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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Der Streit zwischen Frankreich und iLhina.

Peking täglich mehr Boden, und die öffentliche Meinung ist dort sehr aufgeregt.
Bis jetzt konnten wir alles, was sich ereignet hat, dem übergroßen Eifer der
französischen Beamten im Osten zuschreiben, die vom Admiral Duperre im Jahre
1874 an allesamt ihre Instruktionen überschritten. Aber jede von der französischen
Regierung selbst ausgehende unüberlegte Maßregel würde verhängnisvolle Folgen
haben. Wie groß die Aufregung in China gegen die Franzosen und gegen die
Europäer überhaupt ist, haben die Unruhen gezeigt, welche in Kanton ausge-
brochen sind und die Nicderbrennung von Häusern und Speichern zur Folge
gehabt haben. Man wußte, daß in China eine starke Kriegspartei bestand, oder
vielmehr, daß die französischen Aggressionen das Nationalgefühl der Chinesen
tief verletzt hatten, hoffte aber, daß die europäischen Kaufleute und Missionäre
dadurch nicht gefährdet werden würden. Das Vorgehen des Pöbels in Kanton
hat dieser Täuschung ein Ende gemacht. Es muß ein panischer Schrecken
über die dortige europäische Bevölkerung, die beiläufig meist aus Engländern
besteht und auf der Flußinsel Schaum wohnt, gekommen sein; denn sie flüch¬
teten sich mit Weib und Kind in Masse auf den nach Hongkong abgehenden
Dampfer. Und in der That zeigt der Vorgang, daß die Europäer in China
ernstliche Ursache haben, die chinesische Bevölkerung zu fürchten. Die Verbrennung
einiger Läden und Magazine, die deshalb erfolgte, weil ein chinesischer Last¬
träger, der einen englischen Dampfer besteigen wollte, zufällig ertrank, wäre an
sich nicht sehr auffallend. Aber die Chinesen haben sich in Kanton mit den
Fremden bisher gut vertragen, und so bekundet die Sache einen bedenklichenMechsel
der Stimmung, und man darf annehmen, daß ferneres schroffes Auftreten der
französischen Diplomatie diese Stimmung rasch verschlimmern und möglicher¬
weise bis zu dem Punkte erhitzen würde, daß eine Ermordung der in den ver-
schiednen chinesischen Städten wohnenden Fremden erfolgte. Dies alles zeigt,
wie notwendig es für die Franzosen ist, sich bald zu entschließen und sich mit
dem Marquis Tseng zu einem billigen Abkommen zu verständigen. Noch vor
kurzem waren sie Herren der Lage, wenn sie sich zu einem solchen Abkommen,
bei dem ihnen Vorteile genug blieben, herbeiließen. Jetzt ist Gefahr vorhanden,
daß die Lage Herr über sie wird, und daß die Nachteile, mit denen sie droht,
etwaige Vorteile mindestens aufwiegen.

Das Kabinet Ferry ist, wie berichtet wird, hauptsächlich durch die Frage
gespalten, ob unverweilt Verstärkungen nach Tonkin abgehen sollen, einige Mi¬
nister bejahen dieselbe, andre wollen vor solchem Vorgehen erst Diskussion der
chinesischen Vorschläge. Im Interesse Frankreichs und kaum minder Englands
ist es, daß die letztere Meinung die Oberhand behalte. Allerdings ist wohl nicht
zu befürchten, daß die chinesische Armee, welche ein phantasievolles französisches
Journal "bei Peking" konzentrirt sein läßt, beim ersten Erscheinen französischer
Verstärkungen in Tonkin sich sofort in Masse auf sie stürzen wird; aber die
Absendung neuer Truppen aus Frankreich muß unstreitig in Peking die sein-


Der Streit zwischen Frankreich und iLhina.

Peking täglich mehr Boden, und die öffentliche Meinung ist dort sehr aufgeregt.
Bis jetzt konnten wir alles, was sich ereignet hat, dem übergroßen Eifer der
französischen Beamten im Osten zuschreiben, die vom Admiral Duperre im Jahre
1874 an allesamt ihre Instruktionen überschritten. Aber jede von der französischen
Regierung selbst ausgehende unüberlegte Maßregel würde verhängnisvolle Folgen
haben. Wie groß die Aufregung in China gegen die Franzosen und gegen die
Europäer überhaupt ist, haben die Unruhen gezeigt, welche in Kanton ausge-
brochen sind und die Nicderbrennung von Häusern und Speichern zur Folge
gehabt haben. Man wußte, daß in China eine starke Kriegspartei bestand, oder
vielmehr, daß die französischen Aggressionen das Nationalgefühl der Chinesen
tief verletzt hatten, hoffte aber, daß die europäischen Kaufleute und Missionäre
dadurch nicht gefährdet werden würden. Das Vorgehen des Pöbels in Kanton
hat dieser Täuschung ein Ende gemacht. Es muß ein panischer Schrecken
über die dortige europäische Bevölkerung, die beiläufig meist aus Engländern
besteht und auf der Flußinsel Schaum wohnt, gekommen sein; denn sie flüch¬
teten sich mit Weib und Kind in Masse auf den nach Hongkong abgehenden
Dampfer. Und in der That zeigt der Vorgang, daß die Europäer in China
ernstliche Ursache haben, die chinesische Bevölkerung zu fürchten. Die Verbrennung
einiger Läden und Magazine, die deshalb erfolgte, weil ein chinesischer Last¬
träger, der einen englischen Dampfer besteigen wollte, zufällig ertrank, wäre an
sich nicht sehr auffallend. Aber die Chinesen haben sich in Kanton mit den
Fremden bisher gut vertragen, und so bekundet die Sache einen bedenklichenMechsel
der Stimmung, und man darf annehmen, daß ferneres schroffes Auftreten der
französischen Diplomatie diese Stimmung rasch verschlimmern und möglicher¬
weise bis zu dem Punkte erhitzen würde, daß eine Ermordung der in den ver-
schiednen chinesischen Städten wohnenden Fremden erfolgte. Dies alles zeigt,
wie notwendig es für die Franzosen ist, sich bald zu entschließen und sich mit
dem Marquis Tseng zu einem billigen Abkommen zu verständigen. Noch vor
kurzem waren sie Herren der Lage, wenn sie sich zu einem solchen Abkommen,
bei dem ihnen Vorteile genug blieben, herbeiließen. Jetzt ist Gefahr vorhanden,
daß die Lage Herr über sie wird, und daß die Nachteile, mit denen sie droht,
etwaige Vorteile mindestens aufwiegen.

