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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Zur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges,

erreichte, will der heutige Strafvollzug durch Isoliren in erster Reihe erziehen
und hat sich zu diesem Zwecke ein System konstruirt, welches, ohne auch nur
entfernt diesen Zweck zu erreichen, nur dazu führt, sich und andern Illusionen zu
bereiten. Man isolirc aus sicherheitspolizeilichen Gründen gefährliche Verbrecher;
man isolire jugendliche, relativ minder verdorbene Verbrecher, um sie dem Ein¬
flüsse erwachsener und gewohnheitsmäßiger Zuchthausbrüder möglichst zu entziehen
und eine Ansteckung zu verhindern; man isolirc Schwächliche, mit körperlichen
Gebrechen oder ekelerregenden Krankheiten Behaftete; aber die große, breite Masse
der Gefangenen verschone man mit einem System, welches mit so großen Kosten
verbunden ist und in der Hauptsache doch nur Heuchler erzeugt und die Rück¬
kehr in die Freiheit dadurch erschwert, daß der Jsolirte, künstlich zur Unselb¬
ständigkeit erzogen und halb und halb zum Idioten geworden, unfähig gemacht
wird, mit andern in jener friedlichen Gemeinschaft zu leben, die gegenseitiges
Unterordnen und Sichfügen erfordert. Man kann doch die Jsolirzelle den Ent¬
lassener in die Freiheit nicht mitgeben.

Die Berücksichtigung dieser Vorschläge würde allein schon wesentlich dazu
beitragen, den Strafvollzug zu vereinfachen und seine Kosten zu vermindern.
Noch erfolgreicher aber wäre dieses Ziel zu erreichen, wenn man sich entschließen
würde, für mehrfach Rückfällige ein besonderes Regime einzuführen. Bekanntlich
rekrutirt sich der Bestand der Gefangenen bis zu 88 Prozent aus Rückfälligen,
also aus Subjekten, die wiederholt dasselbe Verbrechen begangen und somit den
vollgiltigen Beweis erbracht haben, daß frühere Erziehungsversuche im Gefängnis
nutzlos waren und sie nicht befähigen konnten, ohne äußeren Zwang ein geordnetes
Leben zu führen. Wie wäre es nun, wen" der Staat sich entschlösse, von einer gewissen
Anzahl des Rückfalles an die Pforten der Freiheit für immer zu verschließen?
Könnte man es eine ungerechtfertigte Härte nennen, wenn man Leute, die
wiederholt Gelegenheit hatten, sich aufzuraffen und nach der Entlassung aus der
Strafanstalt sich einer geordneten Thätigkeit zu widmen, aber im Sturme des
Lebens immer von neuem Schiffbruch erlitten und vielleicht zum zehntenmale
in die Gefangenschaft -- halb zog sie ihn, halb sank er hin -- zurückgekehrt
sind, für die menschliche Gesellschaft ein für allemal dadurch unschädlich machte,
daß man sie als Unverbesserliche stets in Gefangenschaft hielte, gleich geistig
Irren, die unfähig sind, einen vernünftigen, selbständigen Gebrauch von dem sonst
so kostbaren Gute der Freiheit zu machen? Wir wollen nicht allzu rigoros sein,
meinen aber, daß z. B. ein Dieb, der zum viertenmale rückfällig geworden ist, niemals
von der Sucht zu stehlen geheilt werden wird. Das Stehlen ist ihm entweder ange¬
boren oder zur Gewohnheit geworden. Der Mann will vielleicht, aber kann ohne dra¬
stischen Zwang nicht arbeiten, also auch nichts verdienen, diesen Beweis hat er
wiederholt bis zur Evidenz geliefert. Weshalb nun von neuem das Experiment
der Entlassung in die Freiheit an ihm versuchen, da man doch im voraus
weiß, daß es mißlingen wird? Ganz zu schweigen von den Kosten der Unter-


