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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Laufe.

n. s. w. u. s. w.? Gewiß, solches Wissen kann sehr fruchtbar werden. Aber
doch nur, wenn wir begreifen, zu welchem Zweck, unter welchem Gesetz der
Dichtergeist sich all dieses Stoffes, all dieser ihn bewegenden Ideen und Er¬
lebnisse bemächtigt und mit welchem Erfolg er sie bemeistert hat. So lange
wir das nicht wissen, wissen wir eben die Hauptsache nicht, und die sogenannten
historischen Erklärer haben nicht das mindeste Recht, auf die philosophischen
Kommentatoren herabzusehen. Erst wenn wir den Dichtergeist als das lebendige
Triebwerk vor Augen hätten, das die Faustdichtung aus so mannichfaltigen
Elementen, aber doch aus Elementen, deren Auswahl keine zufällige sein kann,
die Elemente umbildend, gestaltet, ihnen beständig die Persönlichkeit des Dichters
entgegensetzend und sie derselben unterwerfend, erst dann hätten wir das Ver¬
ständnis des Faust. Dann werden wir hoffentlich auch die Einheit der Idee
finden, welche der Dichter beständig gesucht und, wir dürfen annehmen, dem
Ganzen eingeprägt hat, wenn auch manchen Einzelheiten nur mit einem ober¬
flächlichen Stempel. Dann werden wir die Dichtung auch wieder mit philo-
sophischem Sinn verstehen und den philosophischen Sinn an derselben erheben
können. Wir werden zu dem Unternehmen der ersten Faustkommentare in ge¬
wissem Sinn zurückkehren, es aber viel vollkommener und viel mehr auf den
wirklichen Sinn, auf die wirkliche Absicht der Dichtung begründet lösen können.

Bald nach jenem ersten hundertjährigen Geburtstag begann Schöll mit
der Herausgabe der Briefe an Charlotte von Stein die immer aufschlußreicheren
Veröffentlichungen aus dem und über das intime Leben des Dichters. Viel ge¬
nauer und feiner als bei dem Anfang, den Gervinus gemacht, begann nun der
Nachweis der einzelnen Beziehungen der Dichtungen zu dem Leben des Dichters.
Auch dem Faust wurde dieses neue Studium zuteil. Im ganzen aber stehen
wir diesem Gedicht noch gegenüber wie einem gewaltigen Werke der Skulptur,
dessen reiche Komposition aus mannichfaltigen Gruppen, offenbar zeitlich ver-
schiednen Ursprunges, wohl übersichtlich, aber keineswegs im einzelnen durch¬
sichtig zusammengesetzt ist. Wenn es zuerst kühne Erklärer gab, welche mit
freudigem Auge in das Ganze blickten und aus dem, was ihr Auge empfangen
hatte oder empfangen zu haben meinte, das Kunstwerk nachkonstruiren wollten, so
sind wir in eine ganz andre Periode der Auffassung eingetreten. Wir weisen
bei jeder Gruppe den Marmordruch nach, aus dem der Marmor zur Gruppe
geholt worden ist. Wir wissen oft Zeit und Stunde, wann der Meißel an den
Marmor zu dieser einzelnen Gruppe gelegt worden. Was wir aber nicht wissen,
das ist, warum der Künstler die Gruppe überhaupt für nötig gehalten, was
ihn trieb, sie zu entwerfen, und wie sie im Künstlergeist mit den schon vor¬
handenen Teilen des Kunstwerkes und mit den später hinzutretender verbunden
ward. Sollen wir auf die Erforschung dieser Entstehungsgründe, dieses Zu¬
sammenhanges etwa verzichten? Es wäre recht in der Weise unsrer Zeit, von
der ein Hauptzug Verworrenheit aus intellektueller Charakterschwäche ist, in


Die Entstehung des Laufe.

n. s. w. u. s. w.? Gewiß, solches Wissen kann sehr fruchtbar werden. Aber
doch nur, wenn wir begreifen, zu welchem Zweck, unter welchem Gesetz der
Dichtergeist sich all dieses Stoffes, all dieser ihn bewegenden Ideen und Er¬
lebnisse bemächtigt und mit welchem Erfolg er sie bemeistert hat. So lange
wir das nicht wissen, wissen wir eben die Hauptsache nicht, und die sogenannten
historischen Erklärer haben nicht das mindeste Recht, auf die philosophischen
Kommentatoren herabzusehen. Erst wenn wir den Dichtergeist als das lebendige
Triebwerk vor Augen hätten, das die Faustdichtung aus so mannichfaltigen
Elementen, aber doch aus Elementen, deren Auswahl keine zufällige sein kann,
die Elemente umbildend, gestaltet, ihnen beständig die Persönlichkeit des Dichters
entgegensetzend und sie derselben unterwerfend, erst dann hätten wir das Ver¬
ständnis des Faust. Dann werden wir hoffentlich auch die Einheit der Idee
finden, welche der Dichter beständig gesucht und, wir dürfen annehmen, dem
Ganzen eingeprägt hat, wenn auch manchen Einzelheiten nur mit einem ober¬
flächlichen Stempel. Dann werden wir die Dichtung auch wieder mit philo-
sophischem Sinn verstehen und den philosophischen Sinn an derselben erheben
können. Wir werden zu dem Unternehmen der ersten Faustkommentare in ge¬
wissem Sinn zurückkehren, es aber viel vollkommener und viel mehr auf den
wirklichen Sinn, auf die wirkliche Absicht der Dichtung begründet lösen können.

