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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Georg lvaitz.

nannten Dreißigerausschusses zur Durchführung der Reichsverfassung habe ich
an den wichtigsten Kommissionsverhandlungcn teilgenommen; auch den Be¬
ratungen, die wiederholt von Mitgliedern der Majorität über besonders wichtige
Angelegenheiten veranstaltet wurden, habe ich meistens beigewohnt. Mir ist
diese ganze Zeit eine sehr bedeutende gewesen, und ich möchte sie nicht missen.
Ich habe in ihr mehr gelernt, auch für meine Wissenschaft, als in manchen,
Jahre gelehrter Arbeit,"

Mit einem herben Gefühl der Enttäuschung mag Walz nach der Auflösung
der Versammlung im Sommer 1849 nach der neuen Stätte seines Wir¬
kens, nach Göttingen gegangen sein, mit einem Gefühle des Schmerzes und
des Zornes dazu, daß die deutscheu Mächte das kleine Schleswig-Holstein seinen
Verzweiflungskampf allein durchringen ließen. Und dennoch, in all dieser Ent¬
täuschung, unter dem Scheitern aller frohen Hoffnungen auf die Wiedergeburt
der engern Heimat und des großen ganzen Deutschland, die frohe Zuversicht
auf ein dereinstiges Gelingen.

Aber nicht der Politiker Waitz soll hier betrachtet werden, nur der Lehrer
und der Gelehrte. Die Universität Göttingen hat seit ihrer Gründung die
Geschichtswissenschaft eifrig gepflegt und gefördert. Die reichhaltige Bibliothek,
eine der besten und vielleicht die planvollst angelegte Deutschlands, gewährte
alle nur irgend zu wünschenden literarischen Hilfsmittel. Die Stadt selbst, ein¬
gebettet in ein weites Thal, umkränzt von dem mit alten Linden geschmückten
Wall, bot wenig Zerstreuung, aber gewährte engen Anschluß an gleichstrebende
Kollegen und die Möglichkeit, eine ergebene Schülerschaar um sich zu sammeln.
Allen Genossen des Waitzschen Seminars wird die Eckstube des Meisters, mit
ihren hellen auf den Wall hinausgehenden Fenstern unvergessen bleiben. Hier
versammelten sich die Studenten, die an den von Waitz geleiteten Übungen
teilnehmen durften, jeden Freitag um sechs Uhr. Vor dem Sopha stand ein runder
Tisch, auf dieseni brannte in Winterszeit eine Lampe, ringsherum standen Stühle.
Leise ging die Unterhaltung und gegenseitige Begrüßung vor sich, einige Kecke
aus jüngern Semestern wagten wohl auch vorwitzige Blicke auf die auf den
Tisch gelegten Bücher zu werfen oder sie bei den eingelegten Zeichen neugierig
aufzuschlagen, nicht ohne den strafenden Viick der ältern, sich schon höher dünkenden'zu
erfahren. Gegen einViertel auf auf sieben öffnete sich Nebenthür, die hohe Gestalt des
Lehrers trat mit freundlichem Gruß ein. Er nahm auf dem Sopha Platz, in bequemer
Haltung, bisweilen mit seiner Lorgnette spielend. Wir andern auf den Stühlen
rings um ihn her. Man hätte ein Mäuschen durch das Zimmer laufen hören können.
Und doch dabei nichts Steifes, nichts Gezwungenes. Jeder von uns wußte, daß
uicht nur der Lehrer dort saß, sondern auch der wahrhaft väterliche Freund
und Berater. Und mehr als einmal hat sich im Laufe der Jahre das Gefühl,
das uns alle beseelte, ausgesprochen, am innigsten und dankbarsten, als es in
den ersten Augusttagen des Jahres 1874 galt, das füufuudzwanzigjührige Be-


Georg lvaitz.

nannten Dreißigerausschusses zur Durchführung der Reichsverfassung habe ich
an den wichtigsten Kommissionsverhandlungcn teilgenommen; auch den Be¬
ratungen, die wiederholt von Mitgliedern der Majorität über besonders wichtige
Angelegenheiten veranstaltet wurden, habe ich meistens beigewohnt. Mir ist
diese ganze Zeit eine sehr bedeutende gewesen, und ich möchte sie nicht missen.
Ich habe in ihr mehr gelernt, auch für meine Wissenschaft, als in manchen,
Jahre gelehrter Arbeit,"

Mit einem herben Gefühl der Enttäuschung mag Walz nach der Auflösung
der Versammlung im Sommer 1849 nach der neuen Stätte seines Wir¬
kens, nach Göttingen gegangen sein, mit einem Gefühle des Schmerzes und
des Zornes dazu, daß die deutscheu Mächte das kleine Schleswig-Holstein seinen
Verzweiflungskampf allein durchringen ließen. Und dennoch, in all dieser Ent¬
täuschung, unter dem Scheitern aller frohen Hoffnungen auf die Wiedergeburt
der engern Heimat und des großen ganzen Deutschland, die frohe Zuversicht
auf ein dereinstiges Gelingen.

Aber nicht der Politiker Waitz soll hier betrachtet werden, nur der Lehrer
und der Gelehrte. Die Universität Göttingen hat seit ihrer Gründung die
Geschichtswissenschaft eifrig gepflegt und gefördert. Die reichhaltige Bibliothek,
eine der besten und vielleicht die planvollst angelegte Deutschlands, gewährte
alle nur irgend zu wünschenden literarischen Hilfsmittel. Die Stadt selbst, ein¬
gebettet in ein weites Thal, umkränzt von dem mit alten Linden geschmückten
Wall, bot wenig Zerstreuung, aber gewährte engen Anschluß an gleichstrebende
Kollegen und die Möglichkeit, eine ergebene Schülerschaar um sich zu sammeln.
Allen Genossen des Waitzschen Seminars wird die Eckstube des Meisters, mit
ihren hellen auf den Wall hinausgehenden Fenstern unvergessen bleiben. Hier
versammelten sich die Studenten, die an den von Waitz geleiteten Übungen
teilnehmen durften, jeden Freitag um sechs Uhr. Vor dem Sopha stand ein runder
Tisch, auf dieseni brannte in Winterszeit eine Lampe, ringsherum standen Stühle.
Leise ging die Unterhaltung und gegenseitige Begrüßung vor sich, einige Kecke
aus jüngern Semestern wagten wohl auch vorwitzige Blicke auf die auf den
Tisch gelegten Bücher zu werfen oder sie bei den eingelegten Zeichen neugierig
aufzuschlagen, nicht ohne den strafenden Viick der ältern, sich schon höher dünkenden'zu
erfahren. Gegen einViertel auf auf sieben öffnete sich Nebenthür, die hohe Gestalt des
Lehrers trat mit freundlichem Gruß ein. Er nahm auf dem Sopha Platz, in bequemer
Haltung, bisweilen mit seiner Lorgnette spielend. Wir andern auf den Stühlen
rings um ihn her. Man hätte ein Mäuschen durch das Zimmer laufen hören können.
Und doch dabei nichts Steifes, nichts Gezwungenes. Jeder von uns wußte, daß
uicht nur der Lehrer dort saß, sondern auch der wahrhaft väterliche Freund
und Berater. Und mehr als einmal hat sich im Laufe der Jahre das Gefühl,
das uns alle beseelte, ausgesprochen, am innigsten und dankbarsten, als es in
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/132>, abgerufen am 27.07.2024.