Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Gedanken über Goethe.

hervor. Dort gilt die äußere Schicklichkeit alles, das Herz, der innere Mensch
nichts. Werther findet "unter dein garstigen Volke" nur "glänzendes Elend,
lange Weile"; es herrschen "die elendesten, erbärmlichsten Leidenschaften," am
meisten die Nangsucht; "sie passen mir ans, wie sie einander ein Schrittchen
abgewinnen können"; da ist ein Weib, die unterhält jedermann von ihrem Adel;
eine andre hat "keine Stütze, als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm,
als den Stand, in dem sie sich vcrpalissadirt, kein Ergötzen, als von ihrem Stock¬
werk herab über die bürgerlichen Häupter hinwegzusehen." Werther hat sich
eines Abends uach Tisch zu lange im Hause des Grafen aufgehalten; da kommt
allmählich die "noble Gesellschaft," in die er nicht hineingehört, und fie machen,
da sie ihn erblicken, "ihre hvchadlichen Augen und Naslöcher," und es kommt
soweit, daß der Graf den bürgerlichen Eindringling bitten muß, sich zu ent¬
fernen. Werther thut das gern und fährt auf einen Hügel, die Sonne unter¬
gehen zu sehen und dabei im Homer zu lesen -- wiederum die Unendlichkeit
des Gemütes im Gegensatz zu den Schranken der Konvention. Nachher hört
er, daß die Geschichte von Mund zu Munde geht und schadenfroh weiter erzählt
wird, und daß man ihm, dem Übermütigen, der, weil er geistreich ist, sich über
alles glaubt hinwegsetzen zu tonnen, die empfangene Züchtigung gönnt, und dies
Gerede kränkt ihn ernstlich und ist ein Grund mehr, seinen Abschied zu fordern.
Hier haben wir auch bei Goethe den Freiheitskampf des achtzehnten Jahr¬
hunderts, die Erbitterung gegen die überlieferten Stufen und Stände, jene Ge¬
sinnung, die in soviel Dramen, in denen alle Höhergestellten als ebensoviel
Bösewichter erschienen, zum Ausdruck kam, am grellsten und glühendsten, un¬
vergänglich bis auf den heutigen Tag, in "Kabale und Liebe." Doch Goethe
blieb dabei nicht; bald sollte sich ihm in Weimar das Leben der Vornehmen mich
von der positiven Seite zeigen, als eine gleichfalls inhaltsvolle Form des Mensch¬
lichen; und Werther selbst sagt dazwischen auch: "Zwar weiß ich so gut als
einer, wie nötig der Unterschied der Stände ist, wieviel Vorteile er mir selber
schafft, nur soll er mir nicht gerade im Wege stehen" n. s. w.

Goethe kam als Natursvhn nach Weimar, voll jugendlicher Lebenskraft,
geplagt von einer rastlosen Phantasie, und darum von unnennbaren Stimmnnge",
nachlässig in der Haltung, zutraulich in der Rede, voll Hingabe und offnen
Herzens, bald hingcschmolzcn, mädchenhaft weich, bald brausend und wild --
und nun sollte er lernen, im Verkehr edler Menschen der höhern Macht der
Sitte sich beugen und mit behutsamer Mäßigung sein Inneres halb darstellen,
halb verhüllen. In einem langen Unterricht weihte ihn Charlotte von Stein,
die Besänftigerin, die Beichtigerin, wie er sie nennt, zu dem neuen Berufe ein;
seine tiefe sittliche Anlage kam dem Werke der Umwandlung helfend entgegen.
Die Aristokratie befeindete den Emporkömmling mit allen Kräften, heimlich und
öffentlich, so der Minister Freiherr von Fritsch, der ehemalige Erzieher des
Herzogs Graf von Görz, selbst Dalberg -- und hatten sie nicht Recht? War


Gedanken über Goethe.

