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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Der verfassungsbruch der Fortschrittspartei.

Diese sittliche Entrüstung am unrechten Orte bildet recht den Gegensatz zu
dem, was jetzt über den Diätenfonds der Fortschrittspartei bekannt geworden ist.
Bisher hatte es den Anschein, daß die Herren Richter, Hamel und Genossen die
Verfassnngstrenc gepachtet hätten, daß ohne ihre unablässige Wacht und Hut
der böse Kanzler mit seinen reaktionären Gehilfen einen Verfassnngsartikel nach
dem andern beseitigt haben würde. Aber stehe da, jetzt findet sich eine vor¬
treffliche Gelegenheit zur sittlichen Entrüstung ster Herrn Hänel, zu einer Anklage
wegen Verfassuiigsbrnchs vor dem deutschen Volke und Europa, aber die An¬
klage kann sich jetzt nicht gegen den Kanzler richten, sie muß die Spitze gegen
die eigne Brust, gegen die Freunde und Genossen kehren. Ja Bauer, das ist
ganz was andres! Wenn die Fortschrittspartei die Verfassung bricht, da redet
man nicht darüber. Die Maske herunter von dem heuchlerischen Antlitz der
es,nx donQOMiruzs!

Schon vor Jahren tauchte in fortschrittlichen Blättern der Gedanke ans,
den auswärtigen Abgeordneten der Partei aus Parteifvnds eine Entschädigung
für ihren parlamentarischen Aufenthalt in Berlin -- nicht etwa für andre
Zwecke, Agitationsrcisen oder dergleichen -- für ihre Thätigkeit als Abgeord¬
nete zu gewähren. Diesen Gedanken hatte Herr Eugen Richter erfunden. Schon
damals machte zwar nicht in dem Tone sittlicher Entrüstung, wie er bei Ver-
fassnngsverletzungen üblich ist, aber mit Entschiedenheit die liberale und sogar
fortschrittliche Presse auf das "Bedenkliche" des Planes aufmerksam, der bald
darauf -- wie alles, was den Herren unangenehm ist -- aus den Spalten der
Blätter verschwand. Der Gedanke selbst aber blieb nicht ruhen, und jetzt erfahren
wir bei der Greifswalder Wahl, daß jeder fortschrittliche, nicht in Berlin wohn¬
hafte Abgeordnete aus dem Parteifonds von dem Fraktionsvorstand 500 Mark
für die Session als Entschädigung für seine Thätigkeit erhalte. Die Thatsache
wird nicht in Abrede gestellt, die fortschrittliche Berliner Volkszeitung verteidigt
die Maßregel mit der an Herrn Richter gewohnten Unverfrorenheit, die Vossische
macht eine saure Miene, die andern liberalen Blätter, soweit sie von dem un¬
angenehmen Thema sprechen, halten diese Bezahlung noch immer für "bedenklich"
und ziehen -- wie freundlich! -- einen offenen Antrage im Reichstag auf Be¬
willigung von Diäten vor. Keiner bezeichnet dieses Verhalten als das, was es
ist, als einen offenbaren Verfassungsbruch.

Jedermann kennt die Kämpfe, die im konstituirenden Reichstage um das
allgemeine Wahlrecht gestritten wurden. Die treuesien Freunde des Kanzlers
trugen die lebhaftesten Bedenken, mit ihm diesen Schritt in das Ungewisse auf
einer bisher nur von demokratischer Seite gepriesenen Bahn zu thun. Welche
Hindernisse der Kanzler bei den Regierungen zu überwinden hatte, wird vielleicht
einmal später zutage treten. Aber das eine geht aus den Debatten des kon¬
stituirenden Reichstages unzweifelhaft hervor, daß die Gegner des allgemeinen
Wahlrechts dasselbe nur im Hinblick auf die Tatenlosigkeit der Mitglieder an-


Der verfassungsbruch der Fortschrittspartei.

Diese sittliche Entrüstung am unrechten Orte bildet recht den Gegensatz zu
dem, was jetzt über den Diätenfonds der Fortschrittspartei bekannt geworden ist.
Bisher hatte es den Anschein, daß die Herren Richter, Hamel und Genossen die
Verfassnngstrenc gepachtet hätten, daß ohne ihre unablässige Wacht und Hut
der böse Kanzler mit seinen reaktionären Gehilfen einen Verfassnngsartikel nach
dem andern beseitigt haben würde. Aber stehe da, jetzt findet sich eine vor¬
treffliche Gelegenheit zur sittlichen Entrüstung ster Herrn Hänel, zu einer Anklage
wegen Verfassuiigsbrnchs vor dem deutschen Volke und Europa, aber die An¬
klage kann sich jetzt nicht gegen den Kanzler richten, sie muß die Spitze gegen
die eigne Brust, gegen die Freunde und Genossen kehren. Ja Bauer, das ist
ganz was andres! Wenn die Fortschrittspartei die Verfassung bricht, da redet
man nicht darüber. Die Maske herunter von dem heuchlerischen Antlitz der
es,nx donQOMiruzs!

