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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

und was sich sonst noch anfügen lasse" mag, ist Geist in Notwendigkeit ge¬
bunden, so unbewußt thätig und dunkel schaffend, wie das Tier sich geberdet
und die Pflanze treibt und wächst, Naturform, deren Anschauung uns, die wir
abgefallen und dadurch zwiespältig und unselig sind, wie die eines Verlornen
Paradieses ergreift und unter Lächeln zu Thränen rührt.

Auch der Dichter selbst stellt dieses objektive Dasein gern in Kontrast mit
subjektiven Stimmungen, um beide gegenseitig umso Heller zu beleuchten. So
erblickte der Wanderer, schwermütig und träumerisch durch die im Abendlicht
glühende südliche Landschaft irrend, die junge Frau mit ihrem Säugling unter
dem Ulmbaum und lächelte zu ihrer Frage, welches Gewerbe ihn hertreibe und
ob er Waaren aus der Stadt im Land herumbringe? Daß man an der Natur
als solcher, als bloßer Zeuge ihrer Erscheinungen und Verwandlungen, Genuß
finden könne, davon hat sie keinen Begriff; daß es ein antiker Tempel ist, an
dem sie wohnt, weiß sie nicht; auch nicht, welche Vergangenheit dieser Boden
deckt, welche Werke der Kunst sie in diesen Steinen umgeben; sie trinkt den
Brunnen, der zur Seite quillt, und erquickt den Wanderer daraus; der Vater
hat die Hütte aus dem umliegenden Schütte gebaut, der Schwalbe gleich, die
unfühlend ihr Nest an den Zierrat des Gesimses klebt; er hat die Tochter dem
Ackersmann aus der Nachbarschaft zur Ehe gegeben und ist in ihren Armen
gestorben; sie baue" die Erde, wie er sie baute, auf demselben Flecke, nach dem
Verfahren, das vormals und immer üblich war; so schließt sich Ring an Ring,
ein Geschlecht an das andre, die Frucht streut den Samen aus, dieser keimt
und wird zur Blüte, die Blüte zur Frucht, und der Kreislauf beginnt aufs
neue. Und der Fremdling scheidet gerührt und wünscht auch für seine eigne
Wanderung am Ziele eine gleiche Beschränkung, eine Hütte im Schutze des
Wäldchens, ein junges Weib, das ihn abends bei der Heimkehr empfange, den
Knaben auf dem Arm.*)

Der "Wanderer" ist vor dem Aufenthalt in Wetzlar (dem Sommer 1772)
entstanden; nachher aber deutete der Dichter die junge Frau und ihren
Mann auf Albert und Lotte und den Wanderer auf sich selbst, der auch Ab¬
schied nahm und nicht bleiben konnte, oder auf Werther, wie er sich zwei
Jahre später nannte. Auch zu Werthers überwallender Empfindung bilden
die Szenen primitiven Lebens den steigernden und reizenden Gegensatz. Werther
ist ein Freund der Kinder, in denen viles noch ungeteilt, die Knospe noch
uneutsaltet ist; er pilgert in die Heimat, zu den Stätten seiner ersten Jugend,
und "kostet jede Erinnerung nach seinem Herzen"; er trägt den Homer mit
sich herum, aus den Szenen der Ilias und Odyssee wird sein krankes Gemüt



Ähnlich ist der Schlich des freundlichen, rhythmisch kräftigen Liedes "An die Er¬
wählte," das wohl derselben Zeit des Dichters, aber einer mutigen, nicht elegischen Stim¬
mung angehört.
Gedanken über Goethe.

und was sich sonst noch anfügen lasse» mag, ist Geist in Notwendigkeit ge¬
bunden, so unbewußt thätig und dunkel schaffend, wie das Tier sich geberdet
und die Pflanze treibt und wächst, Naturform, deren Anschauung uns, die wir
abgefallen und dadurch zwiespältig und unselig sind, wie die eines Verlornen
Paradieses ergreift und unter Lächeln zu Thränen rührt.

Auch der Dichter selbst stellt dieses objektive Dasein gern in Kontrast mit
subjektiven Stimmungen, um beide gegenseitig umso Heller zu beleuchten. So
erblickte der Wanderer, schwermütig und träumerisch durch die im Abendlicht
glühende südliche Landschaft irrend, die junge Frau mit ihrem Säugling unter
dem Ulmbaum und lächelte zu ihrer Frage, welches Gewerbe ihn hertreibe und
ob er Waaren aus der Stadt im Land herumbringe? Daß man an der Natur
als solcher, als bloßer Zeuge ihrer Erscheinungen und Verwandlungen, Genuß
finden könne, davon hat sie keinen Begriff; daß es ein antiker Tempel ist, an
dem sie wohnt, weiß sie nicht; auch nicht, welche Vergangenheit dieser Boden
deckt, welche Werke der Kunst sie in diesen Steinen umgeben; sie trinkt den
Brunnen, der zur Seite quillt, und erquickt den Wanderer daraus; der Vater
hat die Hütte aus dem umliegenden Schütte gebaut, der Schwalbe gleich, die
unfühlend ihr Nest an den Zierrat des Gesimses klebt; er hat die Tochter dem
Ackersmann aus der Nachbarschaft zur Ehe gegeben und ist in ihren Armen
gestorben; sie baue» die Erde, wie er sie baute, auf demselben Flecke, nach dem
Verfahren, das vormals und immer üblich war; so schließt sich Ring an Ring,
ein Geschlecht an das andre, die Frucht streut den Samen aus, dieser keimt
und wird zur Blüte, die Blüte zur Frucht, und der Kreislauf beginnt aufs
neue. Und der Fremdling scheidet gerührt und wünscht auch für seine eigne
Wanderung am Ziele eine gleiche Beschränkung, eine Hütte im Schutze des
Wäldchens, ein junges Weib, das ihn abends bei der Heimkehr empfange, den
Knaben auf dem Arm.*)