hervor. Dort gilt die äußere Schicklichkeit alles, das Herz, der innere Mensch
nichts. Werther findet „unter dein garstigen Volke" nur „glänzendes Elend,
lange Weile"; es herrschen „die elendesten, erbärmlichsten Leidenschaften," am
meisten die Nangsucht; „sie passen mir ans, wie sie einander ein Schrittchen
abgewinnen können"; da ist ein Weib, die unterhält jedermann von ihrem Adel;
eine andre hat „keine Stütze, als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm,
als den Stand, in dem sie sich vcrpalissadirt, kein Ergötzen, als von ihrem Stock¬
werk herab über die bürgerlichen Häupter hinwegzusehen." Werther hat sich
eines Abends uach Tisch zu lange im Hause des Grafen aufgehalten; da kommt
allmählich die „noble Gesellschaft," in die er nicht hineingehört, und fie machen,
da sie ihn erblicken, „ihre hvchadlichen Augen und Naslöcher," und es kommt
soweit, daß der Graf den bürgerlichen Eindringling bitten muß, sich zu ent¬
fernen. Werther thut das gern und fährt auf einen Hügel, die Sonne unter¬
gehen zu sehen und dabei im Homer zu lesen — wiederum die Unendlichkeit
des Gemütes im Gegensatz zu den Schranken der Konvention. Nachher hört
er, daß die Geschichte von Mund zu Munde geht und schadenfroh weiter erzählt
wird, und daß man ihm, dem Übermütigen, der, weil er geistreich ist, sich über
alles glaubt hinwegsetzen zu tonnen, die empfangene Züchtigung gönnt, und dies
Gerede kränkt ihn ernstlich und ist ein Grund mehr, seinen Abschied zu fordern.
Hier haben wir auch bei Goethe den Freiheitskampf des achtzehnten Jahr¬
hunderts, die Erbitterung gegen die überlieferten Stufen und Stände, jene Ge¬
sinnung, die in soviel Dramen, in denen alle Höhergestellten als ebensoviel
Bösewichter erschienen, zum Ausdruck kam, am grellsten und glühendsten, un¬
vergänglich bis auf den heutigen Tag, in „Kabale und Liebe." Doch Goethe
blieb dabei nicht; bald sollte sich ihm in Weimar das Leben der Vornehmen mich
von der positiven Seite zeigen, als eine gleichfalls inhaltsvolle Form des Mensch¬
lichen; und Werther selbst sagt dazwischen auch: „Zwar weiß ich so gut als
einer, wie nötig der Unterschied der Stände ist, wieviel Vorteile er mir selber
schafft, nur soll er mir nicht gerade im Wege stehen" n. s. w.

Goethe kam als Natursvhn nach Weimar, voll jugendlicher Lebenskraft,
geplagt von einer rastlosen Phantasie, und darum von unnennbaren Stimmnnge»,
nachlässig in der Haltung, zutraulich in der Rede, voll Hingabe und offnen
Herzens, bald hingcschmolzcn, mädchenhaft weich, bald brausend und wild —
und nun sollte er lernen, im Verkehr edler Menschen der höhern Macht der
Sitte sich beugen und mit behutsamer Mäßigung sein Inneres halb darstellen,
halb verhüllen. In einem langen Unterricht weihte ihn Charlotte von Stein,
die Besänftigerin, die Beichtigerin, wie er sie nennt, zu dem neuen Berufe ein;
seine tiefe sittliche Anlage kam dem Werke der Umwandlung helfend entgegen.
Die Aristokratie befeindete den Emporkömmling mit allen Kräften, heimlich und
öffentlich, so der Minister Freiherr von Fritsch, der ehemalige Erzieher des
Herzogs Graf von Görz, selbst Dalberg — und hatten sie nicht Recht? War


