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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Der Sieg Ferrys über die Radikalen.

Das Votum vom 30. Oktober ist also von doppelter Wichtigkeit. Es erteilt
in der eben bezeichneten zweiten Hälfte demjenigen formelle Sanktion, was wir
als ein neues Einlenken in eine Richtung aufzufassen haben, die seit dem Miß-
lingen des Unternehmens Kaiser Napoleons gegen Mexiko von den verschiedenen
aufeinanderfolgenden Regierungen verlassen worden war. Mit der jetzt so kräftig
und deutlich ausgedrückten Billigung des seit drei Jahren verfolgten Planes,
den Franzosen jenseits der Meere neue Kolonien und Reiche zu gewinnen, ist
in die Weltpolitik eine neue Kraft eingeführt worden, mit welcher diejenigen,
welche es angeht, mit welcher in erster Reihe die Engländer fortan zu rechnen
haben werden. Wenn es dazu noch einer Kundgebung bedürfte, so muß der
Ausgang der Kammerdebatten der letzten Woche dies jedem, der sehen kann,
klar gemacht haben.

Seit die große Majorität der Deputirten Frankreichs sich so entschieden
ausgesprochen hat, sind wir berechtigt, anzunehmen, daß die Reden Ferrhs und
Challemel-Lacours die Politik der französischen Nation aussprachen, welche sich
ganz im Einklange mit dem Programm Waddingtons vom vorigen Jahre be¬
findet. Frankreich, so erklärte Ferrh, hat als zweite der großen Seemächte
der Welt besondre Pflichten. Eine derselben besteht darin, daß wir den Fran¬
zosen zukünftiger Geschlechter neuen Boden für ihre Thätigkeit beschaffen.
Nationen suchen sich neue Häfen, neue Absatz- und Bezugsquellen in noch un-
erschlossenen Gegenden der Erde, und weshalb sollte Frankreich sich dem chine¬
sischen Reiche nicht nähern, das vierhundert Millionen Konsumenten enthält?
Das ist die offenkundige Absicht bei der neuen Entwicklung der Dinge. Der
Prozeß der Annäherung liegt aller Welt klar vor Augen. Er begann mit der
Erwerbung von Saigon, dann folgte ein diplomatischer Vertrag mit Arran
und zuletzt die Besetzung eines Teiles von Tonkin. Ganz offen legte der Mi¬
nister die Gründe dar, welche zu den Zwangsmaßregeln gegen den Hof von
Huc veranlaßt haben. Das Ableben des Königs Tuduk schuf eine unverhoffte
Gelegenheit, die man sofort sich zunutze machen mußte, und die Kammern wurden
nicht einberufen, weil sonst die Aussicht auf Erzwingung eines neuen und ent¬
scheidenden Vertrages mit Arran verloren gegangen sein würde. Nichts könnte
deutlicher den Plan der Franzosen wie die Art und Weise seiner Ausführung
Zeigen, die beide sich auf die Annahme gründeten, daß Frankreich berechtigt sei,
sich die Schutzherrschaft über Tonkin und Arran zu erzwingen und damit,
wie wir hinzufügen dürfen, die Ausdehnung derselben auf das Königreich Siam
vorzubereiten. Nachdem man soweit gelangt war, konnten die Franzosen nicht
ohne Schaden für ihr Ansehen zurückweichen, der einer Verminderung ihres Ein¬
risses in Ostasien gleichgekommen wäre, und obwohl sie schon in einem frühe"
Stadium dem Einsprüche Chinas auf ihrem Ervbernngswege begegneten, ließen
sie sich nicht stören: der Hof von Peking wurde als halbbarbarische Macht an¬
gesehen, der nur dem Argumente der militärischen Gewalt zugänglich war. Der


Der Sieg Ferrys über die Radikalen.

Das Votum vom 30. Oktober ist also von doppelter Wichtigkeit. Es erteilt
in der eben bezeichneten zweiten Hälfte demjenigen formelle Sanktion, was wir
als ein neues Einlenken in eine Richtung aufzufassen haben, die seit dem Miß-
lingen des Unternehmens Kaiser Napoleons gegen Mexiko von den verschiedenen
aufeinanderfolgenden Regierungen verlassen worden war. Mit der jetzt so kräftig
und deutlich ausgedrückten Billigung des seit drei Jahren verfolgten Planes,
den Franzosen jenseits der Meere neue Kolonien und Reiche zu gewinnen, ist
in die Weltpolitik eine neue Kraft eingeführt worden, mit welcher diejenigen,
welche es angeht, mit welcher in erster Reihe die Engländer fortan zu rechnen
haben werden. Wenn es dazu noch einer Kundgebung bedürfte, so muß der
Ausgang der Kammerdebatten der letzten Woche dies jedem, der sehen kann,
klar gemacht haben.

