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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanke" über Goethe.

hundert. Die griechischen Götter sind noch lebendig: Zeus donnert vom Himmel,
Amor und die Grazien bekräftigen den Liebesbund, der Liebende ruft den
Sonnengott Phöbus an. Alexis ist ein griechischer Name, Dom ist es auch --
geht das Erzählte also in der alten Griechenzeit vor sich? Wir glauben es
nicht, denn jedes Wort dieser Idylle atmet Innigkeit und Seele, klingt mit
süßem Nachhall, zittert im Nervenreiz, und dies war im Altertum so nicht, und
der Leser oder Hörer fragt darnach nicht. Wenn Dora geschmückt und gesittet
zum Tempel geht und die Mutter feierlich neben ihr her, so kann sie Wohl eine
dorische oder attische Jungfrau sein, die an einem Gölterfeste zu den Säulen
des Heiligtums aufsteigt, ebensowohl aber auch ein deutsches Mädchen in irgend
einer Reichsstadt, das im Sonntagsschmuck, an der Seite der gravitätischen
Mutter, das schwarze Buch und drüber das weiße zusammengelegte Taschentuch
in der Hand, beim Klang der Glocken zur Kirche geht. Ebenso, wenn sie am
Brunnen das Wassergefäß mit leichtem Schwunge hebt und es dann schreitend
auf dem Ringel des Hauptes weiterträgt; wir denken dabei Wohl an eine
griechische Jungfrau, den edelgcschweiften Krug mit beiden Armen über sich
haltend, selbst wie eine wandelnde zweihenklige Vase, oder an Wasfertrügerinnen
des Orients, z. B. Rebekka, die abends um die Zeit, da die Weiber pflegen
herauszukommen und Wasser zu schöpfen, den Krug auf ihre Achsel nahm und
dem Wasserbrunnen vor Nahor zuschritt und dem Eleasar zu trinken gab und
seine Kameele tränkte, ebenso leicht aber auch an ein heutiges Mädchen in
Dörfern und Städtchen, das am fließenden Brunnen ihr thönernes oder me¬
tallenes Gefäß füllt und auf dem Heimweg den Gruß der zu gleichem Geschäft
ihr entgegenkommenden Freundin nicht durch Nicken, nur mit dem Blick oder
durch ein Lächeln erwiedern kann. Auch eine Schürze trägt Dora ja, wie heutige
Mädchen, denn sie muß schaffen und die Wirtschaft versehen, und in die Schürze
sammelt sie die Früchte für den Jüngling, der vergebens bittet, es sei nun
genug. So spricht aus jedem Zuge des Gedichtes die Erfahrung der ältesten
wie die der jüngsten Geschlechter.

Daß nun diese Allgemeinheit der Lebensgestalt mehr die Sphäre einer
andern Kunst bildet, der Skulptur, erhellt von selbst. Die Skulptur hat nur
geringe Mittel, schmalen Raum; aus der mannichfach verschlungenen Menschen¬
welt wählt sie das Einfachste und verschmäht alles Zufällige; die unmittel¬
bare Einheit von Leib und Seele, daß in der letzteren nichts sei, was nicht
in dem ersteren erschiene, ist die Bedingung und Forderung, ohne die sie nichts
in ihren idealen Kreis aufnehmen mag. Und da die griechische Dichtung unter
dem Prinzip der Plastik steht, so herrscht auch dort, am meisten im homerischen
Epos, dem Grundbuche aller Humanität, und in der hesiodeischen naiven Ökonomik
dasselbe, alle Willkür ausschließende, allgemeine Gesetz der Natur. Daher die
Einstimmung der in Rede stehenden Goethischen Schilderungen mit den Bild¬
nissen des Epos und der Skulptur, daher die Anklänge, die bei Genuß der-


Gedanke« über Goethe.

hundert. Die griechischen Götter sind noch lebendig: Zeus donnert vom Himmel,
Amor und die Grazien bekräftigen den Liebesbund, der Liebende ruft den
Sonnengott Phöbus an. Alexis ist ein griechischer Name, Dom ist es auch —
geht das Erzählte also in der alten Griechenzeit vor sich? Wir glauben es
nicht, denn jedes Wort dieser Idylle atmet Innigkeit und Seele, klingt mit
süßem Nachhall, zittert im Nervenreiz, und dies war im Altertum so nicht, und
der Leser oder Hörer fragt darnach nicht. Wenn Dora geschmückt und gesittet
zum Tempel geht und die Mutter feierlich neben ihr her, so kann sie Wohl eine
dorische oder attische Jungfrau sein, die an einem Gölterfeste zu den Säulen
des Heiligtums aufsteigt, ebensowohl aber auch ein deutsches Mädchen in irgend
einer Reichsstadt, das im Sonntagsschmuck, an der Seite der gravitätischen
Mutter, das schwarze Buch und drüber das weiße zusammengelegte Taschentuch
in der Hand, beim Klang der Glocken zur Kirche geht. Ebenso, wenn sie am
Brunnen das Wassergefäß mit leichtem Schwunge hebt und es dann schreitend
auf dem Ringel des Hauptes weiterträgt; wir denken dabei Wohl an eine
griechische Jungfrau, den edelgcschweiften Krug mit beiden Armen über sich
haltend, selbst wie eine wandelnde zweihenklige Vase, oder an Wasfertrügerinnen
des Orients, z. B. Rebekka, die abends um die Zeit, da die Weiber pflegen
herauszukommen und Wasser zu schöpfen, den Krug auf ihre Achsel nahm und
dem Wasserbrunnen vor Nahor zuschritt und dem Eleasar zu trinken gab und
seine Kameele tränkte, ebenso leicht aber auch an ein heutiges Mädchen in
Dörfern und Städtchen, das am fließenden Brunnen ihr thönernes oder me¬
tallenes Gefäß füllt und auf dem Heimweg den Gruß der zu gleichem Geschäft
ihr entgegenkommenden Freundin nicht durch Nicken, nur mit dem Blick oder
durch ein Lächeln erwiedern kann. Auch eine Schürze trägt Dora ja, wie heutige
Mädchen, denn sie muß schaffen und die Wirtschaft versehen, und in die Schürze
sammelt sie die Früchte für den Jüngling, der vergebens bittet, es sei nun
genug. So spricht aus jedem Zuge des Gedichtes die Erfahrung der ältesten
wie die der jüngsten Geschlechter.

