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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Das Schwurgericht.

liebe und umfassende Rechtskenntnis befähigt zur freien, sinngemäßer Interpre¬
tation; der Halbkundige klebt an den Worten, und der Laie, der auf einmal
den Kundigen spielen soll, stolpert über jeden Buchstaben. Einen solchen zum
Richter machen, indem man ihm die nötige Nechtskenutnis "von Fall zu Fall"
durch kurze Vorträge beizubringen sucht, das ist um nichts anders, als wenn
ein Arzt dem ersten besten Laien die Handgriffe einer Amputation und die ana¬
tomische Lage der betreffenden Körperteile mit wenigen Worten auseinandersetzte
und ihm dann sagte: "So, jetzt sind Sie im Besitze der für diesen Fall in
Frage kommenden medizinischen Kenntnisse; hier ist das Messer, bitte, schneiden
Sie zu." Armer Patient! würde man sagen. Arme Gerechtigkeit! sagen wir
Juristen.

Man könnte geneigt sein, diesen Vergleich hinkend zu finden, weil es in
der Medizin nicht nur auf Kenntnisse, sondern anch auf Übung und praktische
Geschicklichkeit ankomme; allein die Sache liegt in der Jurisprudenz ganz ebenso.
Und damit komme ich auf das zweite Grundgebrechen alles nicht berufsmäßigen
Richtertums: die fehlende Übung im Urteilen.

Dieser Mangel tritt nach zwei Seiten hervor, als intellektuelle und, um
es vorläufig kurz zu bezeichnen, als moralische Unfähigkeit.

Einer mehrstündigen, vielleicht gar mehrtägigen Gerichtsverhandlung zu
folgen, die Behauptungen des Angeklagten, die widersprechenden Zeugenaussagen,
die Gutachten der Sachverständigen, den Inhalt verlesener Urkunden sich über¬
sichtlich gegenwärtig zu halten, in den oft stundenlangen Streitvorträgen der
Staatsanwaltschaft und der Verteidigung das Begründete vom Unbegründeten
zu sondern, um schließlich aus alledem eine auf klarbewußte, sachliche Gründe
gestützte Überzeugung von Schuld oder Unschuld zu gewinnen, das ist eine
geistige Leistung, die man selbst von dem gut begabten Kopfe nicht ohne vor¬
gängige Übung in solcher Thätigkeit erwarten kann. Es ist freilich, wenn auch
wünschenswert, doch nicht nötig, daß dies gerade die Übung des Gerichtsaales
sei. Auch durch andre geistige Thätigkeiten kann die erforderliche Kraft zu so
anstrengender Verstandesarbeit gewonnen werden. Aber wie viele sind denn
unter unsern Geschwornen, bei denen von einem Gewöhntsein an geistige An¬
strengung irgend welcher Art geredet werden kann? Und wie viele andrerseits,
die ihren von Hause aus unter dem Durchschnitte bemessenen Verstand noch
nie zu etwas anderen benutzt haben, als zur notdürftigen Erwägung ihrer all¬
täglichen Lebensverrichtungen? Wie kann bei solchen Leuten von der "aus dem
Inbegriffe der Verhandlungen geschöpfte" Überzeugung," die das Gesetz als Grund-
lage des Urteils verlangt, überhaupt die Rede sein? Günstiger falls folgen
sie der Autorität eines Befähigten unter ihnen, oder sie glauben dem Staats¬
anwalt oder dem Verteidiger auf einen unbestimmten persönlichen Eindruck hin.

Und fast nicht minder bedenklich steht es mit der moralischen Qualifikation.
Ich meine damit selbstverständlich nicht, daß ein irgend nennenswerter Teil


Das Schwurgericht.

liebe und umfassende Rechtskenntnis befähigt zur freien, sinngemäßer Interpre¬
tation; der Halbkundige klebt an den Worten, und der Laie, der auf einmal
den Kundigen spielen soll, stolpert über jeden Buchstaben. Einen solchen zum
Richter machen, indem man ihm die nötige Nechtskenutnis „von Fall zu Fall"
durch kurze Vorträge beizubringen sucht, das ist um nichts anders, als wenn
ein Arzt dem ersten besten Laien die Handgriffe einer Amputation und die ana¬
tomische Lage der betreffenden Körperteile mit wenigen Worten auseinandersetzte
und ihm dann sagte: „So, jetzt sind Sie im Besitze der für diesen Fall in
Frage kommenden medizinischen Kenntnisse; hier ist das Messer, bitte, schneiden
Sie zu." Armer Patient! würde man sagen. Arme Gerechtigkeit! sagen wir
Juristen.

Man könnte geneigt sein, diesen Vergleich hinkend zu finden, weil es in
der Medizin nicht nur auf Kenntnisse, sondern anch auf Übung und praktische
Geschicklichkeit ankomme; allein die Sache liegt in der Jurisprudenz ganz ebenso.
Und damit komme ich auf das zweite Grundgebrechen alles nicht berufsmäßigen
Richtertums: die fehlende Übung im Urteilen.

Dieser Mangel tritt nach zwei Seiten hervor, als intellektuelle und, um
es vorläufig kurz zu bezeichnen, als moralische Unfähigkeit.