Seit die große Majorität der Deputirten Frankreichs sich so entschieden
ausgesprochen hat, sind wir berechtigt, anzunehmen, daß die Reden Ferrhs und
Challemel-Lacours die Politik der französischen Nation aussprachen, welche sich
ganz im Einklange mit dem Programm Waddingtons vom vorigen Jahre be¬
findet. Frankreich, so erklärte Ferrh, hat als zweite der großen Seemächte
der Welt besondre Pflichten. Eine derselben besteht darin, daß wir den Fran¬
zosen zukünftiger Geschlechter neuen Boden für ihre Thätigkeit beschaffen.
Nationen suchen sich neue Häfen, neue Absatz- und Bezugsquellen in noch un-
erschlossenen Gegenden der Erde, und weshalb sollte Frankreich sich dem chine¬
sischen Reiche nicht nähern, das vierhundert Millionen Konsumenten enthält?
Das ist die offenkundige Absicht bei der neuen Entwicklung der Dinge. Der
Prozeß der Annäherung liegt aller Welt klar vor Augen. Er begann mit der
Erwerbung von Saigon, dann folgte ein diplomatischer Vertrag mit Arran
und zuletzt die Besetzung eines Teiles von Tonkin. Ganz offen legte der Mi¬
nister die Gründe dar, welche zu den Zwangsmaßregeln gegen den Hof von
Huc veranlaßt haben. Das Ableben des Königs Tuduk schuf eine unverhoffte
Gelegenheit, die man sofort sich zunutze machen mußte, und die Kammern wurden
nicht einberufen, weil sonst die Aussicht auf Erzwingung eines neuen und ent¬
scheidenden Vertrages mit Arran verloren gegangen sein würde. Nichts könnte
deutlicher den Plan der Franzosen wie die Art und Weise seiner Ausführung
Zeigen, die beide sich auf die Annahme gründeten, daß Frankreich berechtigt sei,
sich die Schutzherrschaft über Tonkin und Arran zu erzwingen und damit,
wie wir hinzufügen dürfen, die Ausdehnung derselben auf das Königreich Siam
vorzubereiten. Nachdem man soweit gelangt war, konnten die Franzosen nicht
ohne Schaden für ihr Ansehen zurückweichen, der einer Verminderung ihres Ein¬
risses in Ostasien gleichgekommen wäre, und obwohl sie schon in einem frühe»
Stadium dem Einsprüche Chinas auf ihrem Ervbernngswege begegneten, ließen
sie sich nicht stören: der Hof von Peking wurde als halbbarbarische Macht an¬
gesehen, der nur dem Argumente der militärischen Gewalt zugänglich war. Der


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[0373] Der Sieg Ferrys über die Radikalen. Das Votum vom 30. Oktober ist also von doppelter Wichtigkeit. Es erteilt in der eben bezeichneten zweiten Hälfte demjenigen formelle Sanktion, was wir als ein neues Einlenken in eine Richtung aufzufassen haben, die seit dem Miß- lingen des Unternehmens Kaiser Napoleons gegen Mexiko von den verschiedenen aufeinanderfolgenden Regierungen verlassen worden war. Mit der jetzt so kräftig und deutlich ausgedrückten Billigung des seit drei Jahren verfolgten Planes, den Franzosen jenseits der Meere neue Kolonien und Reiche zu gewinnen, ist in die Weltpolitik eine neue Kraft eingeführt worden, mit welcher diejenigen, welche es angeht, mit welcher in erster Reihe die Engländer fortan zu rechnen haben werden. Wenn es dazu noch einer Kundgebung bedürfte, so muß der Ausgang der Kammerdebatten der letzten Woche dies jedem, der sehen kann, klar gemacht haben. Seit die große Majorität der Deputirten Frankreichs sich so entschieden ausgesprochen hat, sind wir berechtigt, anzunehmen, daß die Reden Ferrhs und Challemel-Lacours die Politik der französischen Nation aussprachen, welche sich ganz im Einklange mit dem Programm Waddingtons vom vorigen Jahre be¬ findet. Frankreich, so erklärte Ferrh, hat als zweite der großen Seemächte der Welt besondre Pflichten. Eine derselben besteht darin, daß wir den Fran¬ zosen zukünftiger Geschlechter neuen Boden für ihre Thätigkeit beschaffen. Nationen suchen sich neue Häfen, neue Absatz- und Bezugsquellen in noch un- erschlossenen Gegenden der Erde, und weshalb sollte Frankreich sich dem chine¬ sischen Reiche nicht nähern, das vierhundert Millionen Konsumenten enthält? Das ist die offenkundige Absicht bei der neuen Entwicklung der Dinge. Der Prozeß der Annäherung liegt aller Welt klar vor Augen. Er begann mit der Erwerbung von Saigon, dann folgte ein diplomatischer Vertrag mit Arran und zuletzt die Besetzung eines Teiles von Tonkin. Ganz offen legte der Mi¬ nister die Gründe dar, welche zu den Zwangsmaßregeln gegen den Hof von Huc veranlaßt haben. Das Ableben des Königs Tuduk schuf eine unverhoffte Gelegenheit, die man sofort sich zunutze machen mußte, und die Kammern wurden nicht einberufen, weil sonst die Aussicht auf Erzwingung eines neuen und ent¬ scheidenden Vertrages mit Arran verloren gegangen sein würde. Nichts könnte deutlicher den Plan der Franzosen wie die Art und Weise seiner Ausführung Zeigen, die beide sich auf die Annahme gründeten, daß Frankreich berechtigt sei, sich die Schutzherrschaft über Tonkin und Arran zu erzwingen und damit, wie wir hinzufügen dürfen, die Ausdehnung derselben auf das Königreich Siam vorzubereiten. Nachdem man soweit gelangt war, konnten die Franzosen nicht ohne Schaden für ihr Ansehen zurückweichen, der einer Verminderung ihres Ein¬ risses in Ostasien gleichgekommen wäre, und obwohl sie schon in einem frühe» Stadium dem Einsprüche Chinas auf ihrem Ervbernngswege begegneten, ließen sie sich nicht stören: der Hof von Peking wurde als halbbarbarische Macht an¬ gesehen, der nur dem Argumente der militärischen Gewalt zugänglich war. Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/373>, abgerufen am 01.09.2024.