Bald nach jenem ersten hundertjährigen Geburtstag begann Schöll mit
der Herausgabe der Briefe an Charlotte von Stein die immer aufschlußreicheren
Veröffentlichungen aus dem und über das intime Leben des Dichters. Viel ge¬
nauer und feiner als bei dem Anfang, den Gervinus gemacht, begann nun der
Nachweis der einzelnen Beziehungen der Dichtungen zu dem Leben des Dichters.
Auch dem Faust wurde dieses neue Studium zuteil. Im ganzen aber stehen
wir diesem Gedicht noch gegenüber wie einem gewaltigen Werke der Skulptur,
dessen reiche Komposition aus mannichfaltigen Gruppen, offenbar zeitlich ver-
schiednen Ursprunges, wohl übersichtlich, aber keineswegs im einzelnen durch¬
sichtig zusammengesetzt ist. Wenn es zuerst kühne Erklärer gab, welche mit
freudigem Auge in das Ganze blickten und aus dem, was ihr Auge empfangen
hatte oder empfangen zu haben meinte, das Kunstwerk nachkonstruiren wollten, so
sind wir in eine ganz andre Periode der Auffassung eingetreten. Wir weisen
bei jeder Gruppe den Marmordruch nach, aus dem der Marmor zur Gruppe
geholt worden ist. Wir wissen oft Zeit und Stunde, wann der Meißel an den
Marmor zu dieser einzelnen Gruppe gelegt worden. Was wir aber nicht wissen,
das ist, warum der Künstler die Gruppe überhaupt für nötig gehalten, was
ihn trieb, sie zu entwerfen, und wie sie im Künstlergeist mit den schon vor¬
handenen Teilen des Kunstwerkes und mit den später hinzutretender verbunden
ward. Sollen wir auf die Erforschung dieser Entstehungsgründe, dieses Zu¬
sammenhanges etwa verzichten? Es wäre recht in der Weise unsrer Zeit, von
der ein Hauptzug Verworrenheit aus intellektueller Charakterschwäche ist, in


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[0448] Die Entstehung des Laufe. n. s. w. u. s. w.? Gewiß, solches Wissen kann sehr fruchtbar werden. Aber doch nur, wenn wir begreifen, zu welchem Zweck, unter welchem Gesetz der Dichtergeist sich all dieses Stoffes, all dieser ihn bewegenden Ideen und Er¬ lebnisse bemächtigt und mit welchem Erfolg er sie bemeistert hat. So lange wir das nicht wissen, wissen wir eben die Hauptsache nicht, und die sogenannten historischen Erklärer haben nicht das mindeste Recht, auf die philosophischen Kommentatoren herabzusehen. Erst wenn wir den Dichtergeist als das lebendige Triebwerk vor Augen hätten, das die Faustdichtung aus so mannichfaltigen Elementen, aber doch aus Elementen, deren Auswahl keine zufällige sein kann, die Elemente umbildend, gestaltet, ihnen beständig die Persönlichkeit des Dichters entgegensetzend und sie derselben unterwerfend, erst dann hätten wir das Ver¬ ständnis des Faust. Dann werden wir hoffentlich auch die Einheit der Idee finden, welche der Dichter beständig gesucht und, wir dürfen annehmen, dem Ganzen eingeprägt hat, wenn auch manchen Einzelheiten nur mit einem ober¬ flächlichen Stempel. Dann werden wir die Dichtung auch wieder mit philo- sophischem Sinn verstehen und den philosophischen Sinn an derselben erheben können. Wir werden zu dem Unternehmen der ersten Faustkommentare in ge¬ wissem Sinn zurückkehren, es aber viel vollkommener und viel mehr auf den wirklichen Sinn, auf die wirkliche Absicht der Dichtung begründet lösen können. Bald nach jenem ersten hundertjährigen Geburtstag begann Schöll mit der Herausgabe der Briefe an Charlotte von Stein die immer aufschlußreicheren Veröffentlichungen aus dem und über das intime Leben des Dichters. Viel ge¬ nauer und feiner als bei dem Anfang, den Gervinus gemacht, begann nun der Nachweis der einzelnen Beziehungen der Dichtungen zu dem Leben des Dichters. Auch dem Faust wurde dieses neue Studium zuteil. Im ganzen aber stehen wir diesem Gedicht noch gegenüber wie einem gewaltigen Werke der Skulptur, dessen reiche Komposition aus mannichfaltigen Gruppen, offenbar zeitlich ver- schiednen Ursprunges, wohl übersichtlich, aber keineswegs im einzelnen durch¬ sichtig zusammengesetzt ist. Wenn es zuerst kühne Erklärer gab, welche mit freudigem Auge in das Ganze blickten und aus dem, was ihr Auge empfangen hatte oder empfangen zu haben meinte, das Kunstwerk nachkonstruiren wollten, so sind wir in eine ganz andre Periode der Auffassung eingetreten. Wir weisen bei jeder Gruppe den Marmordruch nach, aus dem der Marmor zur Gruppe geholt worden ist. Wir wissen oft Zeit und Stunde, wann der Meißel an den Marmor zu dieser einzelnen Gruppe gelegt worden. Was wir aber nicht wissen, das ist, warum der Künstler die Gruppe überhaupt für nötig gehalten, was ihn trieb, sie zu entwerfen, und wie sie im Künstlergeist mit den schon vor¬ handenen Teilen des Kunstwerkes und mit den später hinzutretender verbunden ward. Sollen wir auf die Erforschung dieser Entstehungsgründe, dieses Zu¬ sammenhanges etwa verzichten? Es wäre recht in der Weise unsrer Zeit, von der ein Hauptzug Verworrenheit aus intellektueller Charakterschwäche ist, in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/448>, abgerufen am 27.07.2024.