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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Anno Fischer und sein Aare.

Der Weg zur Erkenntnis des übersinnlichen war geradezu durch seine Kritik
verschlossen. Wie allen ernsten und ehrlichen Forschern nach Wahrheit war ihm
aber die wichtigste Aufgabe von jeher gewesen, die Religion und Moral, die
Freiheit des menschlichen Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein
Gottes zu beweisen; und nun hatte die exakteste Untersuchung des menschlichen
Erkenntnisvermögens ergeben, daß wir nach den Gesetzen der Vernunft weder
ein Recht haben, diese Ideen zu leugnen, noch sie durch Vernunftgrllnde für
bewiesen zu halten. Trotzdem behielten diese Ideen auch für Kant das höchste
Interesse, denn von ihnen hing offenbar alle Gesetzgebung und Ordnung, alles
Handeln im praktischen Leben ab; nur durch ihren Einfluß konnte man Religion,
Moral und Rechtspflege, die doch dein dringendsten Bedürfnis der Menschheit
entgegenkommen, erklären. Darum konnte er die Aufgabe, auch auf diesem
Gebiete soviel Licht wie möglich zu schaffen, nicht beiseite lassen. Aber weil
er überzeugt war, daß die Prinzipien der theoretischen Vernunft hierzu nicht
ausreichten, so suchte er diese übersinnlichen Ideen auf einem andern Wege zu
begründen, und zwar durch das praktische Bedürfnis im Leben. Die Methode
ist insofern wieder dieselbe wie in der Kritik der reinen Vernunft, als er von
den gegebenen Thatsachen ausgeht und nach den transcendentalen Bedingungen
forscht, welche diese Thatsachen möglich machen. Bei der Untersuchung des
Erkenntnisvermögens ging er von den Thatsachen aus, daß in der Mathematik
wie in der Naturwissenschaft apriorische Erkenntnisse vorliegen, die so sicher sind,
daß sie nicht bloß durch Erfahrung geschaffen sein können; darum suchte und
fand er die Anschauungs- und Denkformen im menschlichen Geiste, welche allein
es möglich machen, daß diese Erkenntnisse unzweifelhaft sicher sind und für die
Welt der realen Dinge (d. i. der Erscheinungen) gellen. Jetzt ging er aus von
der Thatsache des moralischen Gesetzes in unserm Bewußtsein, und fand die
Bedingung der Möglichkeit für dasselbe in der Idee der Freiheit, der Unsterb¬
lichkeit und dem Dasein Gottes.

Dieser Weg mußte natürlich bei Kant selbst große Bedenken erregen; denn
es kam darauf an, zu beweisen, daß übersinnliche Ideen, die in keiner mensch¬
lichen Anschauung gegeben werden konnten, dennoch objektive Realität hätten.
Den Prinzipien der reinen Vernunft durfte und sollte in keiner Weise wider¬
sprochen werden. Aber es war dort auch stets in der vorsichtigsten Weise der
Weg offen gehalten, der hier eingeschlagen werden mußte. Es war nie behauptet,
daß das Übersinnliche nicht existire, sondern immer nur, daß es nach den Gesetzen
der Vernunft auf theoretischen! Wege nicht zu erkennen sei, daß man seine
Realität theoretisch und spekulativ nicht beweisen könne; ob man es vielleicht
auf einem andern Wege beweisen könne, wie durch das Bewußtsein des moralische"
Gesetzes, blieb damals gänzlich unberührt. Das Ding an sich, das übersinnliche
Substrat der Erscheinungen wird niemals weggeleugnet, sondern immer nur
gesagt, es könne niemals erkannt werden, es sei in der Wirklichkeit nirgends


Anno Fischer und sein Aare.

Der Weg zur Erkenntnis des übersinnlichen war geradezu durch seine Kritik
verschlossen. Wie allen ernsten und ehrlichen Forschern nach Wahrheit war ihm
aber die wichtigste Aufgabe von jeher gewesen, die Religion und Moral, die
Freiheit des menschlichen Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein
Gottes zu beweisen; und nun hatte die exakteste Untersuchung des menschlichen
Erkenntnisvermögens ergeben, daß wir nach den Gesetzen der Vernunft weder
ein Recht haben, diese Ideen zu leugnen, noch sie durch Vernunftgrllnde für
bewiesen zu halten. Trotzdem behielten diese Ideen auch für Kant das höchste
Interesse, denn von ihnen hing offenbar alle Gesetzgebung und Ordnung, alles
Handeln im praktischen Leben ab; nur durch ihren Einfluß konnte man Religion,
Moral und Rechtspflege, die doch dein dringendsten Bedürfnis der Menschheit
entgegenkommen, erklären. Darum konnte er die Aufgabe, auch auf diesem
Gebiete soviel Licht wie möglich zu schaffen, nicht beiseite lassen. Aber weil
er überzeugt war, daß die Prinzipien der theoretischen Vernunft hierzu nicht
ausreichten, so suchte er diese übersinnlichen Ideen auf einem andern Wege zu
begründen, und zwar durch das praktische Bedürfnis im Leben. Die Methode
ist insofern wieder dieselbe wie in der Kritik der reinen Vernunft, als er von
den gegebenen Thatsachen ausgeht und nach den transcendentalen Bedingungen
forscht, welche diese Thatsachen möglich machen. Bei der Untersuchung des
Erkenntnisvermögens ging er von den Thatsachen aus, daß in der Mathematik
wie in der Naturwissenschaft apriorische Erkenntnisse vorliegen, die so sicher sind,
daß sie nicht bloß durch Erfahrung geschaffen sein können; darum suchte und
fand er die Anschauungs- und Denkformen im menschlichen Geiste, welche allein
es möglich machen, daß diese Erkenntnisse unzweifelhaft sicher sind und für die
Welt der realen Dinge (d. i. der Erscheinungen) gellen. Jetzt ging er aus von
der Thatsache des moralischen Gesetzes in unserm Bewußtsein, und fand die
Bedingung der Möglichkeit für dasselbe in der Idee der Freiheit, der Unsterb¬
lichkeit und dem Dasein Gottes.

