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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Eine deutsch-nationale Verslehre.

von einander verschieden sind. Und doch sollen wir sie beide gleichermaßen
"Geibcls Sehnsuchtsstrophe" nennen.

Schon die Art des Reims (ob männlich oder weiblich) ist bedeutsamer
als die Reimstellung, weit wichtiger aber als die Anzahl der Verszeilen ist
deren Länge und rhythmischer Bau. Herrn Bayer ist es dagegen für die Ein¬
ordnung der Strophe ganz gleichgiltig, ob ein Vers nur durch einen jauch¬
zenden Ausruf wie "Juchhe" in "Goethes Vanitas-Strophe" repräsentirt oder
durch eine längere Reihe von Takten ausgefüllt wird. Auch der Refrain kommt
nicht als besondres Element des Strophenbaues in Betracht. Der deutsche
Ausdruck "Kehrreim" dafür ist Veranlassung gewesen, ihn unter den Reim¬
arten mit abzuhandeln, wozu er garnicht gehört, während er für den Strvphen-
bau von großer Bedeutsamkeit (auch historisch) ist.

Zu alledem kommt, daß die Anzahl der Verszeilcn an sich zur Klassifizirnng
der Strophen ungeeignet ist, da der Vers oder die Verszeile selber kein fester,
die wirkliche rhythmische Gliederung vollkommen bezeichnender Begriff ist. Dies
ist vielmehr nur die rhythmische Reihe, d. h. die eine Anzahl auf einander fol¬
gender Verstakte unter einem Hauptaccent zusammenfassende nächst höhere
rhythmische Einheit. Zwei oder mehr Reihen schließen sich wiederum zu einem
größern rhythmischen Abschnitt, der Periode, zusammen, und diese ist für die
Charakteristik des Strophenbaues entscheidend. In der Mehrzahl der Fälle ent¬
spricht allerdings die deutsche Verszeile der rhythmischen Reihe, keineswegs aber
durchaus. Es ist Willkür, ob der deutsche Dichter die zweireihige Periode in
einer oder in zwei Zeilen schreibt. In der zweizeiligen Strophe Platens:


Mutig stand an Persiens Grenzen Roms erprobtes Heer im Feld,
Carus saß in seinem Zelte, der den Purpur trug, ein Held.

sind je zwei rhythmische Reihen in einer Zeile geschrieben; sie ist aber genau
das nämliche, was die vierzeilige Kernersche Strophe, in der mit jeder rhyth¬
mischen Reihe abgesetzt wird:


Preisend mit viel schönen Reden
Ihrer Liinder Wert und Zahl
Saßen viele deutsche Fürsten
Einst zu Worms im Kaiscrsaal.

Obige Platensche Strophe (in der akatalektischen Form: "Nächtlich am Busento
lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder" :c.) stellt Herr Beyer auch zu den Vier-
zeiligen Strophenarten, aber ebenso müßte er doch auch die oben zitirte Strophe
von Rittershaus nicht zu den sechs-, sondern zu den zwölfzeiligen rechnen.
Daß er bei diesem einen Platenschen Gedicht eine Ausnahme von seinem Zeilen¬
prinzip macht, hat wahrscheinlich darin seinen Grund, daß Westphal dies Bei¬
spiel besonders heraushebt.


Eine deutsch-nationale Verslehre.

von einander verschieden sind. Und doch sollen wir sie beide gleichermaßen
„Geibcls Sehnsuchtsstrophe" nennen.

Schon die Art des Reims (ob männlich oder weiblich) ist bedeutsamer
als die Reimstellung, weit wichtiger aber als die Anzahl der Verszeilen ist
deren Länge und rhythmischer Bau. Herrn Bayer ist es dagegen für die Ein¬
ordnung der Strophe ganz gleichgiltig, ob ein Vers nur durch einen jauch¬
zenden Ausruf wie „Juchhe" in „Goethes Vanitas-Strophe" repräsentirt oder
durch eine längere Reihe von Takten ausgefüllt wird. Auch der Refrain kommt
nicht als besondres Element des Strophenbaues in Betracht. Der deutsche
Ausdruck „Kehrreim" dafür ist Veranlassung gewesen, ihn unter den Reim¬
arten mit abzuhandeln, wozu er garnicht gehört, während er für den Strvphen-
bau von großer Bedeutsamkeit (auch historisch) ist.