Einer mehrstündigen, vielleicht gar mehrtägigen Gerichtsverhandlung zu
folgen, die Behauptungen des Angeklagten, die widersprechenden Zeugenaussagen,
die Gutachten der Sachverständigen, den Inhalt verlesener Urkunden sich über¬
sichtlich gegenwärtig zu halten, in den oft stundenlangen Streitvorträgen der
Staatsanwaltschaft und der Verteidigung das Begründete vom Unbegründeten
zu sondern, um schließlich aus alledem eine auf klarbewußte, sachliche Gründe
gestützte Überzeugung von Schuld oder Unschuld zu gewinnen, das ist eine
geistige Leistung, die man selbst von dem gut begabten Kopfe nicht ohne vor¬
gängige Übung in solcher Thätigkeit erwarten kann. Es ist freilich, wenn auch
wünschenswert, doch nicht nötig, daß dies gerade die Übung des Gerichtsaales
sei. Auch durch andre geistige Thätigkeiten kann die erforderliche Kraft zu so
anstrengender Verstandesarbeit gewonnen werden. Aber wie viele sind denn
unter unsern Geschwornen, bei denen von einem Gewöhntsein an geistige An¬
strengung irgend welcher Art geredet werden kann? Und wie viele andrerseits,
die ihren von Hause aus unter dem Durchschnitte bemessenen Verstand noch
nie zu etwas anderen benutzt haben, als zur notdürftigen Erwägung ihrer all¬
täglichen Lebensverrichtungen? Wie kann bei solchen Leuten von der „aus dem
Inbegriffe der Verhandlungen geschöpfte» Überzeugung," die das Gesetz als Grund-
lage des Urteils verlangt, überhaupt die Rede sein? Günstiger falls folgen
sie der Autorität eines Befähigten unter ihnen, oder sie glauben dem Staats¬
anwalt oder dem Verteidiger auf einen unbestimmten persönlichen Eindruck hin.

Und fast nicht minder bedenklich steht es mit der moralischen Qualifikation.
Ich meine damit selbstverständlich nicht, daß ein irgend nennenswerter Teil


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[0026] Das Schwurgericht. liebe und umfassende Rechtskenntnis befähigt zur freien, sinngemäßer Interpre¬ tation; der Halbkundige klebt an den Worten, und der Laie, der auf einmal den Kundigen spielen soll, stolpert über jeden Buchstaben. Einen solchen zum Richter machen, indem man ihm die nötige Nechtskenutnis „von Fall zu Fall" durch kurze Vorträge beizubringen sucht, das ist um nichts anders, als wenn ein Arzt dem ersten besten Laien die Handgriffe einer Amputation und die ana¬ tomische Lage der betreffenden Körperteile mit wenigen Worten auseinandersetzte und ihm dann sagte: „So, jetzt sind Sie im Besitze der für diesen Fall in Frage kommenden medizinischen Kenntnisse; hier ist das Messer, bitte, schneiden Sie zu." Armer Patient! würde man sagen. Arme Gerechtigkeit! sagen wir Juristen. Man könnte geneigt sein, diesen Vergleich hinkend zu finden, weil es in der Medizin nicht nur auf Kenntnisse, sondern anch auf Übung und praktische Geschicklichkeit ankomme; allein die Sache liegt in der Jurisprudenz ganz ebenso. Und damit komme ich auf das zweite Grundgebrechen alles nicht berufsmäßigen Richtertums: die fehlende Übung im Urteilen. Dieser Mangel tritt nach zwei Seiten hervor, als intellektuelle und, um es vorläufig kurz zu bezeichnen, als moralische Unfähigkeit. Einer mehrstündigen, vielleicht gar mehrtägigen Gerichtsverhandlung zu folgen, die Behauptungen des Angeklagten, die widersprechenden Zeugenaussagen, die Gutachten der Sachverständigen, den Inhalt verlesener Urkunden sich über¬ sichtlich gegenwärtig zu halten, in den oft stundenlangen Streitvorträgen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung das Begründete vom Unbegründeten zu sondern, um schließlich aus alledem eine auf klarbewußte, sachliche Gründe gestützte Überzeugung von Schuld oder Unschuld zu gewinnen, das ist eine geistige Leistung, die man selbst von dem gut begabten Kopfe nicht ohne vor¬ gängige Übung in solcher Thätigkeit erwarten kann. Es ist freilich, wenn auch wünschenswert, doch nicht nötig, daß dies gerade die Übung des Gerichtsaales sei. Auch durch andre geistige Thätigkeiten kann die erforderliche Kraft zu so anstrengender Verstandesarbeit gewonnen werden. Aber wie viele sind denn unter unsern Geschwornen, bei denen von einem Gewöhntsein an geistige An¬ strengung irgend welcher Art geredet werden kann? Und wie viele andrerseits, die ihren von Hause aus unter dem Durchschnitte bemessenen Verstand noch nie zu etwas anderen benutzt haben, als zur notdürftigen Erwägung ihrer all¬ täglichen Lebensverrichtungen? Wie kann bei solchen Leuten von der „aus dem Inbegriffe der Verhandlungen geschöpfte» Überzeugung," die das Gesetz als Grund- lage des Urteils verlangt, überhaupt die Rede sein? Günstiger falls folgen sie der Autorität eines Befähigten unter ihnen, oder sie glauben dem Staats¬ anwalt oder dem Verteidiger auf einen unbestimmten persönlichen Eindruck hin. Und fast nicht minder bedenklich steht es mit der moralischen Qualifikation. Ich meine damit selbstverständlich nicht, daß ein irgend nennenswerter Teil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/26>, abgerufen am 08.09.2024.