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0304" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154469"/>
          <fw type="header" place="top"> Gedanken über Goethe.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_917" prev="#ID_916"> hervor. Dort gilt die äußere Schicklichkeit alles, das Herz, der innere Mensch<lb/>
nichts. Werther findet &#x201E;unter dein garstigen Volke" nur &#x201E;glänzendes Elend,<lb/>
lange Weile"; es herrschen &#x201E;die elendesten, erbärmlichsten Leidenschaften," am<lb/>
meisten die Nangsucht; &#x201E;sie passen mir ans, wie sie einander ein Schrittchen<lb/>
abgewinnen können"; da ist ein Weib, die unterhält jedermann von ihrem Adel;<lb/>
eine andre hat &#x201E;keine Stütze, als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm,<lb/>
als den Stand, in dem sie sich vcrpalissadirt, kein Ergötzen, als von ihrem Stock¬<lb/>
werk herab über die bürgerlichen Häupter hinwegzusehen." Werther hat sich<lb/>
eines Abends uach Tisch zu lange im Hause des Grafen aufgehalten; da kommt<lb/>
allmählich die &#x201E;noble Gesellschaft," in die er nicht hineingehört, und fie machen,<lb/>
da sie ihn erblicken, &#x201E;ihre hvchadlichen Augen und Naslöcher," und es kommt<lb/>
soweit, daß der Graf den bürgerlichen Eindringling bitten muß, sich zu ent¬<lb/>
fernen. Werther thut das gern und fährt auf einen Hügel, die Sonne unter¬<lb/>
gehen zu sehen und dabei im Homer zu lesen &#x2014; wiederum die Unendlichkeit<lb/>
des Gemütes im Gegensatz zu den Schranken der Konvention. Nachher hört<lb/>
er, daß die Geschichte von Mund zu Munde geht und schadenfroh weiter erzählt<lb/>
wird, und daß man ihm, dem Übermütigen, der, weil er geistreich ist, sich über<lb/>
alles glaubt hinwegsetzen zu tonnen, die empfangene Züchtigung gönnt, und dies<lb/>
Gerede kränkt ihn ernstlich und ist ein Grund mehr, seinen Abschied zu fordern.<lb/>
Hier haben wir auch bei Goethe den Freiheitskampf des achtzehnten Jahr¬<lb/>
hunderts, die Erbitterung gegen die überlieferten Stufen und Stände, jene Ge¬<lb/>
sinnung, die in soviel Dramen, in denen alle Höhergestellten als ebensoviel<lb/>
Bösewichter erschienen, zum Ausdruck kam, am grellsten und glühendsten, un¬<lb/>
vergänglich bis auf den heutigen Tag, in &#x201E;Kabale und Liebe." Doch Goethe<lb/>
blieb dabei nicht; bald sollte sich ihm in Weimar das Leben der Vornehmen mich<lb/>
von der positiven Seite zeigen, als eine gleichfalls inhaltsvolle Form des Mensch¬<lb/>
lichen; und Werther selbst sagt dazwischen auch: &#x201E;Zwar weiß ich so gut als<lb/>
einer, wie nötig der Unterschied der Stände ist, wieviel Vorteile er mir selber<lb/>
schafft, nur soll er mir nicht gerade im Wege stehen" n. s. w.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_918" next="#ID_919"> Goethe kam als Natursvhn nach Weimar, voll jugendlicher Lebenskraft,<lb/>
geplagt von einer rastlosen Phantasie, und darum von unnennbaren Stimmnnge»,<lb/>
nachlässig in der Haltung, zutraulich in der Rede, voll Hingabe und offnen<lb/>
Herzens, bald hingcschmolzcn, mädchenhaft weich, bald brausend und wild &#x2014;<lb/>
und nun sollte er lernen, im Verkehr edler Menschen der höhern Macht der<lb/>
Sitte sich beugen und mit behutsamer Mäßigung sein Inneres halb darstellen,<lb/>
halb verhüllen. In einem langen Unterricht weihte ihn Charlotte von Stein,<lb/>
die Besänftigerin, die Beichtigerin, wie er sie nennt, zu dem neuen Berufe ein;<lb/>
seine tiefe sittliche Anlage kam dem Werke der Umwandlung helfend entgegen.<lb/>
Die Aristokratie befeindete den Emporkömmling mit allen Kräften, heimlich und<lb/>
