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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Zur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges.

diese Zweiteilung nach der vorhandenen Gesinnung würde den Strafvollzug
außerordentlich vereinfachen.

Weiter würde es sich empfehlen, von allen Experimenten abzusehen, die
nicht unmittelbar zur Strafverbüßung zu rechnen sind. So sehr wir uns für
einen möglichst guten Schulunterricht der Jugend begeistern und von seiner
Notwendigkeit nach allen Richtungen hin durchdrungen sind, so wenig halten
wir es für zweckmäßig, Gefangene, die längst die Kinderschuhe ausgezogen und
vielleicht schon verschiedene Strafanstalten besucht haben, zu unterrichten und
zwar in Gegenständen, die in der Mehrzahl der Fälle keinen reellen Nutzen
mehr bringen. Man unterrichte Gefangene in mechanischen Arbeiten und mache
sie dadurch erwerbsfähig; alles andre lasse man als unnötige Dekoration beiseite.

Auch in ärztlicher Beziehung wird über das Maß der Notwendigkeit hinaus¬
gegangen. Wer fragt denn den Handwerker oder Arbeiter im Zustande der
Freiheit, ob er zufällig an einer leichten Indigestion leide oder ob er das
wissenschaftlich-theoretische Normalgewicht besitze? Er muß eben arbeiten, auch
wenn er nicht ganz disponibel ist und das Normalgewicht nicht ganz erreicht,
denn sonst verdient er nichts und muß hungern oder stehlen. Man gewöhne
also den Verbrecher nicht an Rücksichten, welche der freie Arbeiter nicht kennt
und nicht beachten darf.

Hinsichtlich der Ausnutzung der Arbeitskräfte befindet sich der heutige
Strafvollzug gleichfalls auf irrtümlichen Wegen. Es kann selbstverständlich
dagegen nichts eingewendet werden, daß, soweit es das Gesetz zuläßt, Arbeits¬
zwang ausgeübt wird, allein man sollte im Arbeitswesen nicht erziehliche Zwecke
verfolgen, die nur dazu führen, den Arbeitsertrag zu schmälern und die Kosten
der Gefangenschaft zu erhöhen. Man beschäftige den Gefangenen in den Zweigen,
die er erlernt hat und am lohnendsten betreiben kann, aber experimentire nicht,
indem man aus "edukatorischen" Gründen z. B. einen fertigen Tischler das
Cigarrendrehen erlernen läßt, angeblich, um seinen Willen zu brechen oder ihm
die Strafhaft empfindlicher zu machen. Um diese durchaus berechtigten Ziele
zu erreichen, giebt es einfachere, näherliegende drastische Mittel, die weit billiger
ausführbar sind.

Der größte und zugleich kostspieligste Unfug endlich wird mit der "ratio¬
nellen Jsolirhaft" getrieben. Wir haben schon oben die Kosten berührt, welche
mit der Erbauung von Jsolirhäusern verbunden sind, aber das System der
heutigen Jsolirhaft verteuert mit seinen zahlreichen persönlichen und sachlichen
Apparaten den Strafvollzug in noch weit höherem Grade. Es würde zu
weit führen, an dieser Stelle auf das gegenwärtige Jsolirsystem näher ein¬
zugehen oder eine detaillirte Kritik auszuüben; soviel steht aber fest, daß
der ursprüngliche Zweck des Jsolirens, wie ihn der amerikanische Quäker
Peru im Auge hatte, ein von dem heutigen weit verschiedener ist. Während
Peru in der Einzelhaft eine generelle Verschärfung der Strafhaft erblickte und


Zur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges.

diese Zweiteilung nach der vorhandenen Gesinnung würde den Strafvollzug
außerordentlich vereinfachen.

Weiter würde es sich empfehlen, von allen Experimenten abzusehen, die
nicht unmittelbar zur Strafverbüßung zu rechnen sind. So sehr wir uns für
einen möglichst guten Schulunterricht der Jugend begeistern und von seiner
Notwendigkeit nach allen Richtungen hin durchdrungen sind, so wenig halten
wir es für zweckmäßig, Gefangene, die längst die Kinderschuhe ausgezogen und
vielleicht schon verschiedene Strafanstalten besucht haben, zu unterrichten und
zwar in Gegenständen, die in der Mehrzahl der Fälle keinen reellen Nutzen
mehr bringen. Man unterrichte Gefangene in mechanischen Arbeiten und mache
sie dadurch erwerbsfähig; alles andre lasse man als unnötige Dekoration beiseite.

Auch in ärztlicher Beziehung wird über das Maß der Notwendigkeit hinaus¬
gegangen. Wer fragt denn den Handwerker oder Arbeiter im Zustande der
Freiheit, ob er zufällig an einer leichten Indigestion leide oder ob er das
wissenschaftlich-theoretische Normalgewicht besitze? Er muß eben arbeiten, auch
wenn er nicht ganz disponibel ist und das Normalgewicht nicht ganz erreicht,
denn sonst verdient er nichts und muß hungern oder stehlen. Man gewöhne
also den Verbrecher nicht an Rücksichten, welche der freie Arbeiter nicht kennt
und nicht beachten darf.

