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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

wie von Heilung und Besänftigung angeweht -- "es ist nichts, ruft er, das
mich so mit einer stillen, wahren Empfindung ausfüllte, als die Züge patriar¬
chalischen Lebens," und ein andermal: "so beschränkt und glücklich waren die
herrlichen Altväter, so kindlich ihr Gefühl, ihre Dichtung" u. s. w.; er findet
zwei ganz junge Bauerbuben an der Erde liegen, setzt sich auf einen Pflug
und zeichnet sie mit allem ländlichen Zubehör, dem Zaune, dem Scheunentor,
gebrochenen Wagenrädern; die Mutter kommt hinzu, auch ein älterer Bruder;
er sieht sie in ihrem Thu", Hort ihre Worte, erfährt ihr Schicksal und schreibt
dann: "Wenn meine Sinnen gar nicht mehr halten wollen, so lindert all den
Tumult der Anblick eines solchen Geschöpfes, das in glücklicher Gelassenheit
den engen Kreis seines Daseins hingeht, von einem Tage zum andern sich
durchhilft, die Blätter abfallen sieht und nichts dabei denkt, als daß der
Winter kommt."

Und wie Werther, so auch Faust. Auch Fausts friedloser Unruhe liegt
dasselbe stille, seiner nicht bewußte, von der Naturordnung getragene Dasein
gegenüber; er empfindet es schmerzlich als ein ihm versagtes Glück, das
ihn, wenn er es erlangte, doch nicht zu halte" vermöchte.


Ach, daß die Einfalt, daß die Unschuld nie
Sich selbst und ihren heil'gen Wert erkennt --

oder:


Bin ich der Flüchtling nicht, der Unbchnuste,
Der Unmensch ohne Zweck und Ruh?
Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste,
Begierig wütend uach dem Abgrund zu.
Und seitwärts sie, mit kindlich dumpfen Sinnen,
Im Hüttchen auf dem kleinen Alllenscld,
Und all ihr häusliches Beginnen
Umfangen in der kleinen Welt u. f. w.

Ja die ganze Gretchen-Episode, die Szene der Spaziergänger vor dem Thor
und noch andre erhalten erst als solche Gegenbilder ihr Recht und ihre Stelle
in dem Aufbau des Dramas.

Die soeben genannten Werke gehören der gährenden Jugend des Dichters
an. Es folgte die Zeit in Weimar, wo er unter Geschäften und Lustbarkeiten
in verborgener Selbstbildung nach Seelenschönheit strebte und endlich den Sieg,
das innere Gleichgewicht gewann. Jetzt sinken die Irrungen des gebrochenen
Gemütes allmählich zurück, und es taucht das Antlitz des Seienden, die reine
Gestalt immer mehr empor. Schon im Jahre 1784 heißt es in einem Briefe
(23. Juni, an Frau von Stein): "Je älter man wird, desto mehr verschwindet
das Einzelne, die Seele gewöhnt sich an Resultate" -- Resultate, d. h. eben
die typischen Formen, die mitten im Flusse der Dinge unvergänglich sich er¬
halten und die er ein andermal mit mythischer Personifikation auch wohl
Götter nennt:


Gedanken über Goethe.

wie von Heilung und Besänftigung angeweht — „es ist nichts, ruft er, das
mich so mit einer stillen, wahren Empfindung ausfüllte, als die Züge patriar¬
chalischen Lebens," und ein andermal: „so beschränkt und glücklich waren die
herrlichen Altväter, so kindlich ihr Gefühl, ihre Dichtung" u. s. w.; er findet
zwei ganz junge Bauerbuben an der Erde liegen, setzt sich auf einen Pflug
und zeichnet sie mit allem ländlichen Zubehör, dem Zaune, dem Scheunentor,
gebrochenen Wagenrädern; die Mutter kommt hinzu, auch ein älterer Bruder;
er sieht sie in ihrem Thu», Hort ihre Worte, erfährt ihr Schicksal und schreibt
dann: „Wenn meine Sinnen gar nicht mehr halten wollen, so lindert all den
Tumult der Anblick eines solchen Geschöpfes, das in glücklicher Gelassenheit
den engen Kreis seines Daseins hingeht, von einem Tage zum andern sich
durchhilft, die Blätter abfallen sieht und nichts dabei denkt, als daß der
Winter kommt."

Und wie Werther, so auch Faust. Auch Fausts friedloser Unruhe liegt
dasselbe stille, seiner nicht bewußte, von der Naturordnung getragene Dasein
gegenüber; er empfindet es schmerzlich als ein ihm versagtes Glück, das
ihn, wenn er es erlangte, doch nicht zu halte» vermöchte.


Ach, daß die Einfalt, daß die Unschuld nie
Sich selbst und ihren heil'gen Wert erkennt —

oder:


Bin ich der Flüchtling nicht, der Unbchnuste,
Der Unmensch ohne Zweck und Ruh?
Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste,
Begierig wütend uach dem Abgrund zu.
Und seitwärts sie, mit kindlich dumpfen Sinnen,
Im Hüttchen auf dem kleinen Alllenscld,
Und all ihr häusliches Beginnen
Umfangen in der kleinen Welt u. f. w.

Ja die ganze Gretchen-Episode, die Szene der Spaziergänger vor dem Thor
und noch andre erhalten erst als solche Gegenbilder ihr Recht und ihre Stelle
in dem Aufbau des Dramas.

Die soeben genannten Werke gehören der gährenden Jugend des Dichters
an. Es folgte die Zeit in Weimar, wo er unter Geschäften und Lustbarkeiten
in verborgener Selbstbildung nach Seelenschönheit strebte und endlich den Sieg,
das innere Gleichgewicht gewann. Jetzt sinken die Irrungen des gebrochenen
Gemütes allmählich zurück, und es taucht das Antlitz des Seienden, die reine
Gestalt immer mehr empor. Schon im Jahre 1784 heißt es in einem Briefe
(23. Juni, an Frau von Stein): „Je älter man wird, desto mehr verschwindet
das Einzelne, die Seele gewöhnt sich an Resultate" — Resultate, d. h. eben
die typischen Formen, die mitten im Flusse der Dinge unvergänglich sich er¬
halten und die er ein andermal mit mythischer Personifikation auch wohl
Götter nennt:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/18>, abgerufen am 27.07.2024.