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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Line deutsch-nationale Verslehre.

Alles dies hat nämlich schon Westphal in seinem kleinen aber gehaltvollen
Büchlein "Theorie der neuhochdeutschen Metrik" (Jena, 1870) in seiner scharf¬
sinnigen und sichern Weise entwickelt. Herr Beyer nimmt zwar die rhythmische
Reihe von Westphal auf, schreibt auch eine auf deren Verschiedenheit von der
Verszeilc bezügliche Stelle aus ihm heraus. Aber das ist auch alles. Weder
kennt er die rhythmische Periode, noch ist überhaupt Westphal weiterhin in
der Behandlung des Strophenbaues, wo Herr Beyer nur Verse kennt, von irgend
welchem Einfluß auf ihn gewesen. Seine "rhythmische Reihe" erscheint so als
ein ganz äußerlich seinem Lehrgebäude cmgcklebter bedeutungsloser Zierrat,
während sie die ganze Architektonik desselben hätte durchdringen sollen.

Schon aus diesem Grunde, abgesehen von der Nichtbeachtung so wesent¬
licher andrer Merkmale, mußte die Strophenlehre mangelhaft ausfallen. Der
für dieselbe vorzüglich angezeigte Gesichtspunkt war der historische. Von der
einfachsten Strophenform der kirchlichen Weisen und des weltlichen Volksliedes
ausgehend hätte zu den künstlichen Strophen, wie sie im Laufe der Zeit sich
allmählich ausgebildet haben, aufgestiegen werden sollen. "Interessant wäre
der Nachweis, wie sich die einzelnen Strophenformen bis in die Neuzeit aus¬
einander entfaltet haben" -- sagt Herr Beyer selber. Warum hat er sich
diesen interessanten Nachweis entgehen lassen? Dazu war in seiner umfang¬
reichen Poetik, die sogar einen unnütze" Abriß -- was für einen! -- der Lite¬
raturgeschichte enthält, vor allem die Stelle.

Noch ein Wort müssen wir über die Strophentaufen sagen, von denen der
Verfasser wünscht, daß man sie als berechtigte Neuerung anerkennen möge. Un¬
brauchbar sind sie, wie aus obigem hervorgeht, schon deshalb, weil unter der¬
selben Benennung die allerverschiedensten Strophenformen begriffen werden. Aber
auch abgesehen davon sind sie recht wunderlich ausgefallen. Die "freundliche"
siebenzeilige Strophe*) mit der Reimverschlingung ababood, die sich schon bei
den mittelhochdeutschen Dichtern findet, ferner bei Goethe, Voß, Rückert, Schwab
n. s. w., belegt Herr Beyer mit dem Namen "Schmidt-Cabanis-Strophe," weil
dessen "weitgesungenes" (?) Neues Märlein vom Champagnerwein darin ge¬
schrieben ist. Die ganz gewöhnliche achtzeilige Strophe mit gepaarten Reimen,
in der neben Goethe, Wilhelm Müller, Mörike u. a. auch eine Gräfin Wicken-
burg-Almasy gedichtet hat, sollen wir mit Herrn Beyer nun "Wickenburg-Alnuisy-
Strophe" nennen. Wir fürchten, daß dies -- die Frau Gräfin ausgenommen --
kaum irgend jemandes Beifall finden dürfte. Wie Herr Beyer aber den aus¬
gesprochenen Zweck, "durch bekannte Namen sofort die Vorstellung von der
Strophenform mit dem verständnisweckenden Lichte der Erinnerung zu über-



*) Im Vorbeigehen wollen wir unsern Lesern die Mitteilung nicht vorenthalten, daß
dem Verfasser die siebenzeilige Strophe mit dem Aufgesang -ed-^b überhaupt "als die Ver.
cinigung der Blüte unsrer ernsteren (?) lyrischen Poesie erscheint."
Line deutsch-nationale Verslehre.

Alles dies hat nämlich schon Westphal in seinem kleinen aber gehaltvollen
Büchlein „Theorie der neuhochdeutschen Metrik" (Jena, 1870) in seiner scharf¬
sinnigen und sichern Weise entwickelt. Herr Beyer nimmt zwar die rhythmische
Reihe von Westphal auf, schreibt auch eine auf deren Verschiedenheit von der
Verszeilc bezügliche Stelle aus ihm heraus. Aber das ist auch alles. Weder
kennt er die rhythmische Periode, noch ist überhaupt Westphal weiterhin in
der Behandlung des Strophenbaues, wo Herr Beyer nur Verse kennt, von irgend
welchem Einfluß auf ihn gewesen. Seine „rhythmische Reihe" erscheint so als
ein ganz äußerlich seinem Lehrgebäude cmgcklebter bedeutungsloser Zierrat,
während sie die ganze Architektonik desselben hätte durchdringen sollen.

Schon aus diesem Grunde, abgesehen von der Nichtbeachtung so wesent¬
licher andrer Merkmale, mußte die Strophenlehre mangelhaft ausfallen. Der
für dieselbe vorzüglich angezeigte Gesichtspunkt war der historische. Von der
einfachsten Strophenform der kirchlichen Weisen und des weltlichen Volksliedes
ausgehend hätte zu den künstlichen Strophen, wie sie im Laufe der Zeit sich
allmählich ausgebildet haben, aufgestiegen werden sollen. „Interessant wäre
der Nachweis, wie sich die einzelnen Strophenformen bis in die Neuzeit aus¬
einander entfaltet haben" — sagt Herr Beyer selber. Warum hat er sich
diesen interessanten Nachweis entgehen lassen? Dazu war in seiner umfang¬
reichen Poetik, die sogar einen unnütze» Abriß — was für einen! — der Lite¬
raturgeschichte enthält, vor allem die Stelle.

Noch ein Wort müssen wir über die Strophentaufen sagen, von denen der
Verfasser wünscht, daß man sie als berechtigte Neuerung anerkennen möge. Un¬
brauchbar sind sie, wie aus obigem hervorgeht, schon deshalb, weil unter der¬
selben Benennung die allerverschiedensten Strophenformen begriffen werden. Aber
auch abgesehen davon sind sie recht wunderlich ausgefallen. Die „freundliche"
siebenzeilige Strophe*) mit der Reimverschlingung ababood, die sich schon bei
den mittelhochdeutschen Dichtern findet, ferner bei Goethe, Voß, Rückert, Schwab
n. s. w., belegt Herr Beyer mit dem Namen „Schmidt-Cabanis-Strophe," weil
dessen „weitgesungenes" (?) Neues Märlein vom Champagnerwein darin ge¬
schrieben ist. Die ganz gewöhnliche achtzeilige Strophe mit gepaarten Reimen,
in der neben Goethe, Wilhelm Müller, Mörike u. a. auch eine Gräfin Wicken-
burg-Almasy gedichtet hat, sollen wir mit Herrn Beyer nun „Wickenburg-Alnuisy-
Strophe" nennen. Wir fürchten, daß dies — die Frau Gräfin ausgenommen —
kaum irgend jemandes Beifall finden dürfte. Wie Herr Beyer aber den aus¬
gesprochenen Zweck, „durch bekannte Namen sofort die Vorstellung von der
Strophenform mit dem verständnisweckenden Lichte der Erinnerung zu über-



*) Im Vorbeigehen wollen wir unsern Lesern die Mitteilung nicht vorenthalten, daß
dem Verfasser die siebenzeilige Strophe mit dem Aufgesang -ed-^b überhaupt „als die Ver.
cinigung der Blüte unsrer ernsteren (?) lyrischen Poesie erscheint."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/150>, abgerufen am 27.07.2024.