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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Vas Schwurgericht.

sich nach bestandenen Maturitätsexamen dem Justizdienste widmen will, ver¬
langt das Reichsrecht eine mindestens sechsjährige theoretische und praktische
Beschäftigung mit der Jurisprudenz und das Bestehen zweier Examina, bevor
es ihm auch nur in der unbedeutendsten Rechtssache eine entscheidende Stimme
anvertraut; ein Geschworner, dessen Vorbildung oft nicht weit über die Wissen¬
schaften der Elementarschule hinausreicht, erlangt die Befähigung zur Ent¬
scheidung über Leben und Tod durch das Anhören eines Vortrages von fünf
bis zehn Minuten. Wer von dem Wesen irgend einer Wissenschaft und speziell
von dem der Rechtswissenschaft auch nur eine Ahnung hat. wird gegen diese
srappirendc Nebeneinanderstellung nicht einwenden, daß der Geschworne ja nur
das für den einzelnen Fall in Frage kommende zu wissen brauche. Für jeden
einzelnen Fall kommen zunächst die allgemeinen rechtlichen Grundbegriffe, wie
die der Zurechnungsfähigkeit, des Vorsatzes :e. in Frage, deren wirkliche, zur
sichern Anwendung befähigende Kenntnis man nicht in zehn Minuten, auch
nicht in zehn Tagen erwirbt. Und selbst was das Spezielle betrifft, so soll
der Vorsitzende noch gefunden werden, der imstande wäre, Begriffe wie bei¬
spielsweise die des rechtswidrigen Vermögensvortcils, der Urkunde, der Gewerbs-
mäßigkcit und ähnliche durch seine "Rechtsbelehrung" einem völlig unkundigen
Geschwornen wirklich klar zu machen. Von den so ost auch in Kriminalsachen
in Betracht kommenden verwickelten zivilrechtlichen Verhältnissen, den Fragen
der Interpretation eines Vertrages und dergleichen wollen wir garnicht reden.
Es hängt eben in der Jurisprudenz wie in der Wissenschaft immer eins mit
dem andern zusammen, und es ist eine sehr laienhafte Vorstellung, wenn man
wähnt, ein paar herausgegriffene Ncchtssütze ohne weiteres einem Menschen,
dem es an den elementarsten Vorbegriffen der Rechtswissenschaft gebricht, zum
vollen Verständnisse bringen zu können. Die in allein Maße sachkundigen Ver¬
sasser des Gesetzes haben diesen Wahn ohne Zweifel nicht geteilt. Aber sie hatten
nicht freie Hand. Geschworne sollten und mußten nun einmal sein. So haben
sie es denn mit der Erzielung eines halben Rcchtsverständnisses versucht. Halbes
Wissen schadet aber hier, wie überall, mehr, als es nützt. Überließe man die
Geschwornen ihrem dunkeln Rechtsgefühle, faßte mau demgemäß auch die Fragen
mir ganz allgemein und populär, nicht mit den juristischen Ausdrücken des
Gesetzes, so würden sich vermutlich die Fälle eklatant ungerechter Freisprechungen
um etwas vermindern. Wer Gelegenheit gehabt hat, von Geschwornen die Gründe
solcher Entscheidungen zu hören, wird wissen, daß nicht selten eine ganz verkehrte
Diftelei an einzelnen Worten der Gesetzesformel, unterstützt durch mißverstandene
Redewendungen des Vorsitzenden, die Ursache von Fehlsprechungcn ist, die gegen
das eigne Gefühl der Geschworenen gehen, die sie aber für juristisch geboten halten.
Nichts ist nämlich irriger als die weitverbreitete Meinung, daß der Laie das
Gesetz freier nach dem Sinne, der Jurist ängstlicher nach dem Wortlaute inter-
Pretire. Aus naheliegenden Gründen verhält es sich gerade umgekehrt: gründ-


Grcuzlioten III, IL38, 3
Vas Schwurgericht.