Der „Wanderer" ist vor dem Aufenthalt in Wetzlar (dem Sommer 1772)
entstanden; nachher aber deutete der Dichter die junge Frau und ihren
Mann auf Albert und Lotte und den Wanderer auf sich selbst, der auch Ab¬
schied nahm und nicht bleiben konnte, oder auf Werther, wie er sich zwei
Jahre später nannte. Auch zu Werthers überwallender Empfindung bilden
die Szenen primitiven Lebens den steigernden und reizenden Gegensatz. Werther
ist ein Freund der Kinder, in denen viles noch ungeteilt, die Knospe noch
uneutsaltet ist; er pilgert in die Heimat, zu den Stätten seiner ersten Jugend,
und „kostet jede Erinnerung nach seinem Herzen"; er trägt den Homer mit
sich herum, aus den Szenen der Ilias und Odyssee wird sein krankes Gemüt



Ähnlich ist der Schlich des freundlichen, rhythmisch kräftigen Liedes „An die Er¬
wählte," das wohl derselben Zeit des Dichters, aber einer mutigen, nicht elegischen Stim¬
mung angehört.
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[0017] Gedanken über Goethe. und was sich sonst noch anfügen lasse» mag, ist Geist in Notwendigkeit ge¬ bunden, so unbewußt thätig und dunkel schaffend, wie das Tier sich geberdet und die Pflanze treibt und wächst, Naturform, deren Anschauung uns, die wir abgefallen und dadurch zwiespältig und unselig sind, wie die eines Verlornen Paradieses ergreift und unter Lächeln zu Thränen rührt. Auch der Dichter selbst stellt dieses objektive Dasein gern in Kontrast mit subjektiven Stimmungen, um beide gegenseitig umso Heller zu beleuchten. So erblickte der Wanderer, schwermütig und träumerisch durch die im Abendlicht glühende südliche Landschaft irrend, die junge Frau mit ihrem Säugling unter dem Ulmbaum und lächelte zu ihrer Frage, welches Gewerbe ihn hertreibe und ob er Waaren aus der Stadt im Land herumbringe? Daß man an der Natur als solcher, als bloßer Zeuge ihrer Erscheinungen und Verwandlungen, Genuß finden könne, davon hat sie keinen Begriff; daß es ein antiker Tempel ist, an dem sie wohnt, weiß sie nicht; auch nicht, welche Vergangenheit dieser Boden deckt, welche Werke der Kunst sie in diesen Steinen umgeben; sie trinkt den Brunnen, der zur Seite quillt, und erquickt den Wanderer daraus; der Vater hat die Hütte aus dem umliegenden Schütte gebaut, der Schwalbe gleich, die unfühlend ihr Nest an den Zierrat des Gesimses klebt; er hat die Tochter dem Ackersmann aus der Nachbarschaft zur Ehe gegeben und ist in ihren Armen gestorben; sie baue» die Erde, wie er sie baute, auf demselben Flecke, nach dem Verfahren, das vormals und immer üblich war; so schließt sich Ring an Ring, ein Geschlecht an das andre, die Frucht streut den Samen aus, dieser keimt und wird zur Blüte, die Blüte zur Frucht, und der Kreislauf beginnt aufs neue. Und der Fremdling scheidet gerührt und wünscht auch für seine eigne Wanderung am Ziele eine gleiche Beschränkung, eine Hütte im Schutze des Wäldchens, ein junges Weib, das ihn abends bei der Heimkehr empfange, den Knaben auf dem Arm.*) Der „Wanderer" ist vor dem Aufenthalt in Wetzlar (dem Sommer 1772) entstanden; nachher aber deutete der Dichter die junge Frau und ihren Mann auf Albert und Lotte und den Wanderer auf sich selbst, der auch Ab¬ schied nahm und nicht bleiben konnte, oder auf Werther, wie er sich zwei Jahre später nannte. Auch zu Werthers überwallender Empfindung bilden die Szenen primitiven Lebens den steigernden und reizenden Gegensatz. Werther ist ein Freund der Kinder, in denen viles noch ungeteilt, die Knospe noch uneutsaltet ist; er pilgert in die Heimat, zu den Stätten seiner ersten Jugend, und „kostet jede Erinnerung nach seinem Herzen"; er trägt den Homer mit sich herum, aus den Szenen der Ilias und Odyssee wird sein krankes Gemüt Ähnlich ist der Schlich des freundlichen, rhythmisch kräftigen Liedes „An die Er¬ wählte," das wohl derselben Zeit des Dichters, aber einer mutigen, nicht elegischen Stim¬ mung angehört.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/17>, abgerufen am 27.07.2024.