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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die französische Rolonialpolitik und England.

Reiche anzuzapfen und in ihre Kanäle zu leiten. Glücklicherweise für England
ist diese neue Sphäre ihres Ehrgeizes von den britischen Besitzungen durch das
noch unabhängige Birma getrennt. Dieses ist ungefähr dasselbe wie Afghanistan
zwischen Britisch-Jndien und Rußland, eine Art Puffer, der vor unmittelbaren
Zusammenstößen schützt. Flete Arran und ganz Kochinchina ebenso wie Tonkin
in die Hände der Franzosen, so würde Siam als selbständiger Staat in der Mitte
zwischen England auf der westlichen und Frankreich auf der östlichen Seite der
großen Halbinsel übrig bleiben. England hat also ein ebenso starkes Interesse
daran, daß Birma und Siam ihre Unabhängigkeit bewahren, als daran, daß
Afghanistan vor der Eroberung durch die Russen bewahrt bleibe. Diese Staaten
sind weit bequemere Nachbarn als das unruhige und immer weiter um sich
greifende Frankreich.

Tonkin allein wird den Engländern, wenn es die Franzosen erobern, keine
besondern Kopfschmerzen verursachen. Man muß es in London nur natürlich
finden, daß die Niederlage und die grausame Hinrichtung Rivieres gerächt und
die Ehre der französischen Fahne in den Augen asiatischer Barbaren wieder¬
hergestellt wird. Auch über das Vorrücken europäischer Zivilisation im Südosten
Asiens kann man dort Freude empfinden, weil es mit Handelsvorteilen für
England verbunden sein wird. Die Aufgabe der Franzosen wird aber keine
leichte sein, nicht weil die Tonkinesen mächtigen Widerstand leisten werden,
sondern weil China indirekt die Sache erschweren kann. Die Regierung zu
Peking ist, wie wir gesehen haben, zu vorsichtig, um wegen eines Tributär-
staates ohne weiteres den Krieg zu erklären, aber China besitzt Mittel, um seine
weitreichende Macht fühlbar zu machen, und es würde den Franzosen, wenn
sie Tonkin eroberten, ein höchst unangenehmer und bedenklicher Nachbar sein.
Ein Krieg mit ihm würde infolgedessen nur eine Frage der Zeit sein. Er kann
aber auch jetzt schon ausbrechen, und dann würde Frankreich gewahr werden,
daß das China von 1883 nicht mehr das China von 1860 ist, daß es Kruppsche
Kanonen und Hinterlader besitzt, daß seine Soldaten besser geübt sind als
damals, wo sie die Schlacht bei Palikao verloren, daß es auch eine nicht ver¬
ächtliche Kriegsflotte hat, und daß es nicht mehr von dem großen Taipingauf-
standc bedrängt wird, der einst drei Viertel seiner Kräfte absorbirte.

Ein solcher Krieg aber würde Englands Interesse sehr schwer treffen.
Der Wert des Handels in den fünf dem Verkehr mit dem Auslande geöffneten
chinesischen Häfen Kanton, Tientsin, Shanghai, Hankow und Futschau beläuft
sich auf 940 Millionen Mark jährlich. Daran partizipirt England mit 680,
Frankreich nur mit 100 Millionen. Die Schifffahrt mit Einrechnung derjenigen
an den Küsten bewegt einen Gehalt von 16640278 Tonnen, wovon auf den
britischen Antheil 10332248, auf den französischen nur 133 734 fallen. Von
den 4792 europäischen Kaufleuten und Handelsagenten endlich, die in den
chinesischen Hafenplätzen leben, sind 2292 englischen Ursprungs und nur 274


Die französische Rolonialpolitik und England.

Reiche anzuzapfen und in ihre Kanäle zu leiten. Glücklicherweise für England
ist diese neue Sphäre ihres Ehrgeizes von den britischen Besitzungen durch das
noch unabhängige Birma getrennt. Dieses ist ungefähr dasselbe wie Afghanistan
zwischen Britisch-Jndien und Rußland, eine Art Puffer, der vor unmittelbaren
Zusammenstößen schützt. Flete Arran und ganz Kochinchina ebenso wie Tonkin
in die Hände der Franzosen, so würde Siam als selbständiger Staat in der Mitte
zwischen England auf der westlichen und Frankreich auf der östlichen Seite der
großen Halbinsel übrig bleiben. England hat also ein ebenso starkes Interesse
daran, daß Birma und Siam ihre Unabhängigkeit bewahren, als daran, daß
Afghanistan vor der Eroberung durch die Russen bewahrt bleibe. Diese Staaten
sind weit bequemere Nachbarn als das unruhige und immer weiter um sich
greifende Frankreich.

