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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Militärlast und Überproduktion.

Von welchem wir gegenwärtig bis zu einem gewissen Grade genesen sind, daß
auf alle" Gebieten Überfluß an Arbeitskräften herrscht. Könnten aber plötzlich
100 000 Mann entlassen werden, so müßte hierdurch geradezu eine neue Krisis
hervorgerufen werden, vielleicht eine schlimmere als die war, welche wir anscheinend
vorläufig überwunden haben.

Diese Anschauung ist so neu. daß sie mit Recht dem größten Mißtrauen
begegnen wird, umsomehr, als man gegenwärtig nicht ohne Grund geneigt ist,
volkswirtschaftliche Raisonnements, welche Jahre lang unbeanstandet Geltung
gehabt haben, als durch die Erfahrung widerlegt anzusehen. Aber gerade die
Erfahrung liefert uns eine Stütze.

Seit der Erfindung der Maschinen ist das einzige Beispiel, welches für
unsre Frage in Betracht kommen kann, die Zeit nach den großen Kriegen des
ersten Napoleon. Durch diese waren den produktiven Berufsarten Jahre lang
außerordentlich viele Kräfte entzogen worden. Als die Kriegsperiode mit dem
Jahre 1815 ihr Ende erreichte, erwartete man eine Zeit allgemeiner Wohlfahrt.
Aber das Gegenteil trat ein. Die soeben ans dem Festlande unter dem Schutze
der Kontinentalsperre erblühte Industrie ging zurück, ja erstarb unter dem Drucke
der englischen Konkurrenz. Und England? Würe es nicht eine Thatsache, so
würde man Anstand nehmen es zu glauben, daß die Jahre nach 1815, wo doch
die englische Manufaktur keinerlei nennenswerte Konkurrenz hatte, dem eng¬
lischen Wohlstande, welcher sich trotz der Opfer des Krieges stetig gehoben hatte,
die empfindlichsten Wunden schlugen, daß "das Land völlig unfähig war, aus¬
reichende Beschäftigung zu finden für die zahlreichen Arbeiter und Handwerker,
welche arbeiten konnten und wollten," daß "das Land nicht imstande war, die¬
jenigen zu unterhalten, welche aus Arbeitsmangel oder andern Gründen unfähig
waren, sich oder ihre Familien zu ernähren.""') Auf den Eintritt dieser eigen¬
tümlichen und durchaus unerwarteten Erscheinung hat unzweifelhaft noch eine
Anzahl andrer Verhältnisse mit eingewirkt. Aber daß das Freiwerden einer
großen Menge von wirtschaftlichen Kräften, welche Jahre lang durch den Krieg
gebunden waren, einen ganz wesentlichen Faktor für die Entstehung des Über¬
flusses an Arbeitern und damit für die allgemeine Not gebildet hat, wird wohl
niemand bestreiten. Nur langsam und allmählich gelang es, nachdem ein großer
Teil der zunächst überzähligen Arbeitskräfte nach Amerika ausgewandert war,
die zurückgebliebenen ausreichend zu beschäftigen und so den Wohlstand zu
heben, doch nicht ohne daß von Zeit zu Zeit, in England sowohl als auf dem
Kontinente, jene Krisen eintraten, welche von einer Überproduktion in den be¬
treffenden Geschäftszweigen Zeugnis ablegten. Selbst das nahezu vollständige
Aufhören der Baumwollenprvduktiou während des amerikanischen Bürgerkrieges



*) Malthus, ?rillvix1os ot xoxulkchion, III. 7. S. 310 (7. Auflage). Ich zitire absichtlich
einen Schriftsteller, dessen Standpunkt von dem meinigen wesentlich abweicht.
Militärlast und Überproduktion.

Von welchem wir gegenwärtig bis zu einem gewissen Grade genesen sind, daß
auf alle» Gebieten Überfluß an Arbeitskräften herrscht. Könnten aber plötzlich
100 000 Mann entlassen werden, so müßte hierdurch geradezu eine neue Krisis
hervorgerufen werden, vielleicht eine schlimmere als die war, welche wir anscheinend
vorläufig überwunden haben.

Diese Anschauung ist so neu. daß sie mit Recht dem größten Mißtrauen
begegnen wird, umsomehr, als man gegenwärtig nicht ohne Grund geneigt ist,
volkswirtschaftliche Raisonnements, welche Jahre lang unbeanstandet Geltung
gehabt haben, als durch die Erfahrung widerlegt anzusehen. Aber gerade die
Erfahrung liefert uns eine Stütze.