Zu alledem kommt, daß die Anzahl der Verszeilcn an sich zur Klassifizirnng
der Strophen ungeeignet ist, da der Vers oder die Verszeile selber kein fester,
die wirkliche rhythmische Gliederung vollkommen bezeichnender Begriff ist. Dies
ist vielmehr nur die rhythmische Reihe, d. h. die eine Anzahl auf einander fol¬
gender Verstakte unter einem Hauptaccent zusammenfassende nächst höhere
rhythmische Einheit. Zwei oder mehr Reihen schließen sich wiederum zu einem
größern rhythmischen Abschnitt, der Periode, zusammen, und diese ist für die
Charakteristik des Strophenbaues entscheidend. In der Mehrzahl der Fälle ent¬
spricht allerdings die deutsche Verszeile der rhythmischen Reihe, keineswegs aber
durchaus. Es ist Willkür, ob der deutsche Dichter die zweireihige Periode in
einer oder in zwei Zeilen schreibt. In der zweizeiligen Strophe Platens:


Mutig stand an Persiens Grenzen Roms erprobtes Heer im Feld,
Carus saß in seinem Zelte, der den Purpur trug, ein Held.

sind je zwei rhythmische Reihen in einer Zeile geschrieben; sie ist aber genau
das nämliche, was die vierzeilige Kernersche Strophe, in der mit jeder rhyth¬
mischen Reihe abgesetzt wird:


Preisend mit viel schönen Reden
Ihrer Liinder Wert und Zahl
Saßen viele deutsche Fürsten
Einst zu Worms im Kaiscrsaal.

Obige Platensche Strophe (in der akatalektischen Form: „Nächtlich am Busento
lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder" :c.) stellt Herr Beyer auch zu den Vier-
zeiligen Strophenarten, aber ebenso müßte er doch auch die oben zitirte Strophe
von Rittershaus nicht zu den sechs-, sondern zu den zwölfzeiligen rechnen.
Daß er bei diesem einen Platenschen Gedicht eine Ausnahme von seinem Zeilen¬
prinzip macht, hat wahrscheinlich darin seinen Grund, daß Westphal dies Bei¬
spiel besonders heraushebt.


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[0149] Eine deutsch-nationale Verslehre. von einander verschieden sind. Und doch sollen wir sie beide gleichermaßen „Geibcls Sehnsuchtsstrophe" nennen. Schon die Art des Reims (ob männlich oder weiblich) ist bedeutsamer als die Reimstellung, weit wichtiger aber als die Anzahl der Verszeilen ist deren Länge und rhythmischer Bau. Herrn Bayer ist es dagegen für die Ein¬ ordnung der Strophe ganz gleichgiltig, ob ein Vers nur durch einen jauch¬ zenden Ausruf wie „Juchhe" in „Goethes Vanitas-Strophe" repräsentirt oder durch eine längere Reihe von Takten ausgefüllt wird. Auch der Refrain kommt nicht als besondres Element des Strophenbaues in Betracht. Der deutsche Ausdruck „Kehrreim" dafür ist Veranlassung gewesen, ihn unter den Reim¬ arten mit abzuhandeln, wozu er garnicht gehört, während er für den Strvphen- bau von großer Bedeutsamkeit (auch historisch) ist. Zu alledem kommt, daß die Anzahl der Verszeilcn an sich zur Klassifizirnng der Strophen ungeeignet ist, da der Vers oder die Verszeile selber kein fester, die wirkliche rhythmische Gliederung vollkommen bezeichnender Begriff ist. Dies ist vielmehr nur die rhythmische Reihe, d. h. die eine Anzahl auf einander fol¬ gender Verstakte unter einem Hauptaccent zusammenfassende nächst höhere rhythmische Einheit. Zwei oder mehr Reihen schließen sich wiederum zu einem größern rhythmischen Abschnitt, der Periode, zusammen, und diese ist für die Charakteristik des Strophenbaues entscheidend. In der Mehrzahl der Fälle ent¬ spricht allerdings die deutsche Verszeile der rhythmischen Reihe, keineswegs aber durchaus. Es ist Willkür, ob der deutsche Dichter die zweireihige Periode in einer oder in zwei Zeilen schreibt. In der zweizeiligen Strophe Platens: Mutig stand an Persiens Grenzen Roms erprobtes Heer im Feld, Carus saß in seinem Zelte, der den Purpur trug, ein Held. sind je zwei rhythmische Reihen in einer Zeile geschrieben; sie ist aber genau das nämliche, was die vierzeilige Kernersche Strophe, in der mit jeder rhyth¬ mischen Reihe abgesetzt wird: Preisend mit viel schönen Reden Ihrer Liinder Wert und Zahl Saßen viele deutsche Fürsten Einst zu Worms im Kaiscrsaal. Obige Platensche Strophe (in der akatalektischen Form: „Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder" :c.) stellt Herr Beyer auch zu den Vier- zeiligen Strophenarten, aber ebenso müßte er doch auch die oben zitirte Strophe von Rittershaus nicht zu den sechs-, sondern zu den zwölfzeiligen rechnen. Daß er bei diesem einen Platenschen Gedicht eine Ausnahme von seinem Zeilen¬ prinzip macht, hat wahrscheinlich darin seinen Grund, daß Westphal dies Bei¬ spiel besonders heraushebt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/149>, abgerufen am 27.07.2024.