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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Sie Entstehung des Faust.

heutzutage Mode, mit Geringschätzung von diesen Faustkommentaren zu
sprechen. Wir sind in der Lage, diese Geringschätzung gebührendermaßen zu
erwiedern. Man schiebt den vermeintlich nur verfehlten Weg dieser Kommentare
auf eine Art der philosophischen Richtung der damaligen Zeit. Daß dieser
Grund übereilt und unzureichend angenommen wird, zeigen unsre obigen An¬
führungen. Das damalige Geschlecht stand unter keinem andern Bewußtsein,
als daß der Faust, mindestens der meist als allein wesentlich betrachtete erste
Teil, ein Werk aus einem Gusse sei. Die Notizen über die allmähliche Ent¬
stehung, welche damals überhaupt schon bekannt waren, gingen allein herum im
engen Kreise der Gocthegelehrten. Heute sind fast alle Goethefreunde bis zu
einem gewissen Grade Goethegelehrte und selbst Goetheforscher. In den beiden
Jahrzehnten von 1830 bis 18S0 war dies anders. Damals gab es zahlreiche
Goethefreunde und selbst Goetheenthusiasten, die sich um die persönlichen Be¬
ziehungen der Dichtungen, für die sie sich begeisterten, nicht kümmerten. Diese
Art von Notizensammlung galt für die Spezialität eines engen, mit der Um¬
gebung des Dichters zusammenhängenden Kreises. Man vermutete noch nicht,
wie ungemein fruchtbar diese Art Notizensammlung nach ungeahnter Bereicherung
bald für das lebendigere Verständnis des Dichters werden sollte.

Den Faustkommentaren gegenüber, welche aus dem Lesen des Gedichts,
verbunden mit allerlei andern die Zeit bewegenden Motiven, frischweg eine
"Idee" des Faust konzipirten und aus dieser Idee heraus jede Einzelheit
kommentirten, war es zuerst Gervinus, der schon in der ersten Auflage des
fünften Bandes seiner Geschichte der deutschen Nationalliteratur auf die so¬
genannte -- sogenannte müßte man hier unterstreichen -- historische Erklärung
hinwies. Er ist dafür hinlänglich gepriesen worden, und wir wollen uns ja
hüten, das unleugbare, aber sehr mäßige Verdienst zu übertreiben. Historisch
erklären heißt hier nämlich, das Faustbuch in der Hand, mit dem Finger auf
die Szenen hinweisen und sagen: Hier ist der junge Goethe, die Ideale der
Sturm- und Drangzeit, hier ist der alte Goethe, die Symbolik, die späte Lebens¬
weisheit, die weiten Bildungsaussichten u. s. w. Über den Geschmack soll ja nicht
zu streiten sein. Es wird einen Geschmack geben, der lieber den künstlichsten
Kommentar geschrieben haben möchte, welcher die wirklichen Absichten des Dich¬
ters vielleicht weit verfehlt, als solche Entdeckungen gemacht. Geist- und Ver¬
standesaufwand erfordert die erste Arbeit jedenfalls mehr als die zweite, die
gar keine Arbeit ist, sobald der erste Entdecker aufgetreten, der das glückliche
und dreiste Auge hatte zu sehen, was jeder sehen kann. Hat einer den ersten
Goldklumpen gesehen, so eilen die Gräber und Wäscher zu Tausenden herbei,
und es kommt nicht einmal mehr auf das Auge, sondern auf die Arme an,
um viel zu erlangen. Sind wir wirklich dadurch sonderlich weise, daß wir sagen
können: Hier ist der Reflex von Sturm und Drang, hier der Reflex des alchy¬
mistischen Studiums, hier der Reflex von Mercks oder Wagners Persönlichkeit


Sie Entstehung des Faust.

heutzutage Mode, mit Geringschätzung von diesen Faustkommentaren zu
sprechen. Wir sind in der Lage, diese Geringschätzung gebührendermaßen zu
erwiedern. Man schiebt den vermeintlich nur verfehlten Weg dieser Kommentare
auf eine Art der philosophischen Richtung der damaligen Zeit. Daß dieser
Grund übereilt und unzureichend angenommen wird, zeigen unsre obigen An¬
führungen. Das damalige Geschlecht stand unter keinem andern Bewußtsein,
als daß der Faust, mindestens der meist als allein wesentlich betrachtete erste
Teil, ein Werk aus einem Gusse sei. Die Notizen über die allmähliche Ent¬
stehung, welche damals überhaupt schon bekannt waren, gingen allein herum im
engen Kreise der Gocthegelehrten. Heute sind fast alle Goethefreunde bis zu
einem gewissen Grade Goethegelehrte und selbst Goetheforscher. In den beiden
Jahrzehnten von 1830 bis 18S0 war dies anders. Damals gab es zahlreiche
Goethefreunde und selbst Goetheenthusiasten, die sich um die persönlichen Be¬
ziehungen der Dichtungen, für die sie sich begeisterten, nicht kümmerten. Diese
Art von Notizensammlung galt für die Spezialität eines engen, mit der Um¬
gebung des Dichters zusammenhängenden Kreises. Man vermutete noch nicht,
wie ungemein fruchtbar diese Art Notizensammlung nach ungeahnter Bereicherung
bald für das lebendigere Verständnis des Dichters werden sollte.