Schon vor Jahren tauchte in fortschrittlichen Blättern der Gedanke ans,
den auswärtigen Abgeordneten der Partei aus Parteifvnds eine Entschädigung
für ihren parlamentarischen Aufenthalt in Berlin — nicht etwa für andre
Zwecke, Agitationsrcisen oder dergleichen — für ihre Thätigkeit als Abgeord¬
nete zu gewähren. Diesen Gedanken hatte Herr Eugen Richter erfunden. Schon
damals machte zwar nicht in dem Tone sittlicher Entrüstung, wie er bei Ver-
fassnngsverletzungen üblich ist, aber mit Entschiedenheit die liberale und sogar
fortschrittliche Presse auf das „Bedenkliche" des Planes aufmerksam, der bald
darauf — wie alles, was den Herren unangenehm ist — aus den Spalten der
Blätter verschwand. Der Gedanke selbst aber blieb nicht ruhen, und jetzt erfahren
wir bei der Greifswalder Wahl, daß jeder fortschrittliche, nicht in Berlin wohn¬
hafte Abgeordnete aus dem Parteifonds von dem Fraktionsvorstand 500 Mark
für die Session als Entschädigung für seine Thätigkeit erhalte. Die Thatsache
wird nicht in Abrede gestellt, die fortschrittliche Berliner Volkszeitung verteidigt
die Maßregel mit der an Herrn Richter gewohnten Unverfrorenheit, die Vossische
macht eine saure Miene, die andern liberalen Blätter, soweit sie von dem un¬
angenehmen Thema sprechen, halten diese Bezahlung noch immer für „bedenklich"
und ziehen — wie freundlich! — einen offenen Antrage im Reichstag auf Be¬
willigung von Diäten vor. Keiner bezeichnet dieses Verhalten als das, was es
ist, als einen offenbaren Verfassungsbruch.

Jedermann kennt die Kämpfe, die im konstituirenden Reichstage um das
allgemeine Wahlrecht gestritten wurden. Die treuesien Freunde des Kanzlers
trugen die lebhaftesten Bedenken, mit ihm diesen Schritt in das Ungewisse auf
einer bisher nur von demokratischer Seite gepriesenen Bahn zu thun. Welche
Hindernisse der Kanzler bei den Regierungen zu überwinden hatte, wird vielleicht
einmal später zutage treten. Aber das eine geht aus den Debatten des kon¬
stituirenden Reichstages unzweifelhaft hervor, daß die Gegner des allgemeinen
Wahlrechts dasselbe nur im Hinblick auf die Tatenlosigkeit der Mitglieder an-


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[0340] Der verfassungsbruch der Fortschrittspartei. Diese sittliche Entrüstung am unrechten Orte bildet recht den Gegensatz zu dem, was jetzt über den Diätenfonds der Fortschrittspartei bekannt geworden ist. Bisher hatte es den Anschein, daß die Herren Richter, Hamel und Genossen die Verfassnngstrenc gepachtet hätten, daß ohne ihre unablässige Wacht und Hut der böse Kanzler mit seinen reaktionären Gehilfen einen Verfassnngsartikel nach dem andern beseitigt haben würde. Aber stehe da, jetzt findet sich eine vor¬ treffliche Gelegenheit zur sittlichen Entrüstung ster Herrn Hänel, zu einer Anklage wegen Verfassuiigsbrnchs vor dem deutschen Volke und Europa, aber die An¬ klage kann sich jetzt nicht gegen den Kanzler richten, sie muß die Spitze gegen die eigne Brust, gegen die Freunde und Genossen kehren. Ja Bauer, das ist ganz was andres! Wenn die Fortschrittspartei die Verfassung bricht, da redet man nicht darüber. Die Maske herunter von dem heuchlerischen Antlitz der es,nx donQOMiruzs! Schon vor Jahren tauchte in fortschrittlichen Blättern der Gedanke ans, den auswärtigen Abgeordneten der Partei aus Parteifvnds eine Entschädigung für ihren parlamentarischen Aufenthalt in Berlin — nicht etwa für andre Zwecke, Agitationsrcisen oder dergleichen — für ihre Thätigkeit als Abgeord¬ nete zu gewähren. Diesen Gedanken hatte Herr Eugen Richter erfunden. Schon damals machte zwar nicht in dem Tone sittlicher Entrüstung, wie er bei Ver- fassnngsverletzungen üblich ist, aber mit Entschiedenheit die liberale und sogar fortschrittliche Presse auf das „Bedenkliche" des Planes aufmerksam, der bald darauf — wie alles, was den Herren unangenehm ist — aus den Spalten der Blätter verschwand. Der Gedanke selbst aber blieb nicht ruhen, und jetzt erfahren wir bei der Greifswalder Wahl, daß jeder fortschrittliche, nicht in Berlin wohn¬ hafte Abgeordnete aus dem Parteifonds von dem Fraktionsvorstand 500 Mark für die Session als Entschädigung für seine Thätigkeit erhalte. Die Thatsache wird nicht in Abrede gestellt, die fortschrittliche Berliner Volkszeitung verteidigt die Maßregel mit der an Herrn Richter gewohnten Unverfrorenheit, die Vossische macht eine saure Miene, die andern liberalen Blätter, soweit sie von dem un¬ angenehmen Thema sprechen, halten diese Bezahlung noch immer für „bedenklich" und ziehen — wie freundlich! — einen offenen Antrage im Reichstag auf Be¬ willigung von Diäten vor. Keiner bezeichnet dieses Verhalten als das, was es ist, als einen offenbaren Verfassungsbruch. Jedermann kennt die Kämpfe, die im konstituirenden Reichstage um das allgemeine Wahlrecht gestritten wurden. Die treuesien Freunde des Kanzlers trugen die lebhaftesten Bedenken, mit ihm diesen Schritt in das Ungewisse auf einer bisher nur von demokratischer Seite gepriesenen Bahn zu thun. Welche Hindernisse der Kanzler bei den Regierungen zu überwinden hatte, wird vielleicht einmal später zutage treten. Aber das eine geht aus den Debatten des kon¬ stituirenden Reichstages unzweifelhaft hervor, daß die Gegner des allgemeinen Wahlrechts dasselbe nur im Hinblick auf die Tatenlosigkeit der Mitglieder an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/340>, abgerufen am 27.07.2024.