Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Bas Ministerium Ferry und seine Gegner.

sein würde. Mit andern Worten, er will radikcil, aber nicht zu radikal sein.
Seid dankbar für das Bisherige und beruhigt euch damit, ruft er den Franzosen
zu und denkt damit die Fraktionen der Rechten und die einigermaßen maßvollen
der Linke" für seine Politik zu gewinnen und sich so die Mehrheit in der Kammer
zu erhalten. Das kann ihm für die nächste Zeit gelingen, für die fernere Zu¬
kunft ist es kaum möglich. Als Ludwig Philipp durch eine Straßenrevolte die
Krone erlangt hatte, erklärten er und seine Anhänger weitere Angriffe auf die
bestehende Ordnung für nutzlos und strafbar, und sie erfolgten doch und fegten
ihn schließlich hinweg. Nachdem Gambetta als Führer der Radikalen bis zu
einer gewissen Stelle gekommen war, wollte er ihnen Stillstand gebieten, und
siehe dn, es mißlang ihm. Lord John Russell hielt die Reformbill von 1832
für den Abschluß der liberalen Bewegung in England und täuschte sich damit.
O'Connell wurde in seinen Forderungen von Parnell überboten, und dieser wieder
genügt mit seinem Programm den Feinern nicht. In Deutschland würden wir
ähnliches erleben, wenn die Fortschrittspartei ans Ruder käme. Ein noch
größerer Nachteil liegt aber sür Ferrh in dem Umstände, daß er sich in einem
hohen Amte befindet. Die Haupteigenschaft der Demokratie ist der Neid. Kein
Ministerium wird jemals bei der unruhigen Mißgunst, welche das Verhalten
der demokratischen Massen in den Großstädten Frankreichs bestimmt, so beliebt
werden, daß es sich lange halten kann. Man wird es hassen und befehden,
nicht sowohl weil es dies oder jenes gethan oder unterlassen hat, nicht sowohl
weil es schlecht, als weil es überhaupt regiert.

Wenn wir nur die Zahlenstärke der sich jetzt gegenüberstehenden Lager in
Betracht ziehen dürften, würden wir einen entschiedenen Sieg des Ministeriums
für lange Zeit zu erwarten berechtigt sein. Die Radikalen, gegen die Ferry
sich in den erwähnten Ansprachen erklärt hat, sind stark in Paris, Lyon und
Marseille, sonst aber allenthalben im Lande schwach und überdies gespalten,
auch befindet sich, von Mmenceau abgesehen, unter ihnen niemand, der einiges
staatsmännische Talent aufzuweisen hätte. Ihr Vorgehen gegen die Kirche wird
von der großen Mehrheit der Nation nicht gebilligt; denn auch die, welche für
ihre Person des Priesters nicht zu bedürfen meinen, sehen ihn als notwendig
für ihre Frauen und Kinder an. Dann flößt der Sozialismus, der ihre Be¬
strebungen färbt, den besitzenden Klassen, dem Kleinbürger und Bauer schwere
Bedenken ein, da sie in ihm Gefahren für ihren Acker- und Rentenbcsitz er¬
kennen. Nach diesen Elementen der französischen Gesellschaft sollte man annehmen,
daß sie denjenigen als ihren natürlichen Führer betrachten und stützen würden,
dessen Programm Liebe zur Ordnung und Achtung vor dein Eigentume mit
Förderung der modernen liberalen Ideen verbände, wie sie 1789 proklamirt
wurden. Das ist aber nach der Erfahrung zu urteilen nicht zu erwarten, wenig¬
stens nicht für die Dauer. Ludwig Philipp that sein bestes, die Rolle des
liberalen Königs zu spielen, erwarb sich aber damit nichts weniger als begei-


Grmzboten IV. 1883. 40
Bas Ministerium Ferry und seine Gegner.

