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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Moriz Carriere und seine Gedichte.

Katheder als "Privatdozent" besteigen konnte. Die politisch schwüle Zeit muß
auch persönlich für unseni Freund schwer gewesen sein. Seine Harfe verstummt.
Nur weniges bringen diese Jahre. Aus dem Gedichte "Alexander," dem er¬
greifende" Liedercyklus "Muhamed" spüren wir die Sehnsucht nach einer neuen
Zeit. Und persönlich Schweres spricht ans den Nummern "Dozentenschnsncht,"
"Ermannung," "Genius." Da ruft sich der Dichter zu:


Im Thau der Mäuucrthränc will die Saul
Der Thaten reifen. Stolzes Herz, halt ans!
---- Vertraue nur und hoffe!
Noch schüttelst gestern dn umsonst den Baum,
Und herb und bitter wäre dir die Frucht,
Die er versagt, und heute fällt bereits
Von selbst die Goldorange süß und schwer
In deine offne Hand! Reif sein ist alles.

"Reif sein ist alles." Im Kampfe mit sich und mit der Welt war der
Denker lind Dichter herangereift. Dies bewies er durch eine wissenschaftliche
That. Es war das umfassende Werk: "Die philosophische Weltanschauung der
Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart" (1847). Dieses Buch,
noch heute ein unschätzbares Quellenwerk für jene wichtige Periode und eine
viel benutzte Fundgrube, begründete den Ruhm des Forschers, der sich schon
vorher durch treffliche Arbeiten bekannt gemacht hatte. Es verbindet tiefgründige
Gelehrsamkeit mit glänzender Darstellung. Der philosophische Gedankengehalt
der Reformations- und Renaissancezeit wurde hier zum erstenmale klar dar¬
gelegt. Kopernikus und Kepler, Erasmus und Luther, Valentin Weigel und
Böhme, Cardanus und Telestns, Vrnno und Vanini, Galilei und Campanella
find die Geistesheroen, welche in diesem Werte ausführlich und liebevoll geschildert
werden. Zugleich aber sprach Carriere sein eignes Glaubensbekenntnis aus:
daß Jmmencmz und Transcendenz, Pantheismus und Deismus uicht als Wider¬
sprüche zu behandeln, sondern als einander ergänzende Halbheiten zu betrachten,
zu überwinden und zu versöhnen seien. Was in Spinoza und Leibniz aus-
einandergegangen, er sah es in Bruno und Böhme noch in keimkräftiger Tota¬
lität verschmolzen. Dies Ganze nach der wissenschaftlich heilsamen Scheidung
wiederherzustellen, schien ihm nun die Aufgabe der Philosophie, nachdem sie
durch Kants Kritik hindurchgegangen. Dies ist die Stellung, die man "Neal-
idealismus" nannte. Während Männer wie Ulrici, I. H. Fichte, Weiße den¬
selben als "ethischen Theismus" ausbildeten, prägte Carriere dieser Richtung
(ähnlich wie Lotze) den ästhetischen Stempel auf. Einen "ästhetischen Theis¬
mus" möchten wir seine Stellung nennen, welche er in eigenartiger Weise zum
Ausdruck brachte. Zur nähern Darlegung dieser Ideen erschienen die viel¬
gelesenen "Religiösen Reden für das deutsche Volk," welche die Kritik mit
ähnlichen Veröffentlichungen Fichtes und Schleiermachers verglich. Christentum


Moriz Carriere und seine Gedichte.

Katheder als „Privatdozent" besteigen konnte. Die politisch schwüle Zeit muß
auch persönlich für unseni Freund schwer gewesen sein. Seine Harfe verstummt.
Nur weniges bringen diese Jahre. Aus dem Gedichte „Alexander," dem er¬
greifende» Liedercyklus „Muhamed" spüren wir die Sehnsucht nach einer neuen
Zeit. Und persönlich Schweres spricht ans den Nummern „Dozentenschnsncht,"
„Ermannung," „Genius." Da ruft sich der Dichter zu:


Im Thau der Mäuucrthränc will die Saul
Der Thaten reifen. Stolzes Herz, halt ans!
---- Vertraue nur und hoffe!
Noch schüttelst gestern dn umsonst den Baum,
Und herb und bitter wäre dir die Frucht,
Die er versagt, und heute fällt bereits
Von selbst die Goldorange süß und schwer
In deine offne Hand! Reif sein ist alles.

