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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die christlich-soziale Bewegung in England.

deuten Klassen, sondern höchstens dem kleinen Bürgertum zu Gute kamen und
mehr und mehr in Bank- und Börseuinstitute ausarteten. Die englischen I'risnäl^
sooistiss dagegen sind gerade für das Wohl und die Verbesserung in der Lage
der Arbeiter von großem Einfluß gewesen, deren Konsum billiger und besser
gestaltet wurde und für die man überall die Grundlagen zu einem besseren und
menschenwürdigeren Dasein schuf. Unterrichtsanstalten, Schulen für die Ar¬
beiter und für das Volk im allgemeinen wurden geschaffen, Einigungsämter bei
Arbeitseinstellungen gebildet und Institute hervorgerufen, welche die Annäherung
der verschieden Bevölkerungsklassen vermittelten. Kurz, es war ein Werk des
Friedens und der Versöhnung.

Freilich ein Hauptziel der Bewegung ist ohne Erfolg geblieben, die Schaf¬
fung der Produktivgenossenschaften und Produktivassozicitionen der Arbeiter. Auch
bei uns in Deutschland sind gerade diese Vereinigungen, die so recht eine Lö¬
sung der sozialen Frage hätten anbahnen können, in einer gegenüber den andern
Genossenschaften verschwindenden Minderheit geblieben, und soweit sie existiren,
sind es Verbindungen von Handwerkern, nicht von Arbeitern. Für die Hand¬
werker aber liegt ein Bedürfnis nicht vor, da für sie die Innung viel geeig¬
neter und viel förderlicher wirkt. Die englischen Christlich-Sozialen haben es
zwar an Bemühungen zur Schaffung solcher Assoziationen nicht fehlen lassen,
allein hier zeigte es sich, daß das Konkurrenzprinzip nicht minder seine Berech¬
tigung hat als die Assoziativ". Die einzelnen Genossenschaften mußten not¬
wendigerweise einander Konkurrenz machen, und die Kräfte fehlten, um aus den
Arbeitern tüchtige Leiter für solche Unternehmungen zu finden. Nichtsdesto¬
weniger scheint es uns, als ob bei uns in Deutschland auch auf diesem Gebiete
noch etwas geschehen könnte, und wir glauben, daß die englischen Erfahrungen
uns in keiner Weise abzuschrecken brauchten.

Die Hauptwirkung der christlich-sozialen Bewegung in England sieht Bren¬
tano in der moralischen Umbildung. Während früher die Chartisten ganz in
derselben Weise wie die deutsche Sozialdemokratie auf den Umsturz des Staates
und der bestehenden Gesellschaft gerichtete Ziele verfolgten, ja sogar nicht weit
davon waren, diese gewaltsamen Ziele zu verwirklichen, ist ihre Partei aus dem
heutigen England verschwunden, und wenn die Mehrzahl der Arbeiter auch noch
politisch radikal und religiös freidenkerisch ist, so ist sie doch der bestehenden Ordnung
der Dinge nicht feindlich. Aber auch die höheren Klassen sind durch die christlich¬
soziale Bewegung moralisch gehoben worden. In der That -- so schließt Bren¬
tano --, der Abgrund, der ehemals in England die höheren und die unteren
Klassen trennte, ist heute überbrückt. An Stelle der früheren beiderseitigen
Entfremdung herrscht heute bei den höheren Klassen ein sympathisches Ver¬
ständnis sür das Bedürfen und Streben der unteren, bei den unteren das Ver¬
ständnis für die Notwendigkeit einer höheren Klasse, welche die Funktionen der
Führer des Volkes auszuüben versteht und ausübt. Gewiß ist noch viel zu


Die christlich-soziale Bewegung in England.

deuten Klassen, sondern höchstens dem kleinen Bürgertum zu Gute kamen und
mehr und mehr in Bank- und Börseuinstitute ausarteten. Die englischen I'risnäl^
sooistiss dagegen sind gerade für das Wohl und die Verbesserung in der Lage
der Arbeiter von großem Einfluß gewesen, deren Konsum billiger und besser
gestaltet wurde und für die man überall die Grundlagen zu einem besseren und
menschenwürdigeren Dasein schuf. Unterrichtsanstalten, Schulen für die Ar¬
beiter und für das Volk im allgemeinen wurden geschaffen, Einigungsämter bei
Arbeitseinstellungen gebildet und Institute hervorgerufen, welche die Annäherung
der verschieden Bevölkerungsklassen vermittelten. Kurz, es war ein Werk des
Friedens und der Versöhnung.

Freilich ein Hauptziel der Bewegung ist ohne Erfolg geblieben, die Schaf¬
fung der Produktivgenossenschaften und Produktivassozicitionen der Arbeiter. Auch
bei uns in Deutschland sind gerade diese Vereinigungen, die so recht eine Lö¬
sung der sozialen Frage hätten anbahnen können, in einer gegenüber den andern
Genossenschaften verschwindenden Minderheit geblieben, und soweit sie existiren,
sind es Verbindungen von Handwerkern, nicht von Arbeitern. Für die Hand¬
werker aber liegt ein Bedürfnis nicht vor, da für sie die Innung viel geeig¬
neter und viel förderlicher wirkt. Die englischen Christlich-Sozialen haben es
zwar an Bemühungen zur Schaffung solcher Assoziationen nicht fehlen lassen,
allein hier zeigte es sich, daß das Konkurrenzprinzip nicht minder seine Berech¬
tigung hat als die Assoziativ». Die einzelnen Genossenschaften mußten not¬
wendigerweise einander Konkurrenz machen, und die Kräfte fehlten, um aus den
Arbeitern tüchtige Leiter für solche Unternehmungen zu finden. Nichtsdesto¬
weniger scheint es uns, als ob bei uns in Deutschland auch auf diesem Gebiete
noch etwas geschehen könnte, und wir glauben, daß die englischen Erfahrungen
uns in keiner Weise abzuschrecken brauchten.

