Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.Zur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges. diesen Vorzug. Ist es nicht verzeihlich, wenn man angesichts derartiger Mi߬ Doch genug der Kritik. Wir konnten uns aber der Aufgabe nicht entziehen, Eine Verminderung des Verbrechertums ist in keiner Weise zu erwarten; Zur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges. diesen Vorzug. Ist es nicht verzeihlich, wenn man angesichts derartiger Mi߬ Doch genug der Kritik. Wir konnten uns aber der Aufgabe nicht entziehen, Eine Verminderung des Verbrechertums ist in keiner Weise zu erwarten; <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0189" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154354"/> <fw type="header" place="top"> Zur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges.</fw><lb/> <p xml:id="ID_529" prev="#ID_528"> diesen Vorzug. Ist es nicht verzeihlich, wenn man angesichts derartiger Mi߬<lb/> verhältnisse einigermaßen an die „verkehrte Welt" erinnert wird?</p><lb/> <p xml:id="ID_530"> Doch genug der Kritik. Wir konnten uns aber der Aufgabe nicht entziehen,<lb/> durch Thatsachen zu beweisen, daß die Kosten des heutigen Strafvollzuges eine<lb/> Höhe erreicht haben, die vom staatswirtschaftlichen Standpunkte aus nicht länger<lb/> gerechtfertigt werden kann, und daß es an der Zeit ist, darüber nachzudenken,<lb/> wie diesem Übelstande begegnet werde» könne. Und wenn irgend ein Umstand<lb/> uns damit zu versöhnen vermag, daß dem allgemeinen deutschen Strafgesetzbuch<lb/> nicht ein Strafvollzugsgesetz auf dem Fuße gefolgt ist, so ist es der, daß man<lb/> in maßgebenden Kreisen durch diese Verzögerung Zeit gewinnt, Vorschläge über<lb/> Vereinfachung des Strafvollzuges entgegenzunehmen und zu würdigen.</p><lb/> <p xml:id="ID_531" next="#ID_532"> Eine Verminderung des Verbrechertums ist in keiner Weise zu erwarten;<lb/> im Gegenteile, je höher der allgemeine Kulturstand steigt, desto zahlreicher<lb/> werden die Verbrechen sich zeigen. Denn mit der Vervollkommnung der Kultur<lb/> werden die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse immer komplizirter, die<lb/> Gegensätze zwischen Reich und Arm immer schroffer werden. Jedes Verbrechen<lb/> ist im abstrakten Sinne als das Resultat sozialer und wirtschaftlicher Reibungen<lb/> anzusehen, letztere müssen aber umso häufiger und unabsehbarer hervortreten,<lb/> je dichter und künstlicher die menschliche Gesellschaft sich gruppirt. Auf einer<lb/> einsamen Insel, wo es nichts zu stehlen giebt, wird man keinen Spitzbuben<lb/> finden, in den menschenleeren und bis heute unerforschten afrikanischen Sand¬<lb/> wüsten, wo der Mensch keine bleibende Wohnstätte errichtet hat und höchstens<lb/> eine Beduinenschaar ihr Zeltlager für die kurze Dauer einer Nacht aufschlägt,<lb/> sind Brandstiftungen nicht möglich; in den endlosen Savannen Südamerikas,<lb/> wo es keine reichen Bankiers giebt, werden keine eisernen Kassenschränke erbrochen;<lb/> Robinson Crusov konnte beim besten Willen niemanden ermorden, bevor er den<lb/> Neger Freitag angetroffen hatte. Wie ganz anders gestalten sich diese Ver¬<lb/> hältnisse in unsern riesenhaften Städtezentren. Mit der verfeinerten Kultur, der<lb/> raffinirtem Genußsucht auf der einen Seite wächst die Begehrlichkeit der Armut<lb/> auf der andern. Neid und Haß der niedern Volksschichten gegenüber den vom<lb/> Glücke Bevorzugten nehmen an Stärke zu, die Fähigkeit, sich in das Unver¬<lb/> meidliche zu fügen, vermindert sich mit der steigenden Not und — die Verbrechen<lb/> werden zahlreicher. Die heutige Gesetzgebung, selbst von Rechtsgrundsätzen<lb/> zweifelhaften moralischen Werth durchdrungen, bietet schon lange keine Schutz-<lb/> Wehr mehr für den sogenannten „Dummen," sondern überläßt ihn unerbittlich<lb/> seinem Schicksale; dagegen gestattet sie dem Schlauen, der zu Reichtum und<lb/> Wohlleben mühelos gelangen will, das Zuchthaus mit dem Ärmel zu streifen.<lb/> Den Begriff „Schwindel" kennt sie nicht und läßt seine Ausführung unbestraft.<lb/> Sie ist vollkommen in den Begriffen des unsozialen römischen Rechts befangen<lb/> und wird zuletzt dahinführen, wo das römische Reich trotz seiner Größe und<lb/> Herrlichkeit schließlich anlangte: zum Untergange, wenn sich das germanische</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0189]
Zur Vereinfachung des gegenwärtigen Strafvollzuges.