öffentlich, so der Minister Freiherr von Fritsch, der ehemalige Erzieher des<lb/>
Herzogs Graf von Görz, selbst Dalberg &#x2014; und hatten sie nicht Recht? War</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0304] Gedanken über Goethe. hervor. Dort gilt die äußere Schicklichkeit alles, das Herz, der innere Mensch nichts. Werther findet „unter dein garstigen Volke" nur „glänzendes Elend, lange Weile"; es herrschen „die elendesten, erbärmlichsten Leidenschaften," am meisten die Nangsucht; „sie passen mir ans, wie sie einander ein Schrittchen abgewinnen können"; da ist ein Weib, die unterhält jedermann von ihrem Adel; eine andre hat „keine Stütze, als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm, als den Stand, in dem sie sich vcrpalissadirt, kein Ergötzen, als von ihrem Stock¬ werk herab über die bürgerlichen Häupter hinwegzusehen." Werther hat sich eines Abends uach Tisch zu lange im Hause des Grafen aufgehalten; da kommt allmählich die „noble Gesellschaft," in die er nicht hineingehört, und fie machen, da sie ihn erblicken, „ihre hvchadlichen Augen und Naslöcher," und es kommt soweit, daß der Graf den bürgerlichen Eindringling bitten muß, sich zu ent¬ fernen. Werther thut das gern und fährt auf einen Hügel, die Sonne unter¬ gehen zu sehen und dabei im Homer zu lesen — wiederum die Unendlichkeit des Gemütes im Gegensatz zu den Schranken der Konvention. Nachher hört er, daß die Geschichte von Mund zu Munde geht und schadenfroh weiter erzählt wird, und daß man ihm, dem Übermütigen, der, weil er geistreich ist, sich über alles glaubt hinwegsetzen zu tonnen, die empfangene Züchtigung gönnt, und dies Gerede kränkt ihn ernstlich und ist ein Grund mehr, seinen Abschied zu fordern. Hier haben wir auch bei Goethe den Freiheitskampf des achtzehnten Jahr¬ hunderts, die Erbitterung gegen die überlieferten Stufen und Stände, jene Ge¬ sinnung, die in soviel Dramen, in denen alle Höhergestellten als ebensoviel Bösewichter erschienen, zum Ausdruck kam, am grellsten und glühendsten, un¬ vergänglich bis auf den heutigen Tag, in „Kabale und Liebe." Doch Goethe blieb dabei nicht; bald sollte sich ihm in Weimar das Leben der Vornehmen mich von der positiven Seite zeigen, als eine gleichfalls inhaltsvolle Form des Mensch¬ lichen; und Werther selbst sagt dazwischen auch: „Zwar weiß ich so gut als einer, wie nötig der Unterschied der Stände ist, wieviel Vorteile er mir selber schafft, nur soll er mir nicht gerade im Wege stehen" n. s. w. Goethe kam als Natursvhn nach Weimar, voll jugendlicher Lebenskraft, geplagt von einer rastlosen Phantasie, und darum von unnennbaren Stimmnnge», nachlässig in der Haltung, zutraulich in der Rede, voll Hingabe und offnen Herzens, bald hingcschmolzcn, mädchenhaft weich, bald brausend und wild — und nun sollte er lernen, im Verkehr edler Menschen der höhern Macht der Sitte sich beugen und mit behutsamer Mäßigung sein Inneres halb darstellen, halb verhüllen. In einem langen Unterricht weihte ihn Charlotte von Stein, die Besänftigerin, die Beichtigerin, wie er sie nennt, zu dem neuen Berufe ein; seine tiefe sittliche Anlage kam dem Werke der Umwandlung helfend entgegen. Die Aristokratie befeindete den Emporkömmling mit allen Kräften, heimlich und öffentlich, so der Minister Freiherr von Fritsch, der ehemalige Erzieher des Herzogs Graf von Görz, selbst Dalberg — und hatten sie nicht Recht? War

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/304
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/304>, abgerufen am 28.07.2024.