Zur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges,

erreichte, will der heutige Strafvollzug durch Isoliren in erster Reihe erziehen
und hat sich zu diesem Zwecke ein System konstruirt, welches, ohne auch nur
entfernt diesen Zweck zu erreichen, nur dazu führt, sich und andern Illusionen zu
bereiten. Man isolirc aus sicherheitspolizeilichen Gründen gefährliche Verbrecher;
man isolire jugendliche, relativ minder verdorbene Verbrecher, um sie dem Ein¬
flüsse erwachsener und gewohnheitsmäßiger Zuchthausbrüder möglichst zu entziehen
und eine Ansteckung zu verhindern; man isolirc Schwächliche, mit körperlichen
Gebrechen oder ekelerregenden Krankheiten Behaftete; aber die große, breite Masse
der Gefangenen verschone man mit einem System, welches mit so großen Kosten
verbunden ist und in der Hauptsache doch nur Heuchler erzeugt und die Rück¬
kehr in die Freiheit dadurch erschwert, daß der Jsolirte, künstlich zur Unselb¬
ständigkeit erzogen und halb und halb zum Idioten geworden, unfähig gemacht
wird, mit andern in jener friedlichen Gemeinschaft zu leben, die gegenseitiges
Unterordnen und Sichfügen erfordert. Man kann doch die Jsolirzelle den Ent¬
lassener in die Freiheit nicht mitgeben.

Die Berücksichtigung dieser Vorschläge würde allein schon wesentlich dazu
beitragen, den Strafvollzug zu vereinfachen und seine Kosten zu vermindern.
Noch erfolgreicher aber wäre dieses Ziel zu erreichen, wenn man sich entschließen
würde, für mehrfach Rückfällige ein besonderes Regime einzuführen. Bekanntlich
rekrutirt sich der Bestand der Gefangenen bis zu 88 Prozent aus Rückfälligen,
also aus Subjekten, die wiederholt dasselbe Verbrechen begangen und somit den
vollgiltigen Beweis erbracht haben, daß frühere Erziehungsversuche im Gefängnis
nutzlos waren und sie nicht befähigen konnten, ohne äußeren Zwang ein geordnetes
Leben zu führen. Wie wäre es nun, wen» der Staat sich entschlösse, von einer gewissen
Anzahl des Rückfalles an die Pforten der Freiheit für immer zu verschließen?
Könnte man es eine ungerechtfertigte Härte nennen, wenn man Leute, die
wiederholt Gelegenheit hatten, sich aufzuraffen und nach der Entlassung aus der
Strafanstalt sich einer geordneten Thätigkeit zu widmen, aber im Sturme des
Lebens immer von neuem Schiffbruch erlitten und vielleicht zum zehntenmale
in die Gefangenschaft — halb zog sie ihn, halb sank er hin — zurückgekehrt
sind, für die menschliche Gesellschaft ein für allemal dadurch unschädlich machte,
daß man sie als Unverbesserliche stets in Gefangenschaft hielte, gleich geistig
Irren, die unfähig sind, einen vernünftigen, selbständigen Gebrauch von dem sonst
so kostbaren Gute der Freiheit zu machen? Wir wollen nicht allzu rigoros sein,
meinen aber, daß z. B. ein Dieb, der zum viertenmale rückfällig geworden ist, niemals
von der Sucht zu stehlen geheilt werden wird. Das Stehlen ist ihm entweder ange¬
boren oder zur Gewohnheit geworden. Der Mann will vielleicht, aber kann ohne dra¬
stischen Zwang nicht arbeiten, also auch nichts verdienen, diesen Beweis hat er
wiederholt bis zur Evidenz geliefert. Weshalb nun von neuem das Experiment
der Entlassung in die Freiheit an ihm versuchen, da man doch im voraus
weiß, daß es mißlingen wird? Ganz zu schweigen von den Kosten der Unter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/192>, abgerufen am 01.09.2024.