sein würde. Mit andern Worten, er will radikcil, aber nicht zu radikal sein.
Seid dankbar für das Bisherige und beruhigt euch damit, ruft er den Franzosen
zu und denkt damit die Fraktionen der Rechten und die einigermaßen maßvollen
der Linke» für seine Politik zu gewinnen und sich so die Mehrheit in der Kammer
zu erhalten. Das kann ihm für die nächste Zeit gelingen, für die fernere Zu¬
kunft ist es kaum möglich. Als Ludwig Philipp durch eine Straßenrevolte die
Krone erlangt hatte, erklärten er und seine Anhänger weitere Angriffe auf die
bestehende Ordnung für nutzlos und strafbar, und sie erfolgten doch und fegten
ihn schließlich hinweg. Nachdem Gambetta als Führer der Radikalen bis zu
einer gewissen Stelle gekommen war, wollte er ihnen Stillstand gebieten, und
siehe dn, es mißlang ihm. Lord John Russell hielt die Reformbill von 1832
für den Abschluß der liberalen Bewegung in England und täuschte sich damit.
O'Connell wurde in seinen Forderungen von Parnell überboten, und dieser wieder
genügt mit seinem Programm den Feinern nicht. In Deutschland würden wir
ähnliches erleben, wenn die Fortschrittspartei ans Ruder käme. Ein noch
größerer Nachteil liegt aber sür Ferrh in dem Umstände, daß er sich in einem
hohen Amte befindet. Die Haupteigenschaft der Demokratie ist der Neid. Kein
Ministerium wird jemals bei der unruhigen Mißgunst, welche das Verhalten
der demokratischen Massen in den Großstädten Frankreichs bestimmt, so beliebt
werden, daß es sich lange halten kann. Man wird es hassen und befehden,
nicht sowohl weil es dies oder jenes gethan oder unterlassen hat, nicht sowohl
weil es schlecht, als weil es überhaupt regiert.

Wenn wir nur die Zahlenstärke der sich jetzt gegenüberstehenden Lager in
Betracht ziehen dürften, würden wir einen entschiedenen Sieg des Ministeriums
für lange Zeit zu erwarten berechtigt sein. Die Radikalen, gegen die Ferry
sich in den erwähnten Ansprachen erklärt hat, sind stark in Paris, Lyon und
Marseille, sonst aber allenthalben im Lande schwach und überdies gespalten,
auch befindet sich, von Mmenceau abgesehen, unter ihnen niemand, der einiges
staatsmännische Talent aufzuweisen hätte. Ihr Vorgehen gegen die Kirche wird
von der großen Mehrheit der Nation nicht gebilligt; denn auch die, welche für
ihre Person des Priesters nicht zu bedürfen meinen, sehen ihn als notwendig
für ihre Frauen und Kinder an. Dann flößt der Sozialismus, der ihre Be¬
strebungen färbt, den besitzenden Klassen, dem Kleinbürger und Bauer schwere
Bedenken ein, da sie in ihm Gefahren für ihren Acker- und Rentenbcsitz er¬
kennen. Nach diesen Elementen der französischen Gesellschaft sollte man annehmen,
daß sie denjenigen als ihren natürlichen Führer betrachten und stützen würden,
dessen Programm Liebe zur Ordnung und Achtung vor dein Eigentume mit
Förderung der modernen liberalen Ideen verbände, wie sie 1789 proklamirt
wurden. Das ist aber nach der Erfahrung zu urteilen nicht zu erwarten, wenig¬
stens nicht für die Dauer. Ludwig Philipp that sein bestes, die Rolle des
liberalen Königs zu spielen, erwarb sich aber damit nichts weniger als begei-