Dieser Weg mußte natürlich bei Kant selbst große Bedenken erregen; denn
es kam darauf an, zu beweisen, daß übersinnliche Ideen, die in keiner mensch¬
lichen Anschauung gegeben werden konnten, dennoch objektive Realität hätten.
Den Prinzipien der reinen Vernunft durfte und sollte in keiner Weise wider¬
sprochen werden. Aber es war dort auch stets in der vorsichtigsten Weise der
Weg offen gehalten, der hier eingeschlagen werden mußte. Es war nie behauptet,
daß das Übersinnliche nicht existire, sondern immer nur, daß es nach den Gesetzen
der Vernunft auf theoretischen! Wege nicht zu erkennen sei, daß man seine
Realität theoretisch und spekulativ nicht beweisen könne; ob man es vielleicht
auf einem andern Wege beweisen könne, wie durch das Bewußtsein des moralische»
Gesetzes, blieb damals gänzlich unberührt. Das Ding an sich, das übersinnliche
Substrat der Erscheinungen wird niemals weggeleugnet, sondern immer nur
gesagt, es könne niemals erkannt werden, es sei in der Wirklichkeit nirgends


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[0560] Anno Fischer und sein Aare. Der Weg zur Erkenntnis des übersinnlichen war geradezu durch seine Kritik verschlossen. Wie allen ernsten und ehrlichen Forschern nach Wahrheit war ihm aber die wichtigste Aufgabe von jeher gewesen, die Religion und Moral, die Freiheit des menschlichen Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes zu beweisen; und nun hatte die exakteste Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens ergeben, daß wir nach den Gesetzen der Vernunft weder ein Recht haben, diese Ideen zu leugnen, noch sie durch Vernunftgrllnde für bewiesen zu halten. Trotzdem behielten diese Ideen auch für Kant das höchste Interesse, denn von ihnen hing offenbar alle Gesetzgebung und Ordnung, alles Handeln im praktischen Leben ab; nur durch ihren Einfluß konnte man Religion, Moral und Rechtspflege, die doch dein dringendsten Bedürfnis der Menschheit entgegenkommen, erklären. Darum konnte er die Aufgabe, auch auf diesem Gebiete soviel Licht wie möglich zu schaffen, nicht beiseite lassen. Aber weil er überzeugt war, daß die Prinzipien der theoretischen Vernunft hierzu nicht ausreichten, so suchte er diese übersinnlichen Ideen auf einem andern Wege zu begründen, und zwar durch das praktische Bedürfnis im Leben. Die Methode ist insofern wieder dieselbe wie in der Kritik der reinen Vernunft, als er von den gegebenen Thatsachen ausgeht und nach den transcendentalen Bedingungen forscht, welche diese Thatsachen möglich machen. Bei der Untersuchung des Erkenntnisvermögens ging er von den Thatsachen aus, daß in der Mathematik wie in der Naturwissenschaft apriorische Erkenntnisse vorliegen, die so sicher sind, daß sie nicht bloß durch Erfahrung geschaffen sein können; darum suchte und fand er die Anschauungs- und Denkformen im menschlichen Geiste, welche allein es möglich machen, daß diese Erkenntnisse unzweifelhaft sicher sind und für die Welt der realen Dinge (d. i. der Erscheinungen) gellen. Jetzt ging er aus von der Thatsache des moralischen Gesetzes in unserm Bewußtsein, und fand die Bedingung der Möglichkeit für dasselbe in der Idee der Freiheit, der Unsterb¬ lichkeit und dem Dasein Gottes. Dieser Weg mußte natürlich bei Kant selbst große Bedenken erregen; denn es kam darauf an, zu beweisen, daß übersinnliche Ideen, die in keiner mensch¬ lichen Anschauung gegeben werden konnten, dennoch objektive Realität hätten. Den Prinzipien der reinen Vernunft durfte und sollte in keiner Weise wider¬ sprochen werden. Aber es war dort auch stets in der vorsichtigsten Weise der Weg offen gehalten, der hier eingeschlagen werden mußte. Es war nie behauptet, daß das Übersinnliche nicht existire, sondern immer nur, daß es nach den Gesetzen der Vernunft auf theoretischen! Wege nicht zu erkennen sei, daß man seine Realität theoretisch und spekulativ nicht beweisen könne; ob man es vielleicht auf einem andern Wege beweisen könne, wie durch das Bewußtsein des moralische» Gesetzes, blieb damals gänzlich unberührt. Das Ding an sich, das übersinnliche Substrat der Erscheinungen wird niemals weggeleugnet, sondern immer nur gesagt, es könne niemals erkannt werden, es sei in der Wirklichkeit nirgends

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/560>, abgerufen am 08.09.2024.