Die Hauptwirkung der christlich-sozialen Bewegung in England sieht Bren¬
tano in der moralischen Umbildung. Während früher die Chartisten ganz in
derselben Weise wie die deutsche Sozialdemokratie auf den Umsturz des Staates
und der bestehenden Gesellschaft gerichtete Ziele verfolgten, ja sogar nicht weit
davon waren, diese gewaltsamen Ziele zu verwirklichen, ist ihre Partei aus dem
heutigen England verschwunden, und wenn die Mehrzahl der Arbeiter auch noch
politisch radikal und religiös freidenkerisch ist, so ist sie doch der bestehenden Ordnung
der Dinge nicht feindlich. Aber auch die höheren Klassen sind durch die christlich¬
soziale Bewegung moralisch gehoben worden. In der That — so schließt Bren¬
tano —, der Abgrund, der ehemals in England die höheren und die unteren
Klassen trennte, ist heute überbrückt. An Stelle der früheren beiderseitigen
Entfremdung herrscht heute bei den höheren Klassen ein sympathisches Ver¬
ständnis sür das Bedürfen und Streben der unteren, bei den unteren das Ver¬
ständnis für die Notwendigkeit einer höheren Klasse, welche die Funktionen der
Führer des Volkes auszuüben versteht und ausübt. Gewiß ist noch viel zu


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[0181] Die christlich-soziale Bewegung in England. deuten Klassen, sondern höchstens dem kleinen Bürgertum zu Gute kamen und mehr und mehr in Bank- und Börseuinstitute ausarteten. Die englischen I'risnäl^ sooistiss dagegen sind gerade für das Wohl und die Verbesserung in der Lage der Arbeiter von großem Einfluß gewesen, deren Konsum billiger und besser gestaltet wurde und für die man überall die Grundlagen zu einem besseren und menschenwürdigeren Dasein schuf. Unterrichtsanstalten, Schulen für die Ar¬ beiter und für das Volk im allgemeinen wurden geschaffen, Einigungsämter bei Arbeitseinstellungen gebildet und Institute hervorgerufen, welche die Annäherung der verschieden Bevölkerungsklassen vermittelten. Kurz, es war ein Werk des Friedens und der Versöhnung. Freilich ein Hauptziel der Bewegung ist ohne Erfolg geblieben, die Schaf¬ fung der Produktivgenossenschaften und Produktivassozicitionen der Arbeiter. Auch bei uns in Deutschland sind gerade diese Vereinigungen, die so recht eine Lö¬ sung der sozialen Frage hätten anbahnen können, in einer gegenüber den andern Genossenschaften verschwindenden Minderheit geblieben, und soweit sie existiren, sind es Verbindungen von Handwerkern, nicht von Arbeitern. Für die Hand¬ werker aber liegt ein Bedürfnis nicht vor, da für sie die Innung viel geeig¬ neter und viel förderlicher wirkt. Die englischen Christlich-Sozialen haben es zwar an Bemühungen zur Schaffung solcher Assoziationen nicht fehlen lassen, allein hier zeigte es sich, daß das Konkurrenzprinzip nicht minder seine Berech¬ tigung hat als die Assoziativ». Die einzelnen Genossenschaften mußten not¬ wendigerweise einander Konkurrenz machen, und die Kräfte fehlten, um aus den Arbeitern tüchtige Leiter für solche Unternehmungen zu finden. Nichtsdesto¬ weniger scheint es uns, als ob bei uns in Deutschland auch auf diesem Gebiete noch etwas geschehen könnte, und wir glauben, daß die englischen Erfahrungen uns in keiner Weise abzuschrecken brauchten. Die Hauptwirkung der christlich-sozialen Bewegung in England sieht Bren¬ tano in der moralischen Umbildung. Während früher die Chartisten ganz in derselben Weise wie die deutsche Sozialdemokratie auf den Umsturz des Staates und der bestehenden Gesellschaft gerichtete Ziele verfolgten, ja sogar nicht weit davon waren, diese gewaltsamen Ziele zu verwirklichen, ist ihre Partei aus dem heutigen England verschwunden, und wenn die Mehrzahl der Arbeiter auch noch politisch radikal und religiös freidenkerisch ist, so ist sie doch der bestehenden Ordnung der Dinge nicht feindlich. Aber auch die höheren Klassen sind durch die christlich¬ soziale Bewegung moralisch gehoben worden. In der That — so schließt Bren¬ tano —, der Abgrund, der ehemals in England die höheren und die unteren Klassen trennte, ist heute überbrückt. An Stelle der früheren beiderseitigen Entfremdung herrscht heute bei den höheren Klassen ein sympathisches Ver¬ ständnis sür das Bedürfen und Streben der unteren, bei den unteren das Ver¬ ständnis für die Notwendigkeit einer höheren Klasse, welche die Funktionen der Führer des Volkes auszuüben versteht und ausübt. Gewiß ist noch viel zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/181>, abgerufen am 01.09.2024.