diesen Vorzug. Ist es nicht verzeihlich, wenn man angesichts derartiger Mi߬
verhältnisse einigermaßen an die „verkehrte Welt" erinnert wird?
Doch genug der Kritik. Wir konnten uns aber der Aufgabe nicht entziehen,
durch Thatsachen zu beweisen, daß die Kosten des heutigen Strafvollzuges eine
Höhe erreicht haben, die vom staatswirtschaftlichen Standpunkte aus nicht länger
gerechtfertigt werden kann, und daß es an der Zeit ist, darüber nachzudenken,
wie diesem Übelstande begegnet werde» könne. Und wenn irgend ein Umstand
uns damit zu versöhnen vermag, daß dem allgemeinen deutschen Strafgesetzbuch
nicht ein Strafvollzugsgesetz auf dem Fuße gefolgt ist, so ist es der, daß man
in maßgebenden Kreisen durch diese Verzögerung Zeit gewinnt, Vorschläge über
Vereinfachung des Strafvollzuges entgegenzunehmen und zu würdigen.
Eine Verminderung des Verbrechertums ist in keiner Weise zu erwarten;
im Gegenteile, je höher der allgemeine Kulturstand steigt, desto zahlreicher
werden die Verbrechen sich zeigen. Denn mit der Vervollkommnung der Kultur
werden die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse immer komplizirter, die
Gegensätze zwischen Reich und Arm immer schroffer werden. Jedes Verbrechen
ist im abstrakten Sinne als das Resultat sozialer und wirtschaftlicher Reibungen
anzusehen, letztere müssen aber umso häufiger und unabsehbarer hervortreten,
je dichter und künstlicher die menschliche Gesellschaft sich gruppirt. Auf einer
einsamen Insel, wo es nichts zu stehlen giebt, wird man keinen Spitzbuben
finden, in den menschenleeren und bis heute unerforschten afrikanischen Sand¬
wüsten, wo der Mensch keine bleibende Wohnstätte errichtet hat und höchstens
eine Beduinenschaar ihr Zeltlager für die kurze Dauer einer Nacht aufschlägt,
sind Brandstiftungen nicht möglich; in den endlosen Savannen Südamerikas,
wo es keine reichen Bankiers giebt, werden keine eisernen Kassenschränke erbrochen;
Robinson Crusov konnte beim besten Willen niemanden ermorden, bevor er den
Neger Freitag angetroffen hatte. Wie ganz anders gestalten sich diese Ver¬
hältnisse in unsern riesenhaften Städtezentren. Mit der verfeinerten Kultur, der
raffinirtem Genußsucht auf der einen Seite wächst die Begehrlichkeit der Armut
auf der andern. Neid und Haß der niedern Volksschichten gegenüber den vom
Glücke Bevorzugten nehmen an Stärke zu, die Fähigkeit, sich in das Unver¬
meidliche zu fügen, vermindert sich mit der steigenden Not und — die Verbrechen
werden zahlreicher. Die heutige Gesetzgebung, selbst von Rechtsgrundsätzen
zweifelhaften moralischen Werth durchdrungen, bietet schon lange keine Schutz-
Wehr mehr für den sogenannten „Dummen," sondern überläßt ihn unerbittlich
seinem Schicksale; dagegen gestattet sie dem Schlauen, der zu Reichtum und
Wohlleben mühelos gelangen will, das Zuchthaus mit dem Ärmel zu streifen.
Den Begriff „Schwindel" kennt sie nicht und läßt seine Ausführung unbestraft.
Sie ist vollkommen in den Begriffen des unsozialen römischen Rechts befangen
und wird zuletzt dahinführen, wo das römische Reich trotz seiner Größe und
Herrlichkeit schließlich anlangte: zum Untergange, wenn sich das germanische
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