Grmzboten IV. 1883. 40
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0323" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154488"/>
          <fw type="header" place="top"> Bas Ministerium Ferry und seine Gegner.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_981" prev="#ID_980"> sein würde. Mit andern Worten, er will radikcil, aber nicht zu radikal sein.<lb/>
Seid dankbar für das Bisherige und beruhigt euch damit, ruft er den Franzosen<lb/>
zu und denkt damit die Fraktionen der Rechten und die einigermaßen maßvollen<lb/>
der Linke» für seine Politik zu gewinnen und sich so die Mehrheit in der Kammer<lb/>
zu erhalten. Das kann ihm für die nächste Zeit gelingen, für die fernere Zu¬<lb/>
kunft ist es kaum möglich. Als Ludwig Philipp durch eine Straßenrevolte die<lb/>
Krone erlangt hatte, erklärten er und seine Anhänger weitere Angriffe auf die<lb/>
bestehende Ordnung für nutzlos und strafbar, und sie erfolgten doch und fegten<lb/>
ihn schließlich hinweg. Nachdem Gambetta als Führer der Radikalen bis zu<lb/>
einer gewissen Stelle gekommen war, wollte er ihnen Stillstand gebieten, und<lb/>
siehe dn, es mißlang ihm. Lord John Russell hielt die Reformbill von 1832<lb/>
für den Abschluß der liberalen Bewegung in England und täuschte sich damit.<lb/>
O'Connell wurde in seinen Forderungen von Parnell überboten, und dieser wieder<lb/>
genügt mit seinem Programm den Feinern nicht. In Deutschland würden wir<lb/>
ähnliches erleben, wenn die Fortschrittspartei ans Ruder käme. Ein noch<lb/>
größerer Nachteil liegt aber sür Ferrh in dem Umstände, daß er sich in einem<lb/>
hohen Amte befindet. Die Haupteigenschaft der Demokratie ist der Neid. Kein<lb/>
Ministerium wird jemals bei der unruhigen Mißgunst, welche das Verhalten<lb/>
der demokratischen Massen in den Großstädten Frankreichs bestimmt, so beliebt<lb/>
werden, daß es sich lange halten kann. Man wird es hassen und befehden,<lb/>
nicht sowohl weil es dies oder jenes gethan oder unterlassen hat, nicht sowohl<lb/>
weil es schlecht, als weil es überhaupt regiert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_982" next="#ID_983"> Wenn wir nur die Zahlenstärke der sich jetzt gegenüberstehenden Lager in<lb/>
Betracht ziehen dürften, würden wir einen entschiedenen Sieg des Ministeriums<lb/>
für lange Zeit zu erwarten berechtigt sein. Die Radikalen, gegen die Ferry<lb/>
sich in den erwähnten Ansprachen erklärt hat, sind stark in Paris, Lyon und<lb/>
Marseille, sonst aber allenthalben im Lande schwach und überdies gespalten,<lb/>
auch befindet sich, von Mmenceau abgesehen, unter ihnen niemand, der einiges<lb/>
staatsmännische Talent aufzuweisen hätte. Ihr Vorgehen gegen die Kirche wird<lb/>
von der großen Mehrheit der Nation nicht gebilligt; denn auch die, welche für<lb/>
ihre Person des Priesters nicht zu bedürfen meinen, sehen ihn als notwendig<lb/>
für ihre Frauen und Kinder an. Dann flößt der Sozialismus, der ihre Be¬<lb/>
strebungen färbt, den besitzenden Klassen, dem Kleinbürger und Bauer schwere<lb/>
Bedenken ein, da sie in ihm Gefahren für ihren Acker- und Rentenbcsitz er¬<lb/>
kennen. Nach diesen Elementen der französischen Gesellschaft sollte man annehmen,<lb/>
daß sie denjenigen als ihren natürlichen Führer betrachten und stützen würden,<lb/>
dessen Programm Liebe zur Ordnung und Achtung vor dein Eigentume mit<lb/>
Förderung der modernen liberalen Ideen verbände, wie sie 1789 proklamirt<lb/>
wurden. Das ist aber nach der Erfahrung zu urteilen nicht zu erwarten, wenig¬<lb/>
stens nicht für die Dauer. Ludwig Philipp that sein bestes, die Rolle des<lb/>
