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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Kuno Fischer und sein Kant.

die die Königin der Wissenschaften sein sollte, so gut wie garnichts mehr gilt,
und ihren Einfluß auf Wissenschaft und praktisches Leben geradezu verloren
hat. Noch jüngst wurden wir an diesen Zustand schmerzlich erinnert durch die
Thatsache, daß der italienische Arzt Buffalini in seinem Testament einen Preis
von 5000 Franks bestimmen konnte für die beste Beantwortung der Frage,
welches die Bedeutung der experimentalen Methode für alle Wissenschaften sei,
unter der Voraussetzung, daß alle apriorische und spekulative Erkenntnis (also
auch die gesamte deutsche Philosophie) falsch sei, und die experimentelle Methode
allein in allen Wissenschaften Wahrheit enthalten (sie) könne. Und zwar soll
diese Frage alle zwanzig Jahre neu beantwortet werden.

Freilich ist es wahr, daß Kant selbst den Weg zu all diesen Jrrgängen
mit ihren traurigen Resultaten geebnet hat, da er in der "Kritik der praktischen
Vernunft" sich zwar nicht geradezu in Widerspruch mit den Prinzipien der
"Kritik der reinen Verminst" gesetzt, aber doch diese nicht zur alleinigen Richt¬
schnur für alle fortschreitende Erkenntnis genommen hat.

Kant hatte in seinem Hauptwerke, der "Kritik der reinen Vernunft," un-
widerleglich dargethan, "daß keinem Begriffe seine objektive Realität anders ge¬
sichert werden könne, als soferne er in einer ihm korrespondirenden Anschauung
(die für uns jederzeit sinnlich ist) dargestellt werden kann, mithin über die
Grenze der Sinnlichkeit, folglich auch der möglichen Erfahrung hinaus, es
schlechterdings keine Erkenntnis, d. i. keine Begriffe, von denen man sicher ist,
daß sie nicht leer sind, geben könne. ... Die Behauptung der Kritik steht
immer fest, daß keine Kategorie die mindeste Erkenntnis enthalte oder hervor¬
bringen könne, wenn ihr nicht eine korrespondirende Anschauung, die für uns
Menschen immer sinnlich ist, gegeben werden kann, mithin mit ihrem Gebrauch
in Absicht auf theoretische Erkenntnis der Dinge niemals über die Grenze aller
möglichen Erfahrung hinausreichen könne." Wenn nun jemand dennoch be¬
haupten wollte, daß er von den Dingen an sich etwas wisse, wie z. B. Professor
Eberhard in Halle behauptet hatte, daß die Urgründe des Zusammengesetzten
notwendig im Einfachen gesucht werden müßten, so antwortete Kant: "Man
würde ihm dieses eingeräumt, aber zugleich hinzugesetzt haben: daß dieses zwar
bon unsern Ideen, wenn wir uns Dinge an sich selbst denken wollen, von denen
wir aber nicht die mindeste Kenntnis bekommen können, keineswegs aber von
Gegenständen der Sinne (den Erscheinungen) gelte, welche allein die für uns
erkennbaren Objekte sind, mithin die objektive Realität jenes Begriffes garnicht
bewiesen sei. . . . Mit einem Worte: die Kritik hatte behauptet, daß ohne einem
Begriffe die korrespondirende Anschauung z" geben, seine objektive Realität
niemals erhelle."

Da er nun überzeugt war, das ganze menschliche Erkenntnisvermögen in
seiner Kritik der reinen Vernunft vollständig analysirt zu haben, so fehlte seinem
ganzen System nur noch das Wichtigste, die Begründung der religiösen Erkenntnis.


Kuno Fischer und sein Kant.

die die Königin der Wissenschaften sein sollte, so gut wie garnichts mehr gilt,
und ihren Einfluß auf Wissenschaft und praktisches Leben geradezu verloren
hat. Noch jüngst wurden wir an diesen Zustand schmerzlich erinnert durch die
Thatsache, daß der italienische Arzt Buffalini in seinem Testament einen Preis
von 5000 Franks bestimmen konnte für die beste Beantwortung der Frage,
welches die Bedeutung der experimentalen Methode für alle Wissenschaften sei,
unter der Voraussetzung, daß alle apriorische und spekulative Erkenntnis (also
auch die gesamte deutsche Philosophie) falsch sei, und die experimentelle Methode
allein in allen Wissenschaften Wahrheit enthalten (sie) könne. Und zwar soll
diese Frage alle zwanzig Jahre neu beantwortet werden.

Freilich ist es wahr, daß Kant selbst den Weg zu all diesen Jrrgängen
mit ihren traurigen Resultaten geebnet hat, da er in der „Kritik der praktischen
Vernunft" sich zwar nicht geradezu in Widerspruch mit den Prinzipien der
„Kritik der reinen Verminst" gesetzt, aber doch diese nicht zur alleinigen Richt¬
schnur für alle fortschreitende Erkenntnis genommen hat.

Kant hatte in seinem Hauptwerke, der „Kritik der reinen Vernunft," un-
widerleglich dargethan, „daß keinem Begriffe seine objektive Realität anders ge¬
sichert werden könne, als soferne er in einer ihm korrespondirenden Anschauung
(die für uns jederzeit sinnlich ist) dargestellt werden kann, mithin über die
Grenze der Sinnlichkeit, folglich auch der möglichen Erfahrung hinaus, es
schlechterdings keine Erkenntnis, d. i. keine Begriffe, von denen man sicher ist,
daß sie nicht leer sind, geben könne. ... Die Behauptung der Kritik steht
immer fest, daß keine Kategorie die mindeste Erkenntnis enthalte oder hervor¬
bringen könne, wenn ihr nicht eine korrespondirende Anschauung, die für uns
Menschen immer sinnlich ist, gegeben werden kann, mithin mit ihrem Gebrauch
in Absicht auf theoretische Erkenntnis der Dinge niemals über die Grenze aller
möglichen Erfahrung hinausreichen könne." Wenn nun jemand dennoch be¬
haupten wollte, daß er von den Dingen an sich etwas wisse, wie z. B. Professor
Eberhard in Halle behauptet hatte, daß die Urgründe des Zusammengesetzten
notwendig im Einfachen gesucht werden müßten, so antwortete Kant: „Man
würde ihm dieses eingeräumt, aber zugleich hinzugesetzt haben: daß dieses zwar
bon unsern Ideen, wenn wir uns Dinge an sich selbst denken wollen, von denen
wir aber nicht die mindeste Kenntnis bekommen können, keineswegs aber von
Gegenständen der Sinne (den Erscheinungen) gelte, welche allein die für uns
erkennbaren Objekte sind, mithin die objektive Realität jenes Begriffes garnicht
bewiesen sei. . . . Mit einem Worte: die Kritik hatte behauptet, daß ohne einem
Begriffe die korrespondirende Anschauung z» geben, seine objektive Realität
niemals erhelle."

Da er nun überzeugt war, das ganze menschliche Erkenntnisvermögen in
seiner Kritik der reinen Vernunft vollständig analysirt zu haben, so fehlte seinem
ganzen System nur noch das Wichtigste, die Begründung der religiösen Erkenntnis.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/559>, abgerufen am 08.09.2024.