Seit der Erfindung der Maschinen ist das einzige Beispiel, welches für
unsre Frage in Betracht kommen kann, die Zeit nach den großen Kriegen des
ersten Napoleon. Durch diese waren den produktiven Berufsarten Jahre lang
außerordentlich viele Kräfte entzogen worden. Als die Kriegsperiode mit dem
Jahre 1815 ihr Ende erreichte, erwartete man eine Zeit allgemeiner Wohlfahrt.
Aber das Gegenteil trat ein. Die soeben ans dem Festlande unter dem Schutze
der Kontinentalsperre erblühte Industrie ging zurück, ja erstarb unter dem Drucke
der englischen Konkurrenz. Und England? Würe es nicht eine Thatsache, so
würde man Anstand nehmen es zu glauben, daß die Jahre nach 1815, wo doch
die englische Manufaktur keinerlei nennenswerte Konkurrenz hatte, dem eng¬
lischen Wohlstande, welcher sich trotz der Opfer des Krieges stetig gehoben hatte,
die empfindlichsten Wunden schlugen, daß „das Land völlig unfähig war, aus¬
reichende Beschäftigung zu finden für die zahlreichen Arbeiter und Handwerker,
welche arbeiten konnten und wollten," daß „das Land nicht imstande war, die¬
jenigen zu unterhalten, welche aus Arbeitsmangel oder andern Gründen unfähig
waren, sich oder ihre Familien zu ernähren.""') Auf den Eintritt dieser eigen¬
tümlichen und durchaus unerwarteten Erscheinung hat unzweifelhaft noch eine
Anzahl andrer Verhältnisse mit eingewirkt. Aber daß das Freiwerden einer
großen Menge von wirtschaftlichen Kräften, welche Jahre lang durch den Krieg
gebunden waren, einen ganz wesentlichen Faktor für die Entstehung des Über¬
flusses an Arbeitern und damit für die allgemeine Not gebildet hat, wird wohl
niemand bestreiten. Nur langsam und allmählich gelang es, nachdem ein großer
Teil der zunächst überzähligen Arbeitskräfte nach Amerika ausgewandert war,
die zurückgebliebenen ausreichend zu beschäftigen und so den Wohlstand zu
heben, doch nicht ohne daß von Zeit zu Zeit, in England sowohl als auf dem
Kontinente, jene Krisen eintraten, welche von einer Überproduktion in den be¬
treffenden Geschäftszweigen Zeugnis ablegten. Selbst das nahezu vollständige
Aufhören der Baumwollenprvduktiou während des amerikanischen Bürgerkrieges



*) Malthus, ?rillvix1os ot xoxulkchion, III. 7. S. 310 (7. Auflage). Ich zitire absichtlich
einen Schriftsteller, dessen Standpunkt von dem meinigen wesentlich abweicht.
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[0387] Militärlast und Überproduktion. Von welchem wir gegenwärtig bis zu einem gewissen Grade genesen sind, daß auf alle» Gebieten Überfluß an Arbeitskräften herrscht. Könnten aber plötzlich 100 000 Mann entlassen werden, so müßte hierdurch geradezu eine neue Krisis hervorgerufen werden, vielleicht eine schlimmere als die war, welche wir anscheinend vorläufig überwunden haben. Diese Anschauung ist so neu. daß sie mit Recht dem größten Mißtrauen begegnen wird, umsomehr, als man gegenwärtig nicht ohne Grund geneigt ist, volkswirtschaftliche Raisonnements, welche Jahre lang unbeanstandet Geltung gehabt haben, als durch die Erfahrung widerlegt anzusehen. Aber gerade die Erfahrung liefert uns eine Stütze. Seit der Erfindung der Maschinen ist das einzige Beispiel, welches für unsre Frage in Betracht kommen kann, die Zeit nach den großen Kriegen des ersten Napoleon. Durch diese waren den produktiven Berufsarten Jahre lang außerordentlich viele Kräfte entzogen worden. Als die Kriegsperiode mit dem Jahre 1815 ihr Ende erreichte, erwartete man eine Zeit allgemeiner Wohlfahrt. Aber das Gegenteil trat ein. Die soeben ans dem Festlande unter dem Schutze der Kontinentalsperre erblühte Industrie ging zurück, ja erstarb unter dem Drucke der englischen Konkurrenz. Und England? Würe es nicht eine Thatsache, so würde man Anstand nehmen es zu glauben, daß die Jahre nach 1815, wo doch die englische Manufaktur keinerlei nennenswerte Konkurrenz hatte, dem eng¬ lischen Wohlstande, welcher sich trotz der Opfer des Krieges stetig gehoben hatte, die empfindlichsten Wunden schlugen, daß „das Land völlig unfähig war, aus¬ reichende Beschäftigung zu finden für die zahlreichen Arbeiter und Handwerker, welche arbeiten konnten und wollten," daß „das Land nicht imstande war, die¬ jenigen zu unterhalten, welche aus Arbeitsmangel oder andern Gründen unfähig waren, sich oder ihre Familien zu ernähren.""') Auf den Eintritt dieser eigen¬ tümlichen und durchaus unerwarteten Erscheinung hat unzweifelhaft noch eine Anzahl andrer Verhältnisse mit eingewirkt. Aber daß das Freiwerden einer großen Menge von wirtschaftlichen Kräften, welche Jahre lang durch den Krieg gebunden waren, einen ganz wesentlichen Faktor für die Entstehung des Über¬ flusses an Arbeitern und damit für die allgemeine Not gebildet hat, wird wohl niemand bestreiten. Nur langsam und allmählich gelang es, nachdem ein großer Teil der zunächst überzähligen Arbeitskräfte nach Amerika ausgewandert war, die zurückgebliebenen ausreichend zu beschäftigen und so den Wohlstand zu heben, doch nicht ohne daß von Zeit zu Zeit, in England sowohl als auf dem Kontinente, jene Krisen eintraten, welche von einer Überproduktion in den be¬ treffenden Geschäftszweigen Zeugnis ablegten. Selbst das nahezu vollständige Aufhören der Baumwollenprvduktiou während des amerikanischen Bürgerkrieges *) Malthus, ?rillvix1os ot xoxulkchion, III. 7. S. 310 (7. Auflage). Ich zitire absichtlich einen Schriftsteller, dessen Standpunkt von dem meinigen wesentlich abweicht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/387>, abgerufen am 08.09.2024.