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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

über euch schalten und walten, wie es kann und mag." Was ist bezeichnender
als Jetters bürgerliche Abneigung gegen das Soldatenwesen und die Einquar¬
tierung, als seine Furcht und Ängstlichkeit, der übrigen Vertrauen aus den adlichen
Führer, den Grafen Egmont, ihr Einspinnen in Haus und Gewerbe bei öffent¬
lichem Unglück und drohender Gefahr? So bringen sie denn auch beim Wein,
der ihnen das Herz öffnet, den bürgerlichen Trinkspruch aus: "Sicherheit und
Ruhe, Ordnung und Freiheit!" Freiheit nämlich von jedem Eingriff in das Her¬
kommen und die alten Rechte, Freiheit auch der persönlichen Existenz und der
eignen Meinung -- denn das Murren wider den Burgemeister, der Streit der
Ratsherren und der Zünfte untereinander -- das muß erlaubt sein.


Nein, er gefällt mir nicht, der neue Burgemeister!
-- Gehorchen soll man mehr als immer
Und zahlen mehr als je vorher.

Im übrigen dankt der Bürgersmann jeden Morgen Gott, daß er nicht Kaiser
oder Kanzler ist und nicht für das römische Reich zu sorgen braucht. Denn


Thu nur das Rechte in deinen Sachen,
Das andere wird sich von selber machen.

Überall wo das Bürgertum sich unverdorben erhalten hat, liebt es, den
sittlichen Mächten, von denen es beherrscht wird, in Sprichwörtern, Maximen,
Erfahrungen, allgemeinen Sätzen Ausdruck zu geben. Diese Lehrsprüche sind
dem Bürgersmann, was die Wetterregeln dem Bauern, und leiten sein Thun
mehr als die Dogmen, die er Sonntags von der Kanzel hört. Er führt sie
gern im Munde und fügt dann hinzu: so sagen die Weisen, oder: so sprachen
die Alten. Nicht alle sind auf deutschem Boden erwachsen, viele stammen von
Griechen und Römern und wanderten auf verschiedenen Wegen ein, viele sind
aus der Bibel geschöpft. Als im Mittelalter der farbige Nebel romantischer
Fiktionen zergangen und allmählich in den Städten ein arbeitender Bürgerstand
aufgetreten war, da thut sich in Spruchgedichten die echt bürgerliche, etwas
beschränkte Lebensweisheit auf -- worüber jede Literaturgeschichte Auskunft
giebt. So ist auch Sancho Pansa, die verkörperte plebejische Gewöhnlichkeit,
unerschöpflich in Sprichwörtern, mit denen er die Schwärmereien seines adlichen
Herrn zu Falle bringt. In "Hermann und Dorothea" ist dies der Ton, in
dem alle Reden gehalten sind; es sind ganz bürgerliche Betrachtungen und Er¬
wägungen, gezogen aus der Erfahrung des täglichen Lebens, aus dem Umgang
unter gleichen, in kleinen Kreisen, nicht geistreich und originell, da sie ja gel¬
tende Klugheit enthalten, aber kräftig und verständig, auch liebevoll und treu.
Und auch das eigentliche Sprichwort fehlt nicht; so sagt der Vater:


Ein- für allemal gilt das wahre Sprüchlein der Alten:
Wer nicht vorwärts geht, der geht zurücke. So bleibt es.

Da das Gedicht von Reinere Fuchs sich die Aufgabe stellt, den Lauf der Welt,


Grenzboten IV. 1883. "2
Gedanken über Goethe.

über euch schalten und walten, wie es kann und mag." Was ist bezeichnender
als Jetters bürgerliche Abneigung gegen das Soldatenwesen und die Einquar¬
tierung, als seine Furcht und Ängstlichkeit, der übrigen Vertrauen aus den adlichen
Führer, den Grafen Egmont, ihr Einspinnen in Haus und Gewerbe bei öffent¬
lichem Unglück und drohender Gefahr? So bringen sie denn auch beim Wein,
der ihnen das Herz öffnet, den bürgerlichen Trinkspruch aus: „Sicherheit und
Ruhe, Ordnung und Freiheit!" Freiheit nämlich von jedem Eingriff in das Her¬
kommen und die alten Rechte, Freiheit auch der persönlichen Existenz und der
eignen Meinung — denn das Murren wider den Burgemeister, der Streit der
Ratsherren und der Zünfte untereinander — das muß erlaubt sein.


Nein, er gefällt mir nicht, der neue Burgemeister!
— Gehorchen soll man mehr als immer
Und zahlen mehr als je vorher.

Im übrigen dankt der Bürgersmann jeden Morgen Gott, daß er nicht Kaiser
oder Kanzler ist und nicht für das römische Reich zu sorgen braucht. Denn


Thu nur das Rechte in deinen Sachen,
Das andere wird sich von selber machen.

