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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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gegenüber. Man weiß nicht, wie man die gerissenen Lücken füllen, was man
an die Stelle des fortgekarrten Schuttes setzen soll. Über Michelangelos Leben
hat uns die Publikation seiner Briefe ein einigermaßen ausreichendes Licht ge¬
breitet. Aber Raffaels Lebensgang liegt so sehr im Dunkeln, daß die Raffael-
forscher zur Zeit mehr negative als positive Resultate ihrer Arbeit vor Augen
haben. Wir lassen dabei die Haarspaltereien, die kleinlichen Gelehrtenzänkereien
und die überflüssige" Difteleien, welche Herman Grimm und die Schwierig¬
keitsmacher seiner Schule in die Welt schicken, ganz außer Acht und denken
nur an die ernsthaften Diskussionen und Untersuchungen, welche von ge¬
diegenen Gelehrten wie Springer, Milanesi, Eugen Müntz, Thausing, Lippmann,
Lermolieff-Mvrelli, Woermcmn ausgegangen sind. Auch wenn man nur zugeben
wollte, daß jede ihrer Studien, Abhandlungen und Monographien ein echtes
Goldkörnchen zu Tage gefördert, so befindet man sich schon auf einem völlig
untergrabenen Boden. Wie wenige giebt es, welche sich wie die Wegkundigen
der friesischen und emsländischen Moore an Strohwischen und andern Wahr¬
zeichen auf diesem Boden zurechtfinden!

Ja wenn wir die sorglose Naivität der italienischen Landsleute Raffaels hätten!
Da wird unter dem 28. März aus Rom zu uns herübertelegraphirt, daß sich
"die Vertreter der Mnnizipalitciten von Rom und Urbino, sowie die Abgeord¬
neten der dortigen, der italienischen und der auswärtigen Kunstinstitnte in feier¬
lichen? Zuge nach dem Pantheon" begeben haben, wo die Enthüllung der auf
dem Grabe Raffaels aufgestellten Büste vorgenommen wurde. Ob wohl einer
der Festteilnehmer bei dieser Gelegenheit einen Blick auf die Grabschrift geworfen
hat? Ob sich wohl einer gesagt haben mag: Wir feiern heute den 28. März
als den Geburtstag des göttlichen Meisters, und auf diesem Grabsteine ist doch
ganz deutlich zu lesen, daß Raffael am 6. April 1483 das Licht der Welt er¬
blickte! Wer erklärt mir diesen Zwiespalt? Sollte niemand auf diesen Ge¬
danken gekommen sein, so wollen wir daraus keinen Vorwand schmieden. Giebt
es doch auch in Deutschland einen gelehrten Professor, welcher sich im Besitze
des ganzen Rüstzeugs der historischen Kritik befindet und doch, allen Grund¬
sätzen der historischen Kritik zuwider, dem kritiklosen Kompilator Vasari den
Vorzug giebt vor dem klaren Wortlaute einer klassischen Inschrift. Oder sollte
Professor Springer inzwischen seinen Irrtum, einen 1g.xsus og.1g.mi im Ver¬
gleich zu seinen positiven Leistungen auf dem Gebiete der Rafsaelforschung, er¬
kannt und in der zweiten, uuter der Presse befindlichen Auflage seiner Doppel¬
biographie "Raffael und Michelangelo" korrigirt haben? Mehrere Aufsätze haben
uns wenigstens gelehrt, daß er seinen Gegenstand seit 1878 nicht ans den Augen
verloren, sondern daß er sich fortwährend auf der Höhe der Forschung er¬
halten hat.

Sollen wir angesichts der großen Unklarheit, welche über Raffaels Ge¬
burtstag herrscht, darüber spötteln, daß die Römer am Abend des 28. März


Gronzbotcn II. 1383. I"

gegenüber. Man weiß nicht, wie man die gerissenen Lücken füllen, was man
an die Stelle des fortgekarrten Schuttes setzen soll. Über Michelangelos Leben
hat uns die Publikation seiner Briefe ein einigermaßen ausreichendes Licht ge¬
breitet. Aber Raffaels Lebensgang liegt so sehr im Dunkeln, daß die Raffael-
forscher zur Zeit mehr negative als positive Resultate ihrer Arbeit vor Augen
haben. Wir lassen dabei die Haarspaltereien, die kleinlichen Gelehrtenzänkereien
und die überflüssige» Difteleien, welche Herman Grimm und die Schwierig¬
keitsmacher seiner Schule in die Welt schicken, ganz außer Acht und denken
nur an die ernsthaften Diskussionen und Untersuchungen, welche von ge¬
diegenen Gelehrten wie Springer, Milanesi, Eugen Müntz, Thausing, Lippmann,
Lermolieff-Mvrelli, Woermcmn ausgegangen sind. Auch wenn man nur zugeben
wollte, daß jede ihrer Studien, Abhandlungen und Monographien ein echtes
Goldkörnchen zu Tage gefördert, so befindet man sich schon auf einem völlig
untergrabenen Boden. Wie wenige giebt es, welche sich wie die Wegkundigen
der friesischen und emsländischen Moore an Strohwischen und andern Wahr¬
zeichen auf diesem Boden zurechtfinden!

Ja wenn wir die sorglose Naivität der italienischen Landsleute Raffaels hätten!
Da wird unter dem 28. März aus Rom zu uns herübertelegraphirt, daß sich
„die Vertreter der Mnnizipalitciten von Rom und Urbino, sowie die Abgeord¬
neten der dortigen, der italienischen und der auswärtigen Kunstinstitnte in feier¬
lichen? Zuge nach dem Pantheon" begeben haben, wo die Enthüllung der auf
dem Grabe Raffaels aufgestellten Büste vorgenommen wurde. Ob wohl einer
der Festteilnehmer bei dieser Gelegenheit einen Blick auf die Grabschrift geworfen
hat? Ob sich wohl einer gesagt haben mag: Wir feiern heute den 28. März
als den Geburtstag des göttlichen Meisters, und auf diesem Grabsteine ist doch
ganz deutlich zu lesen, daß Raffael am 6. April 1483 das Licht der Welt er¬
blickte! Wer erklärt mir diesen Zwiespalt? Sollte niemand auf diesen Ge¬
danken gekommen sein, so wollen wir daraus keinen Vorwand schmieden. Giebt
es doch auch in Deutschland einen gelehrten Professor, welcher sich im Besitze
des ganzen Rüstzeugs der historischen Kritik befindet und doch, allen Grund¬
sätzen der historischen Kritik zuwider, dem kritiklosen Kompilator Vasari den
Vorzug giebt vor dem klaren Wortlaute einer klassischen Inschrift. Oder sollte
Professor Springer inzwischen seinen Irrtum, einen 1g.xsus og.1g.mi im Ver¬
gleich zu seinen positiven Leistungen auf dem Gebiete der Rafsaelforschung, er¬
kannt und in der zweiten, uuter der Presse befindlichen Auflage seiner Doppel¬
biographie „Raffael und Michelangelo" korrigirt haben? Mehrere Aufsätze haben
uns wenigstens gelehrt, daß er seinen Gegenstand seit 1878 nicht ans den Augen
verloren, sondern daß er sich fortwährend auf der Höhe der Forschung er¬
halten hat.

Sollen wir angesichts der großen Unklarheit, welche über Raffaels Ge¬
burtstag herrscht, darüber spötteln, daß die Römer am Abend des 28. März


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/81>, abgerufen am 01.07.2024.