sich nach bestandenen Maturitätsexamen dem Justizdienste widmen will, ver¬
langt das Reichsrecht eine mindestens sechsjährige theoretische und praktische
Beschäftigung mit der Jurisprudenz und das Bestehen zweier Examina, bevor
es ihm auch nur in der unbedeutendsten Rechtssache eine entscheidende Stimme
anvertraut; ein Geschworner, dessen Vorbildung oft nicht weit über die Wissen¬
schaften der Elementarschule hinausreicht, erlangt die Befähigung zur Ent¬
scheidung über Leben und Tod durch das Anhören eines Vortrages von fünf
bis zehn Minuten. Wer von dem Wesen irgend einer Wissenschaft und speziell
von dem der Rechtswissenschaft auch nur eine Ahnung hat. wird gegen diese
srappirendc Nebeneinanderstellung nicht einwenden, daß der Geschworne ja nur
das für den einzelnen Fall in Frage kommende zu wissen brauche. Für jeden
einzelnen Fall kommen zunächst die allgemeinen rechtlichen Grundbegriffe, wie
die der Zurechnungsfähigkeit, des Vorsatzes :e. in Frage, deren wirkliche, zur
sichern Anwendung befähigende Kenntnis man nicht in zehn Minuten, auch
nicht in zehn Tagen erwirbt. Und selbst was das Spezielle betrifft, so soll
der Vorsitzende noch gefunden werden, der imstande wäre, Begriffe wie bei¬
spielsweise die des rechtswidrigen Vermögensvortcils, der Urkunde, der Gewerbs-
mäßigkcit und ähnliche durch seine „Rechtsbelehrung" einem völlig unkundigen
Geschwornen wirklich klar zu machen. Von den so ost auch in Kriminalsachen
in Betracht kommenden verwickelten zivilrechtlichen Verhältnissen, den Fragen
der Interpretation eines Vertrages und dergleichen wollen wir garnicht reden.
Es hängt eben in der Jurisprudenz wie in der Wissenschaft immer eins mit
dem andern zusammen, und es ist eine sehr laienhafte Vorstellung, wenn man
wähnt, ein paar herausgegriffene Ncchtssütze ohne weiteres einem Menschen,
dem es an den elementarsten Vorbegriffen der Rechtswissenschaft gebricht, zum
vollen Verständnisse bringen zu können. Die in allein Maße sachkundigen Ver¬
sasser des Gesetzes haben diesen Wahn ohne Zweifel nicht geteilt. Aber sie hatten
nicht freie Hand. Geschworne sollten und mußten nun einmal sein. So haben
sie es denn mit der Erzielung eines halben Rcchtsverständnisses versucht. Halbes
Wissen schadet aber hier, wie überall, mehr, als es nützt. Überließe man die
Geschwornen ihrem dunkeln Rechtsgefühle, faßte mau demgemäß auch die Fragen
mir ganz allgemein und populär, nicht mit den juristischen Ausdrücken des
Gesetzes, so würden sich vermutlich die Fälle eklatant ungerechter Freisprechungen
um etwas vermindern. Wer Gelegenheit gehabt hat, von Geschwornen die Gründe
solcher Entscheidungen zu hören, wird wissen, daß nicht selten eine ganz verkehrte
Diftelei an einzelnen Worten der Gesetzesformel, unterstützt durch mißverstandene
Redewendungen des Vorsitzenden, die Ursache von Fehlsprechungcn ist, die gegen
das eigne Gefühl der Geschworenen gehen, die sie aber für juristisch geboten halten.