Überall wo das Bürgertum sich unverdorben erhalten hat, liebt es, den
sittlichen Mächten, von denen es beherrscht wird, in Sprichwörtern, Maximen,
Erfahrungen, allgemeinen Sätzen Ausdruck zu geben. Diese Lehrsprüche sind
dem Bürgersmann, was die Wetterregeln dem Bauern, und leiten sein Thun
mehr als die Dogmen, die er Sonntags von der Kanzel hört. Er führt sie
gern im Munde und fügt dann hinzu: so sagen die Weisen, oder: so sprachen
die Alten. Nicht alle sind auf deutschem Boden erwachsen, viele stammen von
Griechen und Römern und wanderten auf verschiedenen Wegen ein, viele sind
aus der Bibel geschöpft. Als im Mittelalter der farbige Nebel romantischer
Fiktionen zergangen und allmählich in den Städten ein arbeitender Bürgerstand
aufgetreten war, da thut sich in Spruchgedichten die echt bürgerliche, etwas
beschränkte Lebensweisheit auf — worüber jede Literaturgeschichte Auskunft
giebt. So ist auch Sancho Pansa, die verkörperte plebejische Gewöhnlichkeit,
unerschöpflich in Sprichwörtern, mit denen er die Schwärmereien seines adlichen
Herrn zu Falle bringt. In „Hermann und Dorothea" ist dies der Ton, in
dem alle Reden gehalten sind; es sind ganz bürgerliche Betrachtungen und Er¬
wägungen, gezogen aus der Erfahrung des täglichen Lebens, aus dem Umgang
unter gleichen, in kleinen Kreisen, nicht geistreich und originell, da sie ja gel¬
tende Klugheit enthalten, aber kräftig und verständig, auch liebevoll und treu.
Und auch das eigentliche Sprichwort fehlt nicht; so sagt der Vater:


Ein- für allemal gilt das wahre Sprüchlein der Alten:
Wer nicht vorwärts geht, der geht zurücke. So bleibt es.

Da das Gedicht von Reinere Fuchs sich die Aufgabe stellt, den Lauf der Welt,


Grenzboten IV. 1883. »2
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[0259] Gedanken über Goethe. über euch schalten und walten, wie es kann und mag." Was ist bezeichnender als Jetters bürgerliche Abneigung gegen das Soldatenwesen und die Einquar¬ tierung, als seine Furcht und Ängstlichkeit, der übrigen Vertrauen aus den adlichen Führer, den Grafen Egmont, ihr Einspinnen in Haus und Gewerbe bei öffent¬ lichem Unglück und drohender Gefahr? So bringen sie denn auch beim Wein, der ihnen das Herz öffnet, den bürgerlichen Trinkspruch aus: „Sicherheit und Ruhe, Ordnung und Freiheit!" Freiheit nämlich von jedem Eingriff in das Her¬ kommen und die alten Rechte, Freiheit auch der persönlichen Existenz und der eignen Meinung — denn das Murren wider den Burgemeister, der Streit der Ratsherren und der Zünfte untereinander — das muß erlaubt sein. Nein, er gefällt mir nicht, der neue Burgemeister! — Gehorchen soll man mehr als immer Und zahlen mehr als je vorher. Im übrigen dankt der Bürgersmann jeden Morgen Gott, daß er nicht Kaiser oder Kanzler ist und nicht für das römische Reich zu sorgen braucht. Denn Thu nur das Rechte in deinen Sachen, Das andere wird sich von selber machen. Überall wo das Bürgertum sich unverdorben erhalten hat, liebt es, den sittlichen Mächten, von denen es beherrscht wird, in Sprichwörtern, Maximen, Erfahrungen, allgemeinen Sätzen Ausdruck zu geben. Diese Lehrsprüche sind dem Bürgersmann, was die Wetterregeln dem Bauern, und leiten sein Thun mehr als die Dogmen, die er Sonntags von der Kanzel hört. Er führt sie gern im Munde und fügt dann hinzu: so sagen die Weisen, oder: so sprachen die Alten. Nicht alle sind auf deutschem Boden erwachsen, viele stammen von Griechen und Römern und wanderten auf verschiedenen Wegen ein, viele sind aus der Bibel geschöpft. Als im Mittelalter der farbige Nebel romantischer Fiktionen zergangen und allmählich in den Städten ein arbeitender Bürgerstand aufgetreten war, da thut sich in Spruchgedichten die echt bürgerliche, etwas beschränkte Lebensweisheit auf — worüber jede Literaturgeschichte Auskunft giebt. So ist auch Sancho Pansa, die verkörperte plebejische Gewöhnlichkeit, unerschöpflich in Sprichwörtern, mit denen er die Schwärmereien seines adlichen Herrn zu Falle bringt. In „Hermann und Dorothea" ist dies der Ton, in dem alle Reden gehalten sind; es sind ganz bürgerliche Betrachtungen und Er¬ wägungen, gezogen aus der Erfahrung des täglichen Lebens, aus dem Umgang unter gleichen, in kleinen Kreisen, nicht geistreich und originell, da sie ja gel¬ tende Klugheit enthalten, aber kräftig und verständig, auch liebevoll und treu. Und auch das eigentliche Sprichwort fehlt nicht; so sagt der Vater: Ein- für allemal gilt das wahre Sprüchlein der Alten: Wer nicht vorwärts geht, der geht zurücke. So bleibt es. Da das Gedicht von Reinere Fuchs sich die Aufgabe stellt, den Lauf der Welt, Grenzboten IV. 1883. »2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/259>, abgerufen am 28.07.2024.