Daß nun diese Allgemeinheit der Lebensgestalt mehr die Sphäre einer
andern Kunst bildet, der Skulptur, erhellt von selbst. Die Skulptur hat nur
geringe Mittel, schmalen Raum; aus der mannichfach verschlungenen Menschen¬
welt wählt sie das Einfachste und verschmäht alles Zufällige; die unmittel¬
bare Einheit von Leib und Seele, daß in der letzteren nichts sei, was nicht
in dem ersteren erschiene, ist die Bedingung und Forderung, ohne die sie nichts
in ihren idealen Kreis aufnehmen mag. Und da die griechische Dichtung unter
dem Prinzip der Plastik steht, so herrscht auch dort, am meisten im homerischen
Epos, dem Grundbuche aller Humanität, und in der hesiodeischen naiven Ökonomik
dasselbe, alle Willkür ausschließende, allgemeine Gesetz der Natur. Daher die
Einstimmung der in Rede stehenden Goethischen Schilderungen mit den Bild¬
nissen des Epos und der Skulptur, daher die Anklänge, die bei Genuß der-


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[0022] Gedanke« über Goethe. hundert. Die griechischen Götter sind noch lebendig: Zeus donnert vom Himmel, Amor und die Grazien bekräftigen den Liebesbund, der Liebende ruft den Sonnengott Phöbus an. Alexis ist ein griechischer Name, Dom ist es auch — geht das Erzählte also in der alten Griechenzeit vor sich? Wir glauben es nicht, denn jedes Wort dieser Idylle atmet Innigkeit und Seele, klingt mit süßem Nachhall, zittert im Nervenreiz, und dies war im Altertum so nicht, und der Leser oder Hörer fragt darnach nicht. Wenn Dora geschmückt und gesittet zum Tempel geht und die Mutter feierlich neben ihr her, so kann sie Wohl eine dorische oder attische Jungfrau sein, die an einem Gölterfeste zu den Säulen des Heiligtums aufsteigt, ebensowohl aber auch ein deutsches Mädchen in irgend einer Reichsstadt, das im Sonntagsschmuck, an der Seite der gravitätischen Mutter, das schwarze Buch und drüber das weiße zusammengelegte Taschentuch in der Hand, beim Klang der Glocken zur Kirche geht. Ebenso, wenn sie am Brunnen das Wassergefäß mit leichtem Schwunge hebt und es dann schreitend auf dem Ringel des Hauptes weiterträgt; wir denken dabei Wohl an eine griechische Jungfrau, den edelgcschweiften Krug mit beiden Armen über sich haltend, selbst wie eine wandelnde zweihenklige Vase, oder an Wasfertrügerinnen des Orients, z. B. Rebekka, die abends um die Zeit, da die Weiber pflegen herauszukommen und Wasser zu schöpfen, den Krug auf ihre Achsel nahm und dem Wasserbrunnen vor Nahor zuschritt und dem Eleasar zu trinken gab und seine Kameele tränkte, ebenso leicht aber auch an ein heutiges Mädchen in Dörfern und Städtchen, das am fließenden Brunnen ihr thönernes oder me¬ tallenes Gefäß füllt und auf dem Heimweg den Gruß der zu gleichem Geschäft ihr entgegenkommenden Freundin nicht durch Nicken, nur mit dem Blick oder durch ein Lächeln erwiedern kann. Auch eine Schürze trägt Dora ja, wie heutige Mädchen, denn sie muß schaffen und die Wirtschaft versehen, und in die Schürze sammelt sie die Früchte für den Jüngling, der vergebens bittet, es sei nun genug. So spricht aus jedem Zuge des Gedichtes die Erfahrung der ältesten wie die der jüngsten Geschlechter. Daß nun diese Allgemeinheit der Lebensgestalt mehr die Sphäre einer andern Kunst bildet, der Skulptur, erhellt von selbst. Die Skulptur hat nur geringe Mittel, schmalen Raum; aus der mannichfach verschlungenen Menschen¬ welt wählt sie das Einfachste und verschmäht alles Zufällige; die unmittel¬ bare Einheit von Leib und Seele, daß in der letzteren nichts sei, was nicht in dem ersteren erschiene, ist die Bedingung und Forderung, ohne die sie nichts in ihren idealen Kreis aufnehmen mag. Und da die griechische Dichtung unter dem Prinzip der Plastik steht, so herrscht auch dort, am meisten im homerischen Epos, dem Grundbuche aller Humanität, und in der hesiodeischen naiven Ökonomik dasselbe, alle Willkür ausschließende, allgemeine Gesetz der Natur. Daher die Einstimmung der in Rede stehenden Goethischen Schilderungen mit den Bild¬ nissen des Epos und der Skulptur, daher die Anklänge, die bei Genuß der-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/22>, abgerufen am 27.07.2024.