„Reif sein ist alles." Im Kampfe mit sich und mit der Welt war der
Denker lind Dichter herangereift. Dies bewies er durch eine wissenschaftliche
That. Es war das umfassende Werk: „Die philosophische Weltanschauung der
Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart" (1847). Dieses Buch,
noch heute ein unschätzbares Quellenwerk für jene wichtige Periode und eine
viel benutzte Fundgrube, begründete den Ruhm des Forschers, der sich schon
vorher durch treffliche Arbeiten bekannt gemacht hatte. Es verbindet tiefgründige
Gelehrsamkeit mit glänzender Darstellung. Der philosophische Gedankengehalt
der Reformations- und Renaissancezeit wurde hier zum erstenmale klar dar¬
gelegt. Kopernikus und Kepler, Erasmus und Luther, Valentin Weigel und
Böhme, Cardanus und Telestns, Vrnno und Vanini, Galilei und Campanella
find die Geistesheroen, welche in diesem Werte ausführlich und liebevoll geschildert
werden. Zugleich aber sprach Carriere sein eignes Glaubensbekenntnis aus:
daß Jmmencmz und Transcendenz, Pantheismus und Deismus uicht als Wider¬
sprüche zu behandeln, sondern als einander ergänzende Halbheiten zu betrachten,
zu überwinden und zu versöhnen seien. Was in Spinoza und Leibniz aus-
einandergegangen, er sah es in Bruno und Böhme noch in keimkräftiger Tota¬
lität verschmolzen. Dies Ganze nach der wissenschaftlich heilsamen Scheidung
wiederherzustellen, schien ihm nun die Aufgabe der Philosophie, nachdem sie
durch Kants Kritik hindurchgegangen. Dies ist die Stellung, die man „Neal-
idealismus" nannte. Während Männer wie Ulrici, I. H. Fichte, Weiße den¬
selben als „ethischen Theismus" ausbildeten, prägte Carriere dieser Richtung
(ähnlich wie Lotze) den ästhetischen Stempel auf. Einen „ästhetischen Theis¬
mus" möchten wir seine Stellung nennen, welche er in eigenartiger Weise zum
Ausdruck brachte. Zur nähern Darlegung dieser Ideen erschienen die viel¬
gelesenen „Religiösen Reden für das deutsche Volk," welche die Kritik mit
ähnlichen Veröffentlichungen Fichtes und Schleiermachers verglich. Christentum


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[0367] Moriz Carriere und seine Gedichte. Katheder als „Privatdozent" besteigen konnte. Die politisch schwüle Zeit muß auch persönlich für unseni Freund schwer gewesen sein. Seine Harfe verstummt. Nur weniges bringen diese Jahre. Aus dem Gedichte „Alexander," dem er¬ greifende» Liedercyklus „Muhamed" spüren wir die Sehnsucht nach einer neuen Zeit. Und persönlich Schweres spricht ans den Nummern „Dozentenschnsncht," „Ermannung," „Genius." Da ruft sich der Dichter zu: Im Thau der Mäuucrthränc will die Saul Der Thaten reifen. Stolzes Herz, halt ans! ---- Vertraue nur und hoffe! Noch schüttelst gestern dn umsonst den Baum, Und herb und bitter wäre dir die Frucht, Die er versagt, und heute fällt bereits Von selbst die Goldorange süß und schwer In deine offne Hand! Reif sein ist alles. „Reif sein ist alles." Im Kampfe mit sich und mit der Welt war der Denker lind Dichter herangereift. Dies bewies er durch eine wissenschaftliche That. Es war das umfassende Werk: „Die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart" (1847). Dieses Buch, noch heute ein unschätzbares Quellenwerk für jene wichtige Periode und eine viel benutzte Fundgrube, begründete den Ruhm des Forschers, der sich schon vorher durch treffliche Arbeiten bekannt gemacht hatte. Es verbindet tiefgründige Gelehrsamkeit mit glänzender Darstellung. Der philosophische Gedankengehalt der Reformations- und Renaissancezeit wurde hier zum erstenmale klar dar¬ gelegt. Kopernikus und Kepler, Erasmus und Luther, Valentin Weigel und Böhme, Cardanus und Telestns, Vrnno und Vanini, Galilei und Campanella find die Geistesheroen, welche in diesem Werte ausführlich und liebevoll geschildert werden. Zugleich aber sprach Carriere sein eignes Glaubensbekenntnis aus: daß Jmmencmz und Transcendenz, Pantheismus und Deismus uicht als Wider¬ sprüche zu behandeln, sondern als einander ergänzende Halbheiten zu betrachten, zu überwinden und zu versöhnen seien. Was in Spinoza und Leibniz aus- einandergegangen, er sah es in Bruno und Böhme noch in keimkräftiger Tota¬ lität verschmolzen. Dies Ganze nach der wissenschaftlich heilsamen Scheidung wiederherzustellen, schien ihm nun die Aufgabe der Philosophie, nachdem sie durch Kants Kritik hindurchgegangen. Dies ist die Stellung, die man „Neal- idealismus" nannte. Während Männer wie Ulrici, I. H. Fichte, Weiße den¬ selben als „ethischen Theismus" ausbildeten, prägte Carriere dieser Richtung (ähnlich wie Lotze) den ästhetischen Stempel auf. Einen „ästhetischen Theis¬ mus" möchten wir seine Stellung nennen, welche er in eigenartiger Weise zum Ausdruck brachte. Zur nähern Darlegung dieser Ideen erschienen die viel¬ gelesenen „Religiösen Reden für das deutsche Volk," welche die Kritik mit ähnlichen Veröffentlichungen Fichtes und Schleiermachers verglich. Christentum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/367>, abgerufen am 28.07.2024.