Nichts ist nämlich irriger als die weitverbreitete Meinung, daß der Laie das
Gesetz freier nach dem Sinne, der Jurist ängstlicher nach dem Wortlaute inter-
Pretire. Aus naheliegenden Gründen verhält es sich gerade umgekehrt: gründ-


Grcuzlioten III, IL38, 3
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[0025] Vas Schwurgericht. sich nach bestandenen Maturitätsexamen dem Justizdienste widmen will, ver¬ langt das Reichsrecht eine mindestens sechsjährige theoretische und praktische Beschäftigung mit der Jurisprudenz und das Bestehen zweier Examina, bevor es ihm auch nur in der unbedeutendsten Rechtssache eine entscheidende Stimme anvertraut; ein Geschworner, dessen Vorbildung oft nicht weit über die Wissen¬ schaften der Elementarschule hinausreicht, erlangt die Befähigung zur Ent¬ scheidung über Leben und Tod durch das Anhören eines Vortrages von fünf bis zehn Minuten. Wer von dem Wesen irgend einer Wissenschaft und speziell von dem der Rechtswissenschaft auch nur eine Ahnung hat. wird gegen diese srappirendc Nebeneinanderstellung nicht einwenden, daß der Geschworne ja nur das für den einzelnen Fall in Frage kommende zu wissen brauche. Für jeden einzelnen Fall kommen zunächst die allgemeinen rechtlichen Grundbegriffe, wie die der Zurechnungsfähigkeit, des Vorsatzes :e. in Frage, deren wirkliche, zur sichern Anwendung befähigende Kenntnis man nicht in zehn Minuten, auch nicht in zehn Tagen erwirbt. Und selbst was das Spezielle betrifft, so soll der Vorsitzende noch gefunden werden, der imstande wäre, Begriffe wie bei¬ spielsweise die des rechtswidrigen Vermögensvortcils, der Urkunde, der Gewerbs- mäßigkcit und ähnliche durch seine „Rechtsbelehrung" einem völlig unkundigen Geschwornen wirklich klar zu machen. Von den so ost auch in Kriminalsachen in Betracht kommenden verwickelten zivilrechtlichen Verhältnissen, den Fragen der Interpretation eines Vertrages und dergleichen wollen wir garnicht reden. Es hängt eben in der Jurisprudenz wie in der Wissenschaft immer eins mit dem andern zusammen, und es ist eine sehr laienhafte Vorstellung, wenn man wähnt, ein paar herausgegriffene Ncchtssütze ohne weiteres einem Menschen, dem es an den elementarsten Vorbegriffen der Rechtswissenschaft gebricht, zum vollen Verständnisse bringen zu können. Die in allein Maße sachkundigen Ver¬ sasser des Gesetzes haben diesen Wahn ohne Zweifel nicht geteilt. Aber sie hatten nicht freie Hand. Geschworne sollten und mußten nun einmal sein. So haben sie es denn mit der Erzielung eines halben Rcchtsverständnisses versucht. Halbes Wissen schadet aber hier, wie überall, mehr, als es nützt. Überließe man die Geschwornen ihrem dunkeln Rechtsgefühle, faßte mau demgemäß auch die Fragen mir ganz allgemein und populär, nicht mit den juristischen Ausdrücken des Gesetzes, so würden sich vermutlich die Fälle eklatant ungerechter Freisprechungen um etwas vermindern. Wer Gelegenheit gehabt hat, von Geschwornen die Gründe solcher Entscheidungen zu hören, wird wissen, daß nicht selten eine ganz verkehrte Diftelei an einzelnen Worten der Gesetzesformel, unterstützt durch mißverstandene Redewendungen des Vorsitzenden, die Ursache von Fehlsprechungcn ist, die gegen das eigne Gefühl der Geschworenen gehen, die sie aber für juristisch geboten halten. Nichts ist nämlich irriger als die weitverbreitete Meinung, daß der Laie das Gesetz freier nach dem Sinne, der Jurist ängstlicher nach dem Wortlaute inter- Pretire. Aus naheliegenden Gründen verhält es sich gerade umgekehrt: gründ- Grcuzlioten III, IL38, 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/25>, abgerufen am 08.09.2024.