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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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bringen. Gute Köpfe aber werden sich sagen, daß Mark Twain, ein so vor¬
trefflicher, witziger Beobachter, sich etwas dabei zu denken pflegt, wenn er schreibt.
Diese werden auch, wenn sie den Macchiavelli lesen, zum Nachdenken angeregt
werden. Macchiavellis Ansicht vom Wesen der Kulturmenschheit ist so beschaffen,
daß er sagt, es sei wohl möglich, daß auch ein guter Fürst sich im Ansehen
und in der Macht behaupten könne, aber nicht wegen der Tugenden, die er etwa
hätte, sondern wegen der Tugenden, die er zu haben scheine, und immer sei es
für ihn bedenklich, wenn er wirklich gut wäre, denn er käme dadurch in Gefahr,
wirklich tugendhaft zu handeln, und dann wäre sein Untergang gewiß.

Solche Wahrnehmungen haben schon viele, und gerade die bedeutendsten
Schriftsteller gemacht und zum Teil auch in ihren Werken offenkundig dargelegt,
und hierdurch angeregt und durch eigene Beobachtungen bestärkt, hat Herr Max
Nordau sich berufen gefühlt, über die konventionellen Lügen der Kultur-
Menschheit ein offenes, ehrliches Wort laut in die Welt zu rufen (Leipzig,
Bernhard Schlicke, 1884.) Der Gedanke ist sicherlich gut, er ist vortrefflich, er
ist preiswürdig, er ist über alles Lob erhaben. Die Aufgabe, welche sich der
Autor hier gestellt hat, ist die schönste und schwerste, welche ein Mensch sich
überhaupt stellen kann. Denn der Gegenstand seines Buches ist ja nichts andres
als die 6ete/exrtx^ im eigentlichen Wortsinn, die philosophische Scheidekunst von
Falschen und Wahren, von Böse und Gut.

Es ist nur die Frage, wie der Autor sich zu der Höhe seiner Aufgabe
verhält; es ist die Frage, ob er, der die Lüge brandmarken will, wirklich die
Lüge brandmarkt und die Wahrheit kennt und ausspricht. Denn das ist das
Entscheidende. Etwas für Lüge erklären und etwas für Wahrheit erklären, das
ist so schwer nicht, aber die wirkliche Lüge zu erkennen und sie von der Wahrheit
Unterscheiden zu können, das ist ungeheuer schwer. Und ich möchte Herrn Norda"
Wohl fragen, ob er ernstlich denkt, er wäre ein solcher Mann, der diese Unter¬
scheidungsgabe besitzt. Denn, wenn ich nicht irre, befindet er sich alsdann in
einem garstigen Dilemma. Ist nämlich die Welt so von Lüge durchzogen und
erfüllt, wie er behauptet, so muß ihr die Wahrheit höchst verhaßt sein, und
sie wird sicherlich denjenigen bitter verfolgen, der die Wahrheit sagt. Aber
Herr Norden wird wegen seines Buches nicht verfolgt, es wird im Gegenteil
so gern gelesen, daß schon jetzt, wiewohl es kaum erschienen ist, die dritte Auf
loge vorliegt. Faust sagt:


Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen?
Die wenigen, die was davon erkannt,
Die thöricht gnug ihr volles Herz nicht wahrten,
Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.

Wilh wird Herr Norden hierauf entgegnen? Hat sich die Welt seit Goethes
Zeiten so geändert, daß sie jetzt diejenigen feiert, welche das Kind beim rechten


bringen. Gute Köpfe aber werden sich sagen, daß Mark Twain, ein so vor¬
trefflicher, witziger Beobachter, sich etwas dabei zu denken pflegt, wenn er schreibt.
Diese werden auch, wenn sie den Macchiavelli lesen, zum Nachdenken angeregt
werden. Macchiavellis Ansicht vom Wesen der Kulturmenschheit ist so beschaffen,
daß er sagt, es sei wohl möglich, daß auch ein guter Fürst sich im Ansehen
und in der Macht behaupten könne, aber nicht wegen der Tugenden, die er etwa
hätte, sondern wegen der Tugenden, die er zu haben scheine, und immer sei es
für ihn bedenklich, wenn er wirklich gut wäre, denn er käme dadurch in Gefahr,
wirklich tugendhaft zu handeln, und dann wäre sein Untergang gewiß.

Solche Wahrnehmungen haben schon viele, und gerade die bedeutendsten
Schriftsteller gemacht und zum Teil auch in ihren Werken offenkundig dargelegt,
und hierdurch angeregt und durch eigene Beobachtungen bestärkt, hat Herr Max
Nordau sich berufen gefühlt, über die konventionellen Lügen der Kultur-
Menschheit ein offenes, ehrliches Wort laut in die Welt zu rufen (Leipzig,
Bernhard Schlicke, 1884.) Der Gedanke ist sicherlich gut, er ist vortrefflich, er
ist preiswürdig, er ist über alles Lob erhaben. Die Aufgabe, welche sich der
Autor hier gestellt hat, ist die schönste und schwerste, welche ein Mensch sich
überhaupt stellen kann. Denn der Gegenstand seines Buches ist ja nichts andres
als die 6ete/exrtx^ im eigentlichen Wortsinn, die philosophische Scheidekunst von
Falschen und Wahren, von Böse und Gut.

Es ist nur die Frage, wie der Autor sich zu der Höhe seiner Aufgabe
verhält; es ist die Frage, ob er, der die Lüge brandmarken will, wirklich die
Lüge brandmarkt und die Wahrheit kennt und ausspricht. Denn das ist das
Entscheidende. Etwas für Lüge erklären und etwas für Wahrheit erklären, das
ist so schwer nicht, aber die wirkliche Lüge zu erkennen und sie von der Wahrheit
Unterscheiden zu können, das ist ungeheuer schwer. Und ich möchte Herrn Norda»
Wohl fragen, ob er ernstlich denkt, er wäre ein solcher Mann, der diese Unter¬
scheidungsgabe besitzt. Denn, wenn ich nicht irre, befindet er sich alsdann in
einem garstigen Dilemma. Ist nämlich die Welt so von Lüge durchzogen und
erfüllt, wie er behauptet, so muß ihr die Wahrheit höchst verhaßt sein, und
sie wird sicherlich denjenigen bitter verfolgen, der die Wahrheit sagt. Aber
Herr Norden wird wegen seines Buches nicht verfolgt, es wird im Gegenteil
so gern gelesen, daß schon jetzt, wiewohl es kaum erschienen ist, die dritte Auf
loge vorliegt. Faust sagt:


Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen?
Die wenigen, die was davon erkannt,
Die thöricht gnug ihr volles Herz nicht wahrten,
Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.

Wilh wird Herr Norden hierauf entgegnen? Hat sich die Welt seit Goethes
Zeiten so geändert, daß sie jetzt diejenigen feiert, welche das Kind beim rechten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/397>, abgerufen am 01.09.2024.