönheit und Macht begnadeter Dichterphantasie als lebendige Erscheinung
hingestellte Substanz des akosmischen, wcltfeindlichen Philosophen. Denn diese
Substanz ist die unendliche Kraft, die alle endlichen Kräfte, die empfindenden
wie die empfindungslosen, die bewußten wie die unbewußten, lediglich zu ihrem
Vehikel macht. Indem der Philosoph dem endlichen Geist die Fähigkeit beilegt,
die erhabene Vorstellung dieser Substanz zu denken und resignirend sich in sie
zu versenken — eine Resignation, wodurch die Leidenschaften beschwichtigt werden,
mittelst deren die Substanz das endliche Wesen bewegt —, zieht er freilich eine
Konsequenz, die den Grundgedanken des Systems erschüttert. Goethe schildert
den Erdgeist, die, entsprechend dem Bedürfnis der Poesie, lebendig und persön¬
lich gewordene Substanz in jenen Worten, die auf den Lippe» der Welt sind,
wie sie die eigne unendliche Kraft genießt in dem Gegeneinanderschäumen der
endlichen Erscheinungen, deren ewiges Meer und glühend Leben der Gottheit
lebendiges Kleid ist. Die Wirksamkeit des Unendlichen thätig in sich zu fühlen
erfordert eine mitleidslose Seele, vor der die Empfindungen und Schicksale des
endlichen Seins sind wie die Formen aufsteigender und zerstiebender Wellen.
Mit Recht weist darum der Erdgeist das Verlangen Fausts zurück. Es ent¬
sprach dem Zweck der Dichtung, aber auch dein Geist Spinozas, daß die Stimme
der Zurückweisung ebenso erhaben als hart klingt.


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[0504] Die Entstehung de5 Faust. Gelehrten gewohnt ist, „Goethe und Spinoza 1783—1786," neben ander» merkwürdigen und aufschlußreichen Dingen auch festzustellen gesucht, daß vor dem Jahre 1784 von wirklicher Spinozakcnntnis bei Goethe nicht die Rede sein könne. Von wirklicher Spinozakenntnis? Mag sein. Diese Bezeichnung schließt viel in sich. Aber den Grundgedanken der Spinozalehre, die erhabene praktische Grundstiiumung Gott und dem Leben gegenüber, die man Andacht, Religion oder auch kontemplative Weisheit nennen kann, diese Stimmung und Anschauung kaun Goethe sehr wohl schou durch den ersten Eindruck als Spinozas Eigentum ergriffen und sich angeeignet haben als ein dauerndes Gewicht zur Herstellung des Gleichgewichts seines nach den mannichfaltigsten Richtungen strebenden Seelen¬ lebens. Wir befinden uns bei dieser Annahme lediglich in Übereinstimmung mit dem Dichter selbst, der uns genau dasselbe in Dichtung und Wahrheit erzählt. Fiel nun aber der erste Eindruck der Spinozalehre in den Zeitpunkt, wo die drei Themen der ursprünglichen Faustdichtung in der Ausbildung be¬ griffen waren und sich zu einem Ganzen zu verschmelzen strebten, so konnte der Dichter aus der Spinozalehre eine wirksame Anleitung zur Ausgestaltung entnehmen. Das Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen, mit Spinozas Kunstausdrücken: „des Modus zur Substanz," paßte ganz in das Bedürfnis, des Gedichtes, wie die Anlage desselben geworden war: den Helden, der das Unendliche in sich sassen wollte, in die Endlichkeit zurückzuschleudern und für jenen Versuch mit Verzweiflung zu strafen. Der Erdgeist ist die mit der ganzen Schönheit und Macht begnadeter Dichterphantasie als lebendige Erscheinung hingestellte Substanz des akosmischen, wcltfeindlichen Philosophen. Denn diese Substanz ist die unendliche Kraft, die alle endlichen Kräfte, die empfindenden wie die empfindungslosen, die bewußten wie die unbewußten, lediglich zu ihrem Vehikel macht. Indem der Philosoph dem endlichen Geist die Fähigkeit beilegt, die erhabene Vorstellung dieser Substanz zu denken und resignirend sich in sie zu versenken — eine Resignation, wodurch die Leidenschaften beschwichtigt werden, mittelst deren die Substanz das endliche Wesen bewegt —, zieht er freilich eine Konsequenz, die den Grundgedanken des Systems erschüttert. Goethe schildert den Erdgeist, die, entsprechend dem Bedürfnis der Poesie, lebendig und persön¬ lich gewordene Substanz in jenen Worten, die auf den Lippe» der Welt sind, wie sie die eigne unendliche Kraft genießt in dem Gegeneinanderschäumen der endlichen Erscheinungen, deren ewiges Meer und glühend Leben der Gottheit lebendiges Kleid ist. Die Wirksamkeit des Unendlichen thätig in sich zu fühlen erfordert eine mitleidslose Seele, vor der die Empfindungen und Schicksale des endlichen Seins sind wie die Formen aufsteigender und zerstiebender Wellen. Mit Recht weist darum der Erdgeist das Verlangen Fausts zurück. Es ent¬ sprach dem Zweck der Dichtung, aber auch dein Geist Spinozas, daß die Stimme der Zurückweisung ebenso erhaben als hart klingt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/504>, abgerufen am 27.07.2024.