Den Faustkommentaren gegenüber, welche aus dem Lesen des Gedichts,
verbunden mit allerlei andern die Zeit bewegenden Motiven, frischweg eine
„Idee" des Faust konzipirten und aus dieser Idee heraus jede Einzelheit
kommentirten, war es zuerst Gervinus, der schon in der ersten Auflage des
fünften Bandes seiner Geschichte der deutschen Nationalliteratur auf die so¬
genannte — sogenannte müßte man hier unterstreichen — historische Erklärung
hinwies. Er ist dafür hinlänglich gepriesen worden, und wir wollen uns ja
hüten, das unleugbare, aber sehr mäßige Verdienst zu übertreiben. Historisch
erklären heißt hier nämlich, das Faustbuch in der Hand, mit dem Finger auf
die Szenen hinweisen und sagen: Hier ist der junge Goethe, die Ideale der
Sturm- und Drangzeit, hier ist der alte Goethe, die Symbolik, die späte Lebens¬
weisheit, die weiten Bildungsaussichten u. s. w. Über den Geschmack soll ja nicht
zu streiten sein. Es wird einen Geschmack geben, der lieber den künstlichsten
Kommentar geschrieben haben möchte, welcher die wirklichen Absichten des Dich¬
ters vielleicht weit verfehlt, als solche Entdeckungen gemacht. Geist- und Ver¬
standesaufwand erfordert die erste Arbeit jedenfalls mehr als die zweite, die
gar keine Arbeit ist, sobald der erste Entdecker aufgetreten, der das glückliche
und dreiste Auge hatte zu sehen, was jeder sehen kann. Hat einer den ersten
Goldklumpen gesehen, so eilen die Gräber und Wäscher zu Tausenden herbei,
und es kommt nicht einmal mehr auf das Auge, sondern auf die Arme an,
um viel zu erlangen. Sind wir wirklich dadurch sonderlich weise, daß wir sagen
können: Hier ist der Reflex von Sturm und Drang, hier der Reflex des alchy¬
mistischen Studiums, hier der Reflex von Mercks oder Wagners Persönlichkeit


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[0447] Sie Entstehung des Faust. heutzutage Mode, mit Geringschätzung von diesen Faustkommentaren zu sprechen. Wir sind in der Lage, diese Geringschätzung gebührendermaßen zu erwiedern. Man schiebt den vermeintlich nur verfehlten Weg dieser Kommentare auf eine Art der philosophischen Richtung der damaligen Zeit. Daß dieser Grund übereilt und unzureichend angenommen wird, zeigen unsre obigen An¬ führungen. Das damalige Geschlecht stand unter keinem andern Bewußtsein, als daß der Faust, mindestens der meist als allein wesentlich betrachtete erste Teil, ein Werk aus einem Gusse sei. Die Notizen über die allmähliche Ent¬ stehung, welche damals überhaupt schon bekannt waren, gingen allein herum im engen Kreise der Gocthegelehrten. Heute sind fast alle Goethefreunde bis zu einem gewissen Grade Goethegelehrte und selbst Goetheforscher. In den beiden Jahrzehnten von 1830 bis 18S0 war dies anders. Damals gab es zahlreiche Goethefreunde und selbst Goetheenthusiasten, die sich um die persönlichen Be¬ ziehungen der Dichtungen, für die sie sich begeisterten, nicht kümmerten. Diese Art von Notizensammlung galt für die Spezialität eines engen, mit der Um¬ gebung des Dichters zusammenhängenden Kreises. Man vermutete noch nicht, wie ungemein fruchtbar diese Art Notizensammlung nach ungeahnter Bereicherung bald für das lebendigere Verständnis des Dichters werden sollte. Den Faustkommentaren gegenüber, welche aus dem Lesen des Gedichts, verbunden mit allerlei andern die Zeit bewegenden Motiven, frischweg eine „Idee" des Faust konzipirten und aus dieser Idee heraus jede Einzelheit kommentirten, war es zuerst Gervinus, der schon in der ersten Auflage des fünften Bandes seiner Geschichte der deutschen Nationalliteratur auf die so¬ genannte — sogenannte müßte man hier unterstreichen — historische Erklärung hinwies. Er ist dafür hinlänglich gepriesen worden, und wir wollen uns ja hüten, das unleugbare, aber sehr mäßige Verdienst zu übertreiben. Historisch erklären heißt hier nämlich, das Faustbuch in der Hand, mit dem Finger auf die Szenen hinweisen und sagen: Hier ist der junge Goethe, die Ideale der Sturm- und Drangzeit, hier ist der alte Goethe, die Symbolik, die späte Lebens¬ weisheit, die weiten Bildungsaussichten u. s. w. Über den Geschmack soll ja nicht zu streiten sein. Es wird einen Geschmack geben, der lieber den künstlichsten Kommentar geschrieben haben möchte, welcher die wirklichen Absichten des Dich¬ ters vielleicht weit verfehlt, als solche Entdeckungen gemacht. Geist- und Ver¬ standesaufwand erfordert die erste Arbeit jedenfalls mehr als die zweite, die gar keine Arbeit ist, sobald der erste Entdecker aufgetreten, der das glückliche und dreiste Auge hatte zu sehen, was jeder sehen kann. Hat einer den ersten Goldklumpen gesehen, so eilen die Gräber und Wäscher zu Tausenden herbei, und es kommt nicht einmal mehr auf das Auge, sondern auf die Arme an, um viel zu erlangen. Sind wir wirklich dadurch sonderlich weise, daß wir sagen können: Hier ist der Reflex von Sturm und Drang, hier der Reflex des alchy¬ mistischen Studiums, hier der Reflex von Mercks oder Wagners Persönlichkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/447>, abgerufen am 27.07.2024.