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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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<L. F. Pohls i^aydn-Biographie.

gangenheit dem Suchenden etwas lebendiges sind, wenn er ihre stille Sprache
versteht und sich gern von ihr gefangen nehmen läßt. Die Sinnigkeit der Ge¬
müter, die sich in solchem Thun offenbart, hat etwas sehr anheimelndes und
liebenswürdiges. In dem hellen, freundlichen Blick, mit welchem das geistige
Auge des Verfassers den Leser des Buches überall anschaut, liegt etwas, was
an Haydns eignes Wesen erinnert. Es besteht eine Art innerer Verwandtschaft
zwischen beiden, mau wird von dem beruhigenden Gefühle begleitet, daß der
Schriftsteller seinem Komponisten persönlich nahe steht, lind daß er ihm nicht
leicht Unrecht thun wird. Die Fülle des Stoffes, welche hier aus tausend ein¬
zelnen Funden zusammengespeichert ist, ist erstaunlich; erst ein ausführliches, für
den Schlnßband erhofftes Namen- und Sachregister wird den ganzen Reichtum
übersehen lassen. Aber schon jetzt kann mau behaupten, daß das Buch für ge¬
wisse Materien der Musikgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, ganz beson¬
ders für die Musikpflege in Wien und im südöstlichen Deutschland überhaupt,
als ein unentbehrliches, zuverlässiges Nachschlagewerk sich bewähren wird. Daß
es auch für Haydns Leben selbst fortan die alleinige Grundlage aller über ihn
später noch anzustellender Forschungen bilden wird, braucht hiernach kaum noch
gesagt zu werden.

Wollte man das Werk als eine Biographie im strengern Sinne auffassen,
so würden gewisse Bedenken nicht wohl zu unterdrücken sein. Bildund gesprochen,
wäre das Verhältnis zwischen Vorder- und Hintergrund schwerlich das richtige.
Wenn man die Szene so tief öffnet, sie so reich und mannichfaltig ausstattet,
wie es der Verfasser thut mit seinen lokalgeschichtlichen und geographischen Schil¬
derungen bis hinein in die detaillirte Beschreibung der Wohnräume, die zu ver-
schiednen Zeiten seinem Helden als Aufenthaltsort dienten, dann muß man auch
vorn auf der Bühne ein lebendiges, buntes und abwechslungsreiches Bild zu
entfalten haben. Nur so kann ein harmonischer Gesamteindruck entstehen.
Andernfalls wird die Hauptsache durch die Nebendinge überwältigt. Mozarts
kurzes Leben war unvergleichlich bewegter als das mehr als doppelt so lange
Haydns. Gleichwohl ist Jahr in der Ausfüllung des Hintergrundes bei weitem
nicht so weit gegangen wie Pohl. Sein künstlerischer Takt sagte ihm, daß er
dadurch die Eindringlichkeit seines Bildes abschwächen würde. Die Sache unter¬
liegt aber einer andern Beurteilung, sobald man die strengern Forderungen einer
Biographie garnicht erhebt. Alsdann mag der Schriftsteller sich freier gehen
lassen; der Leser wird umso eher geneigt sein, ihm diese Freiheit zu gestatten,
wenn das Nebenwerk neue, interessante, durch selbständige Forschung ans Licht
gebrachte Thatsachen enthält. Wie weit er ausholen und abschweifen darf,
darüber wird sich ein allgemein verbindliches Gesetz nicht aufstellen lassen. Eine
Grenze giebt es natürlich auch hier. Soll ich es offen gestehen, so glaube ich,
daß der Verfasser selbst über diese hie und da hinaus geraten ist. Er scheint
mir in den Personalien der Nebenfiguren manchmal soweit zu gehen, daß auch


<L. F. Pohls i^aydn-Biographie.

gangenheit dem Suchenden etwas lebendiges sind, wenn er ihre stille Sprache
versteht und sich gern von ihr gefangen nehmen läßt. Die Sinnigkeit der Ge¬
müter, die sich in solchem Thun offenbart, hat etwas sehr anheimelndes und
liebenswürdiges. In dem hellen, freundlichen Blick, mit welchem das geistige
Auge des Verfassers den Leser des Buches überall anschaut, liegt etwas, was
an Haydns eignes Wesen erinnert. Es besteht eine Art innerer Verwandtschaft
zwischen beiden, mau wird von dem beruhigenden Gefühle begleitet, daß der
Schriftsteller seinem Komponisten persönlich nahe steht, lind daß er ihm nicht
leicht Unrecht thun wird. Die Fülle des Stoffes, welche hier aus tausend ein¬
zelnen Funden zusammengespeichert ist, ist erstaunlich; erst ein ausführliches, für
den Schlnßband erhofftes Namen- und Sachregister wird den ganzen Reichtum
übersehen lassen. Aber schon jetzt kann mau behaupten, daß das Buch für ge¬
wisse Materien der Musikgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, ganz beson¬
ders für die Musikpflege in Wien und im südöstlichen Deutschland überhaupt,
als ein unentbehrliches, zuverlässiges Nachschlagewerk sich bewähren wird. Daß
es auch für Haydns Leben selbst fortan die alleinige Grundlage aller über ihn
später noch anzustellender Forschungen bilden wird, braucht hiernach kaum noch
gesagt zu werden.

Wollte man das Werk als eine Biographie im strengern Sinne auffassen,
so würden gewisse Bedenken nicht wohl zu unterdrücken sein. Bildund gesprochen,
wäre das Verhältnis zwischen Vorder- und Hintergrund schwerlich das richtige.
Wenn man die Szene so tief öffnet, sie so reich und mannichfaltig ausstattet,
wie es der Verfasser thut mit seinen lokalgeschichtlichen und geographischen Schil¬
derungen bis hinein in die detaillirte Beschreibung der Wohnräume, die zu ver-
schiednen Zeiten seinem Helden als Aufenthaltsort dienten, dann muß man auch
vorn auf der Bühne ein lebendiges, buntes und abwechslungsreiches Bild zu
entfalten haben. Nur so kann ein harmonischer Gesamteindruck entstehen.
Andernfalls wird die Hauptsache durch die Nebendinge überwältigt. Mozarts
kurzes Leben war unvergleichlich bewegter als das mehr als doppelt so lange
Haydns. Gleichwohl ist Jahr in der Ausfüllung des Hintergrundes bei weitem
nicht so weit gegangen wie Pohl. Sein künstlerischer Takt sagte ihm, daß er
dadurch die Eindringlichkeit seines Bildes abschwächen würde. Die Sache unter¬
liegt aber einer andern Beurteilung, sobald man die strengern Forderungen einer
Biographie garnicht erhebt. Alsdann mag der Schriftsteller sich freier gehen
lassen; der Leser wird umso eher geneigt sein, ihm diese Freiheit zu gestatten,
wenn das Nebenwerk neue, interessante, durch selbständige Forschung ans Licht
gebrachte Thatsachen enthält. Wie weit er ausholen und abschweifen darf,
darüber wird sich ein allgemein verbindliches Gesetz nicht aufstellen lassen. Eine
Grenze giebt es natürlich auch hier. Soll ich es offen gestehen, so glaube ich,
daß der Verfasser selbst über diese hie und da hinaus geraten ist. Er scheint
mir in den Personalien der Nebenfiguren manchmal soweit zu gehen, daß auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/458>, abgerufen am 08.09.2024.