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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

wiederum Sonntag; nur heute hat der arbeitsame Hauswirt Zeit, behaglich
unter dem Thorweg und später im kühleren Saale sitzend rin Frau und Nachbarn
zu schwatzen; nur heute können die letztern ans der Stelle die Fahrt ins Dorf
machen und dort sich erkundigen und verweilen. Daß die vergangene Zeit nach
der Feuersbrunst berechnet wird, ist, wie wir beiläufig hinzusetzen, gleichfalls
ein echter, dem Leben kleiner Städte entnommener Zug: in dem Jahre, wo es
brannte, war er ein Knabe von zehn Jahren, folglich muß er jetzt dreißig zählen,
oder: es war bald nach dem großen Feuer, oder ähnliche Redensarten, die zu
fallen pflegen, wenn die Rechnung nicht stimmen will, oder die Bürger beim
Glase über ein Datum uneins sind.

Was die Feiertage im Laufe des Jahres sind -- Lichtblicke, die von ferne
winken --, das ist in der Betrachtung des Lebens überhaupt der Traum von
Utopien, das Märchen vom Schlaraffcnlande. Die Zeiten sind schwer, die Arbeit
drückt, die Bedürfnisse steigen; schaffe Geld, heißt es, wenn Frau und Kinder
gekleidet und satt werde" sollen, und die letztern haben guten Appetit -- wie
schön müßte es im Lande des Wunsches sein, wo die Hänser mit Kuchen ge¬
deckt (euoLÄMÄ, x^s as ooeÄMs), die Zäune mit Würsten geflochten sind, wo
der Müßiggang belohnt, der Fleiß bestraft wird und niemand Bezahlung ver¬
langt oder annimmt. Dies ist seit Jahrhunderten, schon seit Aristophanes und
seinem Wolkenkukuksheim, ein vielbeliebtes, immer willkommenes Thema, das
aber nirgends mit so heiterer Grazie behandelt ist als in der ersten Epistel.
Alles Grobe ist ausgeschieden, altgriechische Lebensform adelt die in reinem Fluß
der Rede behaglich weitergetragenen Bilder einer verkehrten Welt. "Aber hüte
dich wohl," ruft noch zum Schlüsse der Richter dem guten Hans Ohnesorge zu,


daß nicht ein schändlicher Rückfall
Dich zur Arbeit verleite, daß man nicht etwa das Grabscheit
Oder das Ruder bei dir im Hause finde, du wärest
Gleich ans immer verloren und ohne Nahrung und Ehre.

Schmunzelnd hört das der wackere Meister und kehrt halb getröstet zu Hobel
und Ambos zurück oder holt im Wirtshaus das Geldstück hervor, das so sauer
verdient wird und so leicht vertrunken ist.

Nicht bloß die Männer müssen arbeiten, auch die weibliche Hausgenossen¬
schaft darf die Hände nicht in den Schoß legen. Daß die Bürgermädchen mit
ihren Krügen am Brunnen zusammenkommen, haben wir schon an andrer Stelle
bemerkt; dort halten sie üble Nachrede, es dauert sie das Unglück, es ärgert
sie das Glück des Nächsten, und die Zünglein gehen fleißig hin und her, aber
die zu lange ausbleibt, wird, wie Dorothea sagt, mit Recht getadelt. Auch die
Bank an der Thür des Hauses ist solch ein Ort lieblichen Schwätzens; sie fehlt
auch in dem Landstädtchen nicht, wo Wilhelm Philinens Bekanntschaft macht.
Dorthin entschlüpft das Mädchen in der Dämmerung und wechselt verstohlene


Gedanken über Goethe.

wiederum Sonntag; nur heute hat der arbeitsame Hauswirt Zeit, behaglich
unter dem Thorweg und später im kühleren Saale sitzend rin Frau und Nachbarn
zu schwatzen; nur heute können die letztern ans der Stelle die Fahrt ins Dorf
machen und dort sich erkundigen und verweilen. Daß die vergangene Zeit nach
der Feuersbrunst berechnet wird, ist, wie wir beiläufig hinzusetzen, gleichfalls
ein echter, dem Leben kleiner Städte entnommener Zug: in dem Jahre, wo es
brannte, war er ein Knabe von zehn Jahren, folglich muß er jetzt dreißig zählen,
oder: es war bald nach dem großen Feuer, oder ähnliche Redensarten, die zu
fallen pflegen, wenn die Rechnung nicht stimmen will, oder die Bürger beim
Glase über ein Datum uneins sind.

Was die Feiertage im Laufe des Jahres sind — Lichtblicke, die von ferne
winken —, das ist in der Betrachtung des Lebens überhaupt der Traum von
Utopien, das Märchen vom Schlaraffcnlande. Die Zeiten sind schwer, die Arbeit
drückt, die Bedürfnisse steigen; schaffe Geld, heißt es, wenn Frau und Kinder
gekleidet und satt werde» sollen, und die letztern haben guten Appetit — wie
schön müßte es im Lande des Wunsches sein, wo die Hänser mit Kuchen ge¬
deckt (euoLÄMÄ, x^s as ooeÄMs), die Zäune mit Würsten geflochten sind, wo
der Müßiggang belohnt, der Fleiß bestraft wird und niemand Bezahlung ver¬
langt oder annimmt. Dies ist seit Jahrhunderten, schon seit Aristophanes und
seinem Wolkenkukuksheim, ein vielbeliebtes, immer willkommenes Thema, das
aber nirgends mit so heiterer Grazie behandelt ist als in der ersten Epistel.
Alles Grobe ist ausgeschieden, altgriechische Lebensform adelt die in reinem Fluß
der Rede behaglich weitergetragenen Bilder einer verkehrten Welt. „Aber hüte
dich wohl," ruft noch zum Schlüsse der Richter dem guten Hans Ohnesorge zu,


daß nicht ein schändlicher Rückfall
Dich zur Arbeit verleite, daß man nicht etwa das Grabscheit
Oder das Ruder bei dir im Hause finde, du wärest
Gleich ans immer verloren und ohne Nahrung und Ehre.

Schmunzelnd hört das der wackere Meister und kehrt halb getröstet zu Hobel
und Ambos zurück oder holt im Wirtshaus das Geldstück hervor, das so sauer
verdient wird und so leicht vertrunken ist.

Nicht bloß die Männer müssen arbeiten, auch die weibliche Hausgenossen¬
schaft darf die Hände nicht in den Schoß legen. Daß die Bürgermädchen mit
ihren Krügen am Brunnen zusammenkommen, haben wir schon an andrer Stelle
bemerkt; dort halten sie üble Nachrede, es dauert sie das Unglück, es ärgert
sie das Glück des Nächsten, und die Zünglein gehen fleißig hin und her, aber
die zu lange ausbleibt, wird, wie Dorothea sagt, mit Recht getadelt. Auch die
Bank an der Thür des Hauses ist solch ein Ort lieblichen Schwätzens; sie fehlt
auch in dem Landstädtchen nicht, wo Wilhelm Philinens Bekanntschaft macht.
Dorthin entschlüpft das Mädchen in der Dämmerung und wechselt verstohlene


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/266>, abgerufen am 28.07.2024.