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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Neuere Runstliteratur.

Dürer nachmals kopirt worden seien, zu erschüttern sucht, mit keiner Silbe,
sondern er begnügt sich nur, unter voller Aufrechterhaltung seiner ur¬
sprünglichen Beweisführung, in einer Note auf eine Abhandlung in einer
nicht jedermann leicht zugänglichen Zeitschrift hinzuweisen, in welcher er ver¬
mutlich die Einwendungen Springers entkräftet hat. Ebenso ignorirt Springer
für seinen Teil fast alle kritischen Bemerkungen Thausings. Springer hält
nach wie vor an dem 28. März als dem Geburtstage Raffaels fest,
ohne zu bedenken, daß er dadurch mit jener Methode historischer Kritik,
welche er selbst zuerst systematisch auf die kunstwissenschaftliche Forschung ange¬
wendet hat. in Widerspruch gerät. An Michelangelos Madonna von Brügge
geht Spinger immer noch mit leisen Zweifeln vorüber und auch dem jugend¬
lichen Johannes, welcher im Berliner Museum sür eine unzweifelhafte Jugend¬
arbeit Michelangelos gilt, will er noch nicht recht trauen. Mit welcher
Beharrlichkeit sich Springer gegen Thausing verschließt, mag ein Beispiel be¬
weisen. Thausing hatte eine von Springer in Holzschnitt reproduzirte an¬
gebliche Studie Raffaels zur Madonna mit dem Stieglitz in Oxford als ein
"Pasticcio" bezeichnet. Aus der zweiten Auflage ist der Holzschnitt freilich
verschwunden, im Texte wird nach wie vor aber an der Echtheit der fraglichen
Zeichnung festgehalten, ohne daß mit einer Silbe der Kontroverse gedacht oder
der Grund, weshalb der Holzschnitt ausgemerzt worden, angedeutet würde.
Dagegen hat sich Springer gegen die Einwände, die Thausing in Bezug auf
die parallele Behandlung beider Meister und die Zusammenfassung beider Bio¬
graphien zu einem kunstvoll ineinander gefügten Ganzen erhoben hat, sehr
geistvoll verteidigt, indem er in der Vorrede sagt: "Schiller schrieb einmal an
Süvern: "Die Schönheit ist für ein glückliches Geschlecht, aber ein unglückliches
muß man erhaben zu rühren suchen." Italien im sechzehnten Jahrhundert
war beides; darum besaß es Naffael und Michelangelo. Wie das Glück der
Renaissance nicht von ihrem Unglück zu trennen ist, so lassen sich auch die
beiden Meister nicht scheiden. Sie gehören zusammen, und erst, wenn man sie
gemeinsam betrachtet, erkennt man vollkommen ihre Stellung und Bedeutung
in der Geschichte des italienischen Volkes."

Und damit kommen wir zu den großen Lichtseiten des Springerschen Buches,
welche selbstverständlich nicht durch jene Regungen der Empfindlichkeit und der
Rechthaberei verdunkelt werden können, auf welche wir auch nur hingewiesen
haben, weil sie uns eines so bedeutenden Mannes wie Springer nicht recht
würdig erscheinen. Nicht die unablässige Gereiztheit Michelangelos, nicht der
Verfolgungseifer Bandinellis sollte die Richtschnur für den echten und großen
Historiker sein, sondern die ruhige Vornehmheit und Leidenschaftslosigkeit Raffaels.
Springer hat mit unendlicher Sorgfalt das ganze Material durchgearbeitet und
geprüft, das seit dem Erscheinen der ersten Auflage seines Buches über Raffael,
namentlich über den Anfang seiner Entwicklungsgeschichte, über das ihm zuge-


Neuere Runstliteratur.

Dürer nachmals kopirt worden seien, zu erschüttern sucht, mit keiner Silbe,
sondern er begnügt sich nur, unter voller Aufrechterhaltung seiner ur¬
sprünglichen Beweisführung, in einer Note auf eine Abhandlung in einer
nicht jedermann leicht zugänglichen Zeitschrift hinzuweisen, in welcher er ver¬
mutlich die Einwendungen Springers entkräftet hat. Ebenso ignorirt Springer
für seinen Teil fast alle kritischen Bemerkungen Thausings. Springer hält
nach wie vor an dem 28. März als dem Geburtstage Raffaels fest,
ohne zu bedenken, daß er dadurch mit jener Methode historischer Kritik,
welche er selbst zuerst systematisch auf die kunstwissenschaftliche Forschung ange¬
wendet hat. in Widerspruch gerät. An Michelangelos Madonna von Brügge
geht Spinger immer noch mit leisen Zweifeln vorüber und auch dem jugend¬
lichen Johannes, welcher im Berliner Museum sür eine unzweifelhafte Jugend¬
arbeit Michelangelos gilt, will er noch nicht recht trauen. Mit welcher
Beharrlichkeit sich Springer gegen Thausing verschließt, mag ein Beispiel be¬
weisen. Thausing hatte eine von Springer in Holzschnitt reproduzirte an¬
gebliche Studie Raffaels zur Madonna mit dem Stieglitz in Oxford als ein
„Pasticcio" bezeichnet. Aus der zweiten Auflage ist der Holzschnitt freilich
verschwunden, im Texte wird nach wie vor aber an der Echtheit der fraglichen
Zeichnung festgehalten, ohne daß mit einer Silbe der Kontroverse gedacht oder
der Grund, weshalb der Holzschnitt ausgemerzt worden, angedeutet würde.
Dagegen hat sich Springer gegen die Einwände, die Thausing in Bezug auf
die parallele Behandlung beider Meister und die Zusammenfassung beider Bio¬
graphien zu einem kunstvoll ineinander gefügten Ganzen erhoben hat, sehr
geistvoll verteidigt, indem er in der Vorrede sagt: „Schiller schrieb einmal an
Süvern: »Die Schönheit ist für ein glückliches Geschlecht, aber ein unglückliches
muß man erhaben zu rühren suchen.« Italien im sechzehnten Jahrhundert
war beides; darum besaß es Naffael und Michelangelo. Wie das Glück der
Renaissance nicht von ihrem Unglück zu trennen ist, so lassen sich auch die
beiden Meister nicht scheiden. Sie gehören zusammen, und erst, wenn man sie
gemeinsam betrachtet, erkennt man vollkommen ihre Stellung und Bedeutung
in der Geschichte des italienischen Volkes."

