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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Levin Schücking.

gtutvolt durchdrungenen Bischofs hat Schücking den bedeutendsten Vertreter der
alten Kirche, dessen wir uns ans seinen Dichtungen erinnern, geschaffen. Wie
prachtvoll und aus dem tiefsten Herzen heraus klingt der Ton des Bischofs,
wenn er seinen Überzeugungen über die Zukunft der Kirche Worte leiht. Er
verteidigt gegen den echt konservativen Grafen Rinkerode die Agitationsmittel
der streitenden Kirche. "Wenn die Welt von heute noch die alten Gesellschafts¬
zustände kennte, würde ich mit Ihnen sprechen: Der Priester gehört an den
Altar und in die Kirche, nicht auf die Rednerbühne von Vereinen, welche die
Gefahr, sich zu Klubversammlungeu zu gestalten, in ihrem Schoße tragen mögen.
Unsre Gesellschaftszustände aber sind in einer großen und raschen Umwandlung
begriffen -- der Mörtel des alten Gebäudes ist überall zerbröckelt und fällt
aus allen Fugen heraus. . . . Wir haben das Schauspiel einer Auflösung vor
Augen, wie sie "och nie gewesen: alle irdischen Autoritäten sind bis in den
Grund erschüttert; die einzelnen Länder sind durchwühlt vom Hader der Par¬
teien, die sich von einander nur dadurch unterscheiden, daß die eine weniger
bewußt und ausgesprochen als die andre die atomistische Zersetzung des alten
Staatengebildes erstrebt. In den romanischen Ländern werden wir nach wenig
Jahren den Sieg des republikanischen Prinzips erleben; in den germanischen
arbeitet der egoistische Individualismus, der dem Massenabfall vom Christentum
gefolgt ist, auf das Chaos hin. Wie wird sich unter solchen Umständen die
Zukunft gestalten, eine Zukunft voller Stürme und wilder Gährung, in der die
alten Errungenschaften der durch das Christentum geleiteten Zivilisationsarbeit
verloren gegangen sind, die unantastbare Obrigkeit mit ihren Zuchtmitteln noch
viel mehr verschwunden ist als heute in Amerika, dem Richter für seine Themis-
schaalen die Gewichte geraubt sind, dem Liktor seine Fasces -- eine Zukunft,
wo das vslluw, ollmium eontrg, oiune-s dem Einzelnen nur noch den Rechtsboden
übrig läßt, den er verteidigen kann und mit dem rohen Triebe der Selbster-
haltung rücksichtslos verteidigt! Nichts wird mehr feststehen, nichts mehr die
Sturmflut jener Tage überdauern als das letzte Element der Ordnung, als
die Kirche; sie wird die Schwachen, die schutzbedürftiger zu sich flüchten sehen --
die Starken, aber vereinzelten werden sich um sie sammeln, die ohne Haupt und
Führer sind, werden sich ihrer Leitung hingeben; mir einem Wort: die Kirche
wird den Krystallisationspunkt für alle Elemente bilden, welche Ordnung, Zucht,
Rechtsschutz und Ruhe für die heimgesuchte Menschheit verlangen, und wird an
ihrer Spitze diese Güter erkämpfen und der Welt gewähren. Es wird das keine
neue Erscheinung sein. Wie sie naturgemäß ist, wird sie in Zeiten, welche denen
ähnlich waren, denen wir entgegengehen, bereits ans Licht getreten sein. Be¬
trachten wir die Periode der Völkerwanderungen, so erblicken wir die Fürsten
der Kirche, die einzelnen großen und mit der Kraft Gottes erfüllten Bischöfe
als die Schützer, Retter, Wiederhersteller der Gesellschaft. So war es nament¬
lich in Gallien, als die Hunnen es unter Attila überschwemmten und der Bischof


Levin Schücking.