Tonkin allein wird den Engländern, wenn es die Franzosen erobern, keine
besondern Kopfschmerzen verursachen. Man muß es in London nur natürlich
finden, daß die Niederlage und die grausame Hinrichtung Rivieres gerächt und
die Ehre der französischen Fahne in den Augen asiatischer Barbaren wieder¬
hergestellt wird. Auch über das Vorrücken europäischer Zivilisation im Südosten
Asiens kann man dort Freude empfinden, weil es mit Handelsvorteilen für
England verbunden sein wird. Die Aufgabe der Franzosen wird aber keine
leichte sein, nicht weil die Tonkinesen mächtigen Widerstand leisten werden,
sondern weil China indirekt die Sache erschweren kann. Die Regierung zu
Peking ist, wie wir gesehen haben, zu vorsichtig, um wegen eines Tributär-
staates ohne weiteres den Krieg zu erklären, aber China besitzt Mittel, um seine
weitreichende Macht fühlbar zu machen, und es würde den Franzosen, wenn
sie Tonkin eroberten, ein höchst unangenehmer und bedenklicher Nachbar sein.
Ein Krieg mit ihm würde infolgedessen nur eine Frage der Zeit sein. Er kann
aber auch jetzt schon ausbrechen, und dann würde Frankreich gewahr werden,
daß das China von 1883 nicht mehr das China von 1860 ist, daß es Kruppsche
Kanonen und Hinterlader besitzt, daß seine Soldaten besser geübt sind als
damals, wo sie die Schlacht bei Palikao verloren, daß es auch eine nicht ver¬
ächtliche Kriegsflotte hat, und daß es nicht mehr von dem großen Taipingauf-
standc bedrängt wird, der einst drei Viertel seiner Kräfte absorbirte.

Ein solcher Krieg aber würde Englands Interesse sehr schwer treffen.
Der Wert des Handels in den fünf dem Verkehr mit dem Auslande geöffneten
chinesischen Häfen Kanton, Tientsin, Shanghai, Hankow und Futschau beläuft
sich auf 940 Millionen Mark jährlich. Daran partizipirt England mit 680,
Frankreich nur mit 100 Millionen. Die Schifffahrt mit Einrechnung derjenigen
an den Küsten bewegt einen Gehalt von 16640278 Tonnen, wovon auf den
britischen Antheil 10332248, auf den französischen nur 133 734 fallen. Von
den 4792 europäischen Kaufleuten und Handelsagenten endlich, die in den
chinesischen Hafenplätzen leben, sind 2292 englischen Ursprungs und nur 274


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[0676] Die französische Rolonialpolitik und England. Reiche anzuzapfen und in ihre Kanäle zu leiten. Glücklicherweise für England ist diese neue Sphäre ihres Ehrgeizes von den britischen Besitzungen durch das noch unabhängige Birma getrennt. Dieses ist ungefähr dasselbe wie Afghanistan zwischen Britisch-Jndien und Rußland, eine Art Puffer, der vor unmittelbaren Zusammenstößen schützt. Flete Arran und ganz Kochinchina ebenso wie Tonkin in die Hände der Franzosen, so würde Siam als selbständiger Staat in der Mitte zwischen England auf der westlichen und Frankreich auf der östlichen Seite der großen Halbinsel übrig bleiben. England hat also ein ebenso starkes Interesse daran, daß Birma und Siam ihre Unabhängigkeit bewahren, als daran, daß Afghanistan vor der Eroberung durch die Russen bewahrt bleibe. Diese Staaten sind weit bequemere Nachbarn als das unruhige und immer weiter um sich greifende Frankreich. Tonkin allein wird den Engländern, wenn es die Franzosen erobern, keine besondern Kopfschmerzen verursachen. Man muß es in London nur natürlich finden, daß die Niederlage und die grausame Hinrichtung Rivieres gerächt und die Ehre der französischen Fahne in den Augen asiatischer Barbaren wieder¬ hergestellt wird. Auch über das Vorrücken europäischer Zivilisation im Südosten Asiens kann man dort Freude empfinden, weil es mit Handelsvorteilen für England verbunden sein wird. Die Aufgabe der Franzosen wird aber keine leichte sein, nicht weil die Tonkinesen mächtigen Widerstand leisten werden, sondern weil China indirekt die Sache erschweren kann. Die Regierung zu Peking ist, wie wir gesehen haben, zu vorsichtig, um wegen eines Tributär- staates ohne weiteres den Krieg zu erklären, aber China besitzt Mittel, um seine weitreichende Macht fühlbar zu machen, und es würde den Franzosen, wenn sie Tonkin eroberten, ein höchst unangenehmer und bedenklicher Nachbar sein. Ein Krieg mit ihm würde infolgedessen nur eine Frage der Zeit sein. Er kann aber auch jetzt schon ausbrechen, und dann würde Frankreich gewahr werden, daß das China von 1883 nicht mehr das China von 1860 ist, daß es Kruppsche Kanonen und Hinterlader besitzt, daß seine Soldaten besser geübt sind als damals, wo sie die Schlacht bei Palikao verloren, daß es auch eine nicht ver¬ ächtliche Kriegsflotte hat, und daß es nicht mehr von dem großen Taipingauf- standc bedrängt wird, der einst drei Viertel seiner Kräfte absorbirte. Ein solcher Krieg aber würde Englands Interesse sehr schwer treffen. Der Wert des Handels in den fünf dem Verkehr mit dem Auslande geöffneten chinesischen Häfen Kanton, Tientsin, Shanghai, Hankow und Futschau beläuft sich auf 940 Millionen Mark jährlich. Daran partizipirt England mit 680, Frankreich nur mit 100 Millionen. Die Schifffahrt mit Einrechnung derjenigen an den Küsten bewegt einen Gehalt von 16640278 Tonnen, wovon auf den britischen Antheil 10332248, auf den französischen nur 133 734 fallen. Von den 4792 europäischen Kaufleuten und Handelsagenten endlich, die in den chinesischen Hafenplätzen leben, sind 2292 englischen Ursprungs und nur 274

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/676>, abgerufen am 03.07.2024.