Das Kabinet Ferry ist, wie berichtet wird, hauptsächlich durch die Frage
gespalten, ob unverweilt Verstärkungen nach Tonkin abgehen sollen, einige Mi¬
nister bejahen dieselbe, andre wollen vor solchem Vorgehen erst Diskussion der
chinesischen Vorschläge. Im Interesse Frankreichs und kaum minder Englands
ist es, daß die letztere Meinung die Oberhand behalte. Allerdings ist wohl nicht
zu befürchten, daß die chinesische Armee, welche ein phantasievolles französisches
Journal „bei Peking" konzentrirt sein läßt, beim ersten Erscheinen französischer
Verstärkungen in Tonkin sich sofort in Masse auf sie stürzen wird; aber die
Absendung neuer Truppen aus Frankreich muß unstreitig in Peking die sein-


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[0658] Der Streit zwischen Frankreich und iLhina. Peking täglich mehr Boden, und die öffentliche Meinung ist dort sehr aufgeregt. Bis jetzt konnten wir alles, was sich ereignet hat, dem übergroßen Eifer der französischen Beamten im Osten zuschreiben, die vom Admiral Duperre im Jahre 1874 an allesamt ihre Instruktionen überschritten. Aber jede von der französischen Regierung selbst ausgehende unüberlegte Maßregel würde verhängnisvolle Folgen haben. Wie groß die Aufregung in China gegen die Franzosen und gegen die Europäer überhaupt ist, haben die Unruhen gezeigt, welche in Kanton ausge- brochen sind und die Nicderbrennung von Häusern und Speichern zur Folge gehabt haben. Man wußte, daß in China eine starke Kriegspartei bestand, oder vielmehr, daß die französischen Aggressionen das Nationalgefühl der Chinesen tief verletzt hatten, hoffte aber, daß die europäischen Kaufleute und Missionäre dadurch nicht gefährdet werden würden. Das Vorgehen des Pöbels in Kanton hat dieser Täuschung ein Ende gemacht. Es muß ein panischer Schrecken über die dortige europäische Bevölkerung, die beiläufig meist aus Engländern besteht und auf der Flußinsel Schaum wohnt, gekommen sein; denn sie flüch¬ teten sich mit Weib und Kind in Masse auf den nach Hongkong abgehenden Dampfer. Und in der That zeigt der Vorgang, daß die Europäer in China ernstliche Ursache haben, die chinesische Bevölkerung zu fürchten. Die Verbrennung einiger Läden und Magazine, die deshalb erfolgte, weil ein chinesischer Last¬ träger, der einen englischen Dampfer besteigen wollte, zufällig ertrank, wäre an sich nicht sehr auffallend. Aber die Chinesen haben sich in Kanton mit den Fremden bisher gut vertragen, und so bekundet die Sache einen bedenklichenMechsel der Stimmung, und man darf annehmen, daß ferneres schroffes Auftreten der französischen Diplomatie diese Stimmung rasch verschlimmern und möglicher¬ weise bis zu dem Punkte erhitzen würde, daß eine Ermordung der in den ver- schiednen chinesischen Städten wohnenden Fremden erfolgte. Dies alles zeigt, wie notwendig es für die Franzosen ist, sich bald zu entschließen und sich mit dem Marquis Tseng zu einem billigen Abkommen zu verständigen. Noch vor kurzem waren sie Herren der Lage, wenn sie sich zu einem solchen Abkommen, bei dem ihnen Vorteile genug blieben, herbeiließen. Jetzt ist Gefahr vorhanden, daß die Lage Herr über sie wird, und daß die Nachteile, mit denen sie droht, etwaige Vorteile mindestens aufwiegen. Das Kabinet Ferry ist, wie berichtet wird, hauptsächlich durch die Frage gespalten, ob unverweilt Verstärkungen nach Tonkin abgehen sollen, einige Mi¬ nister bejahen dieselbe, andre wollen vor solchem Vorgehen erst Diskussion der chinesischen Vorschläge. Im Interesse Frankreichs und kaum minder Englands ist es, daß die letztere Meinung die Oberhand behalte. Allerdings ist wohl nicht zu befürchten, daß die chinesische Armee, welche ein phantasievolles französisches Journal „bei Peking" konzentrirt sein läßt, beim ersten Erscheinen französischer Verstärkungen in Tonkin sich sofort in Masse auf sie stürzen wird; aber die Absendung neuer Truppen aus Frankreich muß unstreitig in Peking die sein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/658>, abgerufen am 08.09.2024.