Hinsichtlich der Ausnutzung der Arbeitskräfte befindet sich der heutige
Strafvollzug gleichfalls auf irrtümlichen Wegen. Es kann selbstverständlich
dagegen nichts eingewendet werden, daß, soweit es das Gesetz zuläßt, Arbeits¬
zwang ausgeübt wird, allein man sollte im Arbeitswesen nicht erziehliche Zwecke
verfolgen, die nur dazu führen, den Arbeitsertrag zu schmälern und die Kosten
der Gefangenschaft zu erhöhen. Man beschäftige den Gefangenen in den Zweigen,
die er erlernt hat und am lohnendsten betreiben kann, aber experimentire nicht,
indem man aus „edukatorischen" Gründen z. B. einen fertigen Tischler das
Cigarrendrehen erlernen läßt, angeblich, um seinen Willen zu brechen oder ihm
die Strafhaft empfindlicher zu machen. Um diese durchaus berechtigten Ziele
zu erreichen, giebt es einfachere, näherliegende drastische Mittel, die weit billiger
ausführbar sind.

Der größte und zugleich kostspieligste Unfug endlich wird mit der „ratio¬
nellen Jsolirhaft" getrieben. Wir haben schon oben die Kosten berührt, welche
mit der Erbauung von Jsolirhäusern verbunden sind, aber das System der
heutigen Jsolirhaft verteuert mit seinen zahlreichen persönlichen und sachlichen
Apparaten den Strafvollzug in noch weit höherem Grade. Es würde zu
weit führen, an dieser Stelle auf das gegenwärtige Jsolirsystem näher ein¬
zugehen oder eine detaillirte Kritik auszuüben; soviel steht aber fest, daß
der ursprüngliche Zweck des Jsolirens, wie ihn der amerikanische Quäker
Peru im Auge hatte, ein von dem heutigen weit verschiedener ist. Während
Peru in der Einzelhaft eine generelle Verschärfung der Strafhaft erblickte und


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[0191] Zur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges. diese Zweiteilung nach der vorhandenen Gesinnung würde den Strafvollzug außerordentlich vereinfachen. Weiter würde es sich empfehlen, von allen Experimenten abzusehen, die nicht unmittelbar zur Strafverbüßung zu rechnen sind. So sehr wir uns für einen möglichst guten Schulunterricht der Jugend begeistern und von seiner Notwendigkeit nach allen Richtungen hin durchdrungen sind, so wenig halten wir es für zweckmäßig, Gefangene, die längst die Kinderschuhe ausgezogen und vielleicht schon verschiedene Strafanstalten besucht haben, zu unterrichten und zwar in Gegenständen, die in der Mehrzahl der Fälle keinen reellen Nutzen mehr bringen. Man unterrichte Gefangene in mechanischen Arbeiten und mache sie dadurch erwerbsfähig; alles andre lasse man als unnötige Dekoration beiseite. Auch in ärztlicher Beziehung wird über das Maß der Notwendigkeit hinaus¬ gegangen. Wer fragt denn den Handwerker oder Arbeiter im Zustande der Freiheit, ob er zufällig an einer leichten Indigestion leide oder ob er das wissenschaftlich-theoretische Normalgewicht besitze? Er muß eben arbeiten, auch wenn er nicht ganz disponibel ist und das Normalgewicht nicht ganz erreicht, denn sonst verdient er nichts und muß hungern oder stehlen. Man gewöhne also den Verbrecher nicht an Rücksichten, welche der freie Arbeiter nicht kennt und nicht beachten darf. Hinsichtlich der Ausnutzung der Arbeitskräfte befindet sich der heutige Strafvollzug gleichfalls auf irrtümlichen Wegen. Es kann selbstverständlich dagegen nichts eingewendet werden, daß, soweit es das Gesetz zuläßt, Arbeits¬ zwang ausgeübt wird, allein man sollte im Arbeitswesen nicht erziehliche Zwecke verfolgen, die nur dazu führen, den Arbeitsertrag zu schmälern und die Kosten der Gefangenschaft zu erhöhen. Man beschäftige den Gefangenen in den Zweigen, die er erlernt hat und am lohnendsten betreiben kann, aber experimentire nicht, indem man aus „edukatorischen" Gründen z. B. einen fertigen Tischler das Cigarrendrehen erlernen läßt, angeblich, um seinen Willen zu brechen oder ihm die Strafhaft empfindlicher zu machen. Um diese durchaus berechtigten Ziele zu erreichen, giebt es einfachere, näherliegende drastische Mittel, die weit billiger ausführbar sind. Der größte und zugleich kostspieligste Unfug endlich wird mit der „ratio¬ nellen Jsolirhaft" getrieben. Wir haben schon oben die Kosten berührt, welche mit der Erbauung von Jsolirhäusern verbunden sind, aber das System der heutigen Jsolirhaft verteuert mit seinen zahlreichen persönlichen und sachlichen Apparaten den Strafvollzug in noch weit höherem Grade. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle auf das gegenwärtige Jsolirsystem näher ein¬ zugehen oder eine detaillirte Kritik auszuüben; soviel steht aber fest, daß der ursprüngliche Zweck des Jsolirens, wie ihn der amerikanische Quäker Peru im Auge hatte, ein von dem heutigen weit verschiedener ist. Während Peru in der Einzelhaft eine generelle Verschärfung der Strafhaft erblickte und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/191>, abgerufen am 01.09.2024.