gtutvolt durchdrungenen Bischofs hat Schücking den bedeutendsten Vertreter der
alten Kirche, dessen wir uns ans seinen Dichtungen erinnern, geschaffen. Wie
prachtvoll und aus dem tiefsten Herzen heraus klingt der Ton des Bischofs,
wenn er seinen Überzeugungen über die Zukunft der Kirche Worte leiht. Er
verteidigt gegen den echt konservativen Grafen Rinkerode die Agitationsmittel
der streitenden Kirche. „Wenn die Welt von heute noch die alten Gesellschafts¬
zustände kennte, würde ich mit Ihnen sprechen: Der Priester gehört an den
Altar und in die Kirche, nicht auf die Rednerbühne von Vereinen, welche die
Gefahr, sich zu Klubversammlungeu zu gestalten, in ihrem Schoße tragen mögen.
Unsre Gesellschaftszustände aber sind in einer großen und raschen Umwandlung
begriffen — der Mörtel des alten Gebäudes ist überall zerbröckelt und fällt
aus allen Fugen heraus. . . . Wir haben das Schauspiel einer Auflösung vor
Augen, wie sie »och nie gewesen: alle irdischen Autoritäten sind bis in den
Grund erschüttert; die einzelnen Länder sind durchwühlt vom Hader der Par¬
teien, die sich von einander nur dadurch unterscheiden, daß die eine weniger
bewußt und ausgesprochen als die andre die atomistische Zersetzung des alten
Staatengebildes erstrebt. In den romanischen Ländern werden wir nach wenig
Jahren den Sieg des republikanischen Prinzips erleben; in den germanischen
arbeitet der egoistische Individualismus, der dem Massenabfall vom Christentum
gefolgt ist, auf das Chaos hin. Wie wird sich unter solchen Umständen die
Zukunft gestalten, eine Zukunft voller Stürme und wilder Gährung, in der die
alten Errungenschaften der durch das Christentum geleiteten Zivilisationsarbeit
verloren gegangen sind, die unantastbare Obrigkeit mit ihren Zuchtmitteln noch
viel mehr verschwunden ist als heute in Amerika, dem Richter für seine Themis-
schaalen die Gewichte geraubt sind, dem Liktor seine Fasces — eine Zukunft,
wo das vslluw, ollmium eontrg, oiune-s dem Einzelnen nur noch den Rechtsboden
übrig läßt, den er verteidigen kann und mit dem rohen Triebe der Selbster-
haltung rücksichtslos verteidigt! Nichts wird mehr feststehen, nichts mehr die
Sturmflut jener Tage überdauern als das letzte Element der Ordnung, als
die Kirche; sie wird die Schwachen, die schutzbedürftiger zu sich flüchten sehen —
die Starken, aber vereinzelten werden sich um sie sammeln, die ohne Haupt und
Führer sind, werden sich ihrer Leitung hingeben; mir einem Wort: die Kirche
wird den Krystallisationspunkt für alle Elemente bilden, welche Ordnung, Zucht,
Rechtsschutz und Ruhe für die heimgesuchte Menschheit verlangen, und wird an
ihrer Spitze diese Güter erkämpfen und der Welt gewähren. Es wird das keine
neue Erscheinung sein. Wie sie naturgemäß ist, wird sie in Zeiten, welche denen
ähnlich waren, denen wir entgegengehen, bereits ans Licht getreten sein. Be¬
trachten wir die Periode der Völkerwanderungen, so erblicken wir die Fürsten
der Kirche, die einzelnen großen und mit der Kraft Gottes erfüllten Bischöfe
als die Schützer, Retter, Wiederhersteller der Gesellschaft. So war es nament¬
lich in Gallien, als die Hunnen es unter Attila überschwemmten und der Bischof


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[0204] Levin Schücking. gtutvolt durchdrungenen Bischofs hat Schücking den bedeutendsten Vertreter der alten Kirche, dessen wir uns ans seinen Dichtungen erinnern, geschaffen. Wie prachtvoll und aus dem tiefsten Herzen heraus klingt der Ton des Bischofs, wenn er seinen Überzeugungen über die Zukunft der Kirche Worte leiht. Er verteidigt gegen den echt konservativen Grafen Rinkerode die Agitationsmittel der streitenden Kirche. „Wenn die Welt von heute noch die alten Gesellschafts¬ zustände kennte, würde ich mit Ihnen sprechen: Der Priester gehört an den Altar und in die Kirche, nicht auf die Rednerbühne von Vereinen, welche die Gefahr, sich zu Klubversammlungeu zu gestalten, in ihrem Schoße tragen mögen. Unsre Gesellschaftszustände aber sind in einer großen und raschen Umwandlung begriffen — der Mörtel des alten Gebäudes ist überall zerbröckelt und fällt aus allen Fugen heraus. . . . Wir haben das Schauspiel einer Auflösung vor Augen, wie sie »och nie gewesen: alle irdischen Autoritäten sind bis in den Grund erschüttert; die einzelnen Länder sind durchwühlt vom Hader der Par¬ teien, die sich von einander nur dadurch unterscheiden, daß die eine weniger bewußt und ausgesprochen als die andre die atomistische Zersetzung des alten Staatengebildes erstrebt. In den romanischen Ländern werden wir nach wenig Jahren den Sieg des republikanischen Prinzips erleben; in den germanischen arbeitet der egoistische Individualismus, der dem Massenabfall vom Christentum gefolgt ist, auf das Chaos hin. Wie wird sich unter solchen Umständen die Zukunft gestalten, eine Zukunft voller Stürme und wilder Gährung, in der die alten Errungenschaften der durch das Christentum geleiteten Zivilisationsarbeit verloren gegangen sind, die unantastbare Obrigkeit mit ihren Zuchtmitteln noch viel mehr verschwunden ist als heute in Amerika, dem Richter für seine Themis- schaalen die Gewichte geraubt sind, dem Liktor seine Fasces — eine Zukunft, wo das vslluw, ollmium eontrg, oiune-s dem Einzelnen nur noch den Rechtsboden übrig läßt, den er verteidigen kann und mit dem rohen Triebe der Selbster- haltung rücksichtslos verteidigt! Nichts wird mehr feststehen, nichts mehr die Sturmflut jener Tage überdauern als das letzte Element der Ordnung, als die Kirche; sie wird die Schwachen, die schutzbedürftiger zu sich flüchten sehen — die Starken, aber vereinzelten werden sich um sie sammeln, die ohne Haupt und Führer sind, werden sich ihrer Leitung hingeben; mir einem Wort: die Kirche wird den Krystallisationspunkt für alle Elemente bilden, welche Ordnung, Zucht, Rechtsschutz und Ruhe für die heimgesuchte Menschheit verlangen, und wird an ihrer Spitze diese Güter erkämpfen und der Welt gewähren. Es wird das keine neue Erscheinung sein. Wie sie naturgemäß ist, wird sie in Zeiten, welche denen ähnlich waren, denen wir entgegengehen, bereits ans Licht getreten sein. Be¬ trachten wir die Periode der Völkerwanderungen, so erblicken wir die Fürsten der Kirche, die einzelnen großen und mit der Kraft Gottes erfüllten Bischöfe als die Schützer, Retter, Wiederhersteller der Gesellschaft. So war es nament¬ lich in Gallien, als die Hunnen es unter Attila überschwemmten und der Bischof

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/204>, abgerufen am 01.09.2024.