Und damit kommen wir zu den großen Lichtseiten des Springerschen Buches,
welche selbstverständlich nicht durch jene Regungen der Empfindlichkeit und der
Rechthaberei verdunkelt werden können, auf welche wir auch nur hingewiesen
haben, weil sie uns eines so bedeutenden Mannes wie Springer nicht recht
würdig erscheinen. Nicht die unablässige Gereiztheit Michelangelos, nicht der
Verfolgungseifer Bandinellis sollte die Richtschnur für den echten und großen
Historiker sein, sondern die ruhige Vornehmheit und Leidenschaftslosigkeit Raffaels.
Springer hat mit unendlicher Sorgfalt das ganze Material durchgearbeitet und
geprüft, das seit dem Erscheinen der ersten Auflage seines Buches über Raffael,
namentlich über den Anfang seiner Entwicklungsgeschichte, über das ihm zuge-


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[0458] Neuere Runstliteratur. Dürer nachmals kopirt worden seien, zu erschüttern sucht, mit keiner Silbe, sondern er begnügt sich nur, unter voller Aufrechterhaltung seiner ur¬ sprünglichen Beweisführung, in einer Note auf eine Abhandlung in einer nicht jedermann leicht zugänglichen Zeitschrift hinzuweisen, in welcher er ver¬ mutlich die Einwendungen Springers entkräftet hat. Ebenso ignorirt Springer für seinen Teil fast alle kritischen Bemerkungen Thausings. Springer hält nach wie vor an dem 28. März als dem Geburtstage Raffaels fest, ohne zu bedenken, daß er dadurch mit jener Methode historischer Kritik, welche er selbst zuerst systematisch auf die kunstwissenschaftliche Forschung ange¬ wendet hat. in Widerspruch gerät. An Michelangelos Madonna von Brügge geht Spinger immer noch mit leisen Zweifeln vorüber und auch dem jugend¬ lichen Johannes, welcher im Berliner Museum sür eine unzweifelhafte Jugend¬ arbeit Michelangelos gilt, will er noch nicht recht trauen. Mit welcher Beharrlichkeit sich Springer gegen Thausing verschließt, mag ein Beispiel be¬ weisen. Thausing hatte eine von Springer in Holzschnitt reproduzirte an¬ gebliche Studie Raffaels zur Madonna mit dem Stieglitz in Oxford als ein „Pasticcio" bezeichnet. Aus der zweiten Auflage ist der Holzschnitt freilich verschwunden, im Texte wird nach wie vor aber an der Echtheit der fraglichen Zeichnung festgehalten, ohne daß mit einer Silbe der Kontroverse gedacht oder der Grund, weshalb der Holzschnitt ausgemerzt worden, angedeutet würde. Dagegen hat sich Springer gegen die Einwände, die Thausing in Bezug auf die parallele Behandlung beider Meister und die Zusammenfassung beider Bio¬ graphien zu einem kunstvoll ineinander gefügten Ganzen erhoben hat, sehr geistvoll verteidigt, indem er in der Vorrede sagt: „Schiller schrieb einmal an Süvern: »Die Schönheit ist für ein glückliches Geschlecht, aber ein unglückliches muß man erhaben zu rühren suchen.« Italien im sechzehnten Jahrhundert war beides; darum besaß es Naffael und Michelangelo. Wie das Glück der Renaissance nicht von ihrem Unglück zu trennen ist, so lassen sich auch die beiden Meister nicht scheiden. Sie gehören zusammen, und erst, wenn man sie gemeinsam betrachtet, erkennt man vollkommen ihre Stellung und Bedeutung in der Geschichte des italienischen Volkes." Und damit kommen wir zu den großen Lichtseiten des Springerschen Buches, welche selbstverständlich nicht durch jene Regungen der Empfindlichkeit und der Rechthaberei verdunkelt werden können, auf welche wir auch nur hingewiesen haben, weil sie uns eines so bedeutenden Mannes wie Springer nicht recht würdig erscheinen. Nicht die unablässige Gereiztheit Michelangelos, nicht der Verfolgungseifer Bandinellis sollte die Richtschnur für den echten und großen Historiker sein, sondern die ruhige Vornehmheit und Leidenschaftslosigkeit Raffaels. Springer hat mit unendlicher Sorgfalt das ganze Material durchgearbeitet und geprüft, das seit dem Erscheinen der ersten Auflage seines Buches über Raffael, namentlich über den Anfang seiner Entwicklungsgeschichte, über das ihm zuge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/458>, abgerufen am 27.07.2024.