liberalen Königs zu spielen, erwarb sich aber damit nichts weniger als begei-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grmzboten IV. 1883. 40</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0323] Bas Ministerium Ferry und seine Gegner. sein würde. Mit andern Worten, er will radikcil, aber nicht zu radikal sein. Seid dankbar für das Bisherige und beruhigt euch damit, ruft er den Franzosen zu und denkt damit die Fraktionen der Rechten und die einigermaßen maßvollen der Linke» für seine Politik zu gewinnen und sich so die Mehrheit in der Kammer zu erhalten. Das kann ihm für die nächste Zeit gelingen, für die fernere Zu¬ kunft ist es kaum möglich. Als Ludwig Philipp durch eine Straßenrevolte die Krone erlangt hatte, erklärten er und seine Anhänger weitere Angriffe auf die bestehende Ordnung für nutzlos und strafbar, und sie erfolgten doch und fegten ihn schließlich hinweg. Nachdem Gambetta als Führer der Radikalen bis zu einer gewissen Stelle gekommen war, wollte er ihnen Stillstand gebieten, und siehe dn, es mißlang ihm. Lord John Russell hielt die Reformbill von 1832 für den Abschluß der liberalen Bewegung in England und täuschte sich damit. O'Connell wurde in seinen Forderungen von Parnell überboten, und dieser wieder genügt mit seinem Programm den Feinern nicht. In Deutschland würden wir ähnliches erleben, wenn die Fortschrittspartei ans Ruder käme. Ein noch größerer Nachteil liegt aber sür Ferrh in dem Umstände, daß er sich in einem hohen Amte befindet. Die Haupteigenschaft der Demokratie ist der Neid. Kein Ministerium wird jemals bei der unruhigen Mißgunst, welche das Verhalten der demokratischen Massen in den Großstädten Frankreichs bestimmt, so beliebt werden, daß es sich lange halten kann. Man wird es hassen und befehden, nicht sowohl weil es dies oder jenes gethan oder unterlassen hat, nicht sowohl weil es schlecht, als weil es überhaupt regiert. Wenn wir nur die Zahlenstärke der sich jetzt gegenüberstehenden Lager in Betracht ziehen dürften, würden wir einen entschiedenen Sieg des Ministeriums für lange Zeit zu erwarten berechtigt sein. Die Radikalen, gegen die Ferry sich in den erwähnten Ansprachen erklärt hat, sind stark in Paris, Lyon und Marseille, sonst aber allenthalben im Lande schwach und überdies gespalten, auch befindet sich, von Mmenceau abgesehen, unter ihnen niemand, der einiges staatsmännische Talent aufzuweisen hätte. Ihr Vorgehen gegen die Kirche wird von der großen Mehrheit der Nation nicht gebilligt; denn auch die, welche für ihre Person des Priesters nicht zu bedürfen meinen, sehen ihn als notwendig für ihre Frauen und Kinder an. Dann flößt der Sozialismus, der ihre Be¬ strebungen färbt, den besitzenden Klassen, dem Kleinbürger und Bauer schwere Bedenken ein, da sie in ihm Gefahren für ihren Acker- und Rentenbcsitz er¬ kennen. Nach diesen Elementen der französischen Gesellschaft sollte man annehmen, daß sie denjenigen als ihren natürlichen Führer betrachten und stützen würden, dessen Programm Liebe zur Ordnung und Achtung vor dein Eigentume mit Förderung der modernen liberalen Ideen verbände, wie sie 1789 proklamirt wurden. Das ist aber nach der Erfahrung zu urteilen nicht zu erwarten, wenig¬ stens nicht für die Dauer. Ludwig Philipp that sein bestes, die Rolle des liberalen Königs zu spielen, erwarb sich aber damit nichts weniger als begei- Grmzboten IV. 1883. 40

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/323
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